Michael Lehner, Eine Jugend im Opus Dei. Wichern-Verlag, 2002, 175 Seiten.
Der Autor, als Sohn gut katholischer Eltern 1977 in München geboren, trat mit 16 1/2 Jahren als Numerarier in das Opus Dei ein und verließ es mit 24. Das Buch, 18 Monate nach seinem Austritt im März 2002 vollendet, gibt die Gewähr, daß die Beschreibung zeitgemäß ist und nicht lange zurückliegende und vielleicht schon überwundene Praktiken des Opus Dei kritisiert. Auch ist es in keiner Weise polemisch verfaßt und läßt auch die positiven Seiten des Opus Dei sehen. Aber die persönlich als negativ empfundenen Seiten gaben dann schließlich für den Autor doch den Ausschlag, dies nicht für seinen Lebensweg zu halten.
Was als erstes ins Auge fällt, sind die vielen Widersprüche
zwischen offizieller Lesart und praktischer Verwirklichung:
- Die Betonung der "Freiheit" - und dann doch die vollständige
Unterwerfung durch "Hingabe" (S. 8, 37).
- Die Behauptung, nur für die "spirituellen" Belange Autorität
zu fordern, die sich aber dann auf jedes Detail des täglichen Lebens bezieht.
- Die Betonung der "Laikalität" - und dann doch ein Leben, das
sich von dem eines normalen Laien wesentlich unterscheidet, etwa nach dem Grundsatz:
"Was ein Laie ist, bestimme ich" (S. 75).
- Die Behauptung, nur Erwachsene als Mitglieder zu akzeptieren - und dann "Klubangebote"
mit zehn und "Aspiranten" mit vierzehneinhalb Jahren! (S. 38, 132).
- Die Behauptung, für alle Menschen da zu sein - und dann doch die Konzentration
auf die akademische "Elite" (S. 26).
- Das ständige Gejammer über Geldmangel - und die luxuriöse Ausstattung
der Häuser (S. 127).
- Die Sprachverfälschung, etwas als "Bitte" zu bezeichnen, was
eindeutig ein Befehl ist (S. 96).
- Die Freiheit zum Austritt zu betonen (S. 37), aber in der Praxis dem Austritt
die größten Schwierigkeiten - einschließlich persönlicher
Verleumdung (S. 38) und Verachtung (S. 144) - in den Weg zu legen. Es wird dabei
auf den Ausspruch des Gründers verwiesen: "Ich kenne keinen, der das
Werk verlassen hat und anschließend wieder glücklich geworden ist."
(S. 61) Man solle doch die Berufung nicht einfach wegwerfen, der Weg zum Heil
sei durch einen solchen Schritt "stark gefährdet"! (S. 141).
Nach der Trennung fällt man in ein tiefes Loch, mit einem Schlag brechen
persönliche Kontakte ab (S. 100).
Kritisch zu beurteilen ist auch, daß die Zeit nach dem Eintritt zunächst
relativ angenehm gestaltet und erst später die Schraube der Verpflichtungen
langsam angezogen wird: "Ende der Schonzeit" (S. 8, 40).
Obwohl gegenüber den "pubertären Erscheinungen" der Anfangszeit
des Opus Dei sicher einiges abgestreift wurde, wie z.B. das Verbot für
Numerarierinnen, Hosen zu tragen (S. 76) oder das Herausholen aus einer Vorlesung
wegen nicht gereinigtem Abfluß (s. 99), gelten für Numerarier nach
wie vor:
- Die Nichteinbeziehung der Eltern in die Entscheidung für den Beitritt
(S. 39).
- Das Verbot, Kino-, Theater- und Konzertveranstaltungen zu besuchen; Fernsehen
ist nur in Rücksprache mit dem Leiter erlaubt, Vollbäder in der Badewanne
sind verboten, weil sie angeblich "verweichlichen" (S. 75, 76).
- Auswärts essen gehen ist verboten, es sei denn aus beruflichen Gründen
(S. 76).
- Verboten ist auch das individuelle Ausgestalten des eigenen Zimmers (S. 56).
- Mittagsschlaf ist verboten (S. 77).
- Jedes außerberufliche Engagement außerhalb des Opus Dei ist unerwünscht
(S. 120).
- Es gibt weiterhin den Index verbotener Bücher (S. 47).
- Badestrände sind wegen der dort vorhandenen "nackten Haut"
zu meiden (S. 111).
- Die verklemmte Haltung gegenüber der Sexualität zeigt sich z.B.
auch darin, daß es verboten ist, ein Liegewagenabteil zu benützen,
wenn darin auch eine Person des anderen Geschlechts schläft (S. 76). Filme
mit Gewaltdarstellungen seien weniger schädlich als solche mit Sexdarstellungen
(S. 91).
Bußgürtel und Bußgeißel sind, entgegen vielfältiger
Behauptung, weiterhin in Verwendung, ebenso das einmal wöchentliche Schlafen
auf dem Fußboden (S. 43). Daß Numerarierinnen wegen ihrer angeblich
größeren Sinnlichkeit überhaupt auf einem Brett schlafen müssen,
konnte der Autor angesichts der strikten Geschlechtertrennung nicht verifizieren.
Auf diesbezügliche Fragen erntete er nur Lächeln und Schweigen (S.
91).
Eine gelegentliche Vernachlässigung einer dieser Regeln aus Unachtsamkeit
ist denkbar, zieht jedoch die "brüderliche Zurechtweisung" nach
sich. Eine grundsätzliche Ablehnung der Regeln ist einfach undenkbar.
Der pflichtgemäßen Vernachlässigung der eigenen Familie (S.
119) steht nach wie vor der Personenkult um den Gründer ("Vater")
gegenüber, dessen leibliche Verwandte ebenfalls gebührend zu verehren
und als "Großeltern" und "Tante" anzusprechen sind
(S. 79), sowie um dessen Nachfolger . Es drängt sich hier eine Assoziation
mit der "Wahren Familie" des Sun Myung Mun oder der "Familie"
des David Berg auf. Knicks und Ringkuß waren für den Gründer
und seine Nachfolger obligatorisch, das regelmäßige Ansehen von Videos
mit diesen ebenfalls (S. 83).
Nach wie vor ist auch die Freundschaft im Opus Dei kein Wert an sich, sondern
eine Zweckfreundschaft, die in erster Linie dazu dienen soll, jemanden für
das Opus Dei zu werben oder daran zu binden (S. 23).
Das Opus Dei verbietet nach wie vor die Befassung mit modernen Philosophen und
empfiehlt dafür in erster Linie Thomas von Aquin, über den der Autor
schreibt: "So sehr ich anfangs ... den philosophischen Vorlesungen lauschte
und mir in den Sommermonaten die thomasischen Begrifflichkeiten von Akt und
Potenz, von den Kategorien und Wesenheiten und schließlich auch noch die
geheimnisvolle und schwierige Metaphysik vom 'actus essendi' einverleibte, so
sehr wurde mir auch nach einigen Sommern klar, daß diese Theologie zwar
ein schönes und in sich geschlossenes Modell darstellte, jedoch irgendwann
auch stehen geblieben war und seine schöne Eindeutigkeit zu einem nicht
unerheblichen Teil daraus bezog, daß es ein Vierteljahrtausend darauf
folgender Philosophieentwicklung ignorierte." (S. 110).
Bezüglich Projekte, Geld und Mittel schreibt der Autor: "Auch die
allzu offenen Finanzstrategien und Bettelaktionen - teilweise mit Begründungen
und Vorgehensweisen, die sich durchaus im moralischen Graubereich befanden -
wirkten angesichts der Genauigkeit in den sonst engen Vorschriften sowie des
Pensums von Gebet, Opfer und Arbeit gelegentlich befremdend." (S. 127,
133) Bei Klerikern kursiere längst die folgende ironische Abwandlung des
"Agnus Dei": "Opus Dei, qui tollis pecuniam mundi, dona nobis
partem" ("Opus Dei, welches du das Geld der Welt nimmst, gib uns doch
einen Teil davon ab!", S. 129).
Abschließend stellt der Autor fest, seine Jugend habe "nicht stattgefunden".
Er bereue es dennoch nicht, diese sieben Jahre im Opus Dei verbracht zu haben,
denn er habe dabei viel gelernt: "Die Bewegung in abstrakten Gedankenkategorien
führte mich schließlich zu der gerade für Geisteswissenschaftler
zentralen Erkenntnis, daß 'Wahrheit' in den wenigsten Fällen absolut
ist, sondern zumeist auf relativen Argumenten und Parametern beruht - ein Ergebnis
freilich, das kaum in der Intention des Werkes gelegen haben dürfte. Das
Erlebnis, sich in einem geschlossenen und in sich kontingenten Denksystem zu
bewegen, verlieh eine große Sicherheit in allen Bereichen des Lebens;
die Erkenntnis schließlich, daß ein geschlossenes System noch nicht
der Wahrheit entsprechen muß, zwang zu kritischer Auseinandersetzung:"
(S. 150). Er habe zwar festgestellt, daß sich der vom Opus Dei gebotene
Lebensentwurf für seine Person nicht eigne. Das sei aber nicht tragisch,
denn für ihn als 25-Jährigen liege aller Wahrscheinlichkeit nach der
Großteil seines Lebens noch vor ihm.
Und optimistisch: "Keineswegs ist das Opus Dei eine Mafia, ein Konzern
oder gar eine Sekte, vielmehr eine Organisation der Kirche, die nur für
wenige geeignet ist und die eng und straff geführt ist und - wohl aufgrund
der noch jungen Gründung - in mancher Hinsicht ihren definitiven Weg noch
nicht ganz gefunden hat, aber sich darum zumindest bemüht. Die weitere
Entwicklung des Opus Dei bleibt spannend." (S. 151).
Damit widerspricht er allerdings Stimmen aus dem Opus Dei, die dieses für
ein Werk Gottes halten, das niemals verändert werden dürfe. Und "keine
Sekte"? - Es kommt wohl darauf an, was man darunter versteht. Gestützt
auf fast 20 Jahre Erfahrung fand der Rezensent im Buch eine ganze Reihe sektiererischer
Eigenschaften beschrieben.
Möglicherweise "ein Weg" für manche - aber "Mainstream"?
Friedrich Griess