Anna Calzada:Die Gründung des Opus Dei

 

2.10.2009

 

 

Anna María Calzada Jiménez
Ehemalige Numerarierin

Einmal mehr nähert sich die Erinnerung an den 2. Oktober 1928, das (angebliche) Datum der Gründung des Opus Dei. Im vergangenen Jahr hat uns Trinity das Foto der Kapelle Unserer Lieben Frau zu den Engeln in Madrid zur Verfügung gestellt, und das Bild bringt mich dazu, darüber nachzudenken, was Escriba an jenem Dienstag, dem 2. Oktober 1928 tatsächlich hörte und sah.

 

 

 

Auf dem Gemälde, das die Kapelle dominiert, erscheint Escriba kniend vor einem kleinen geöffneten Fenster, das den deutlichen Ausblick auf die Kirche Unserer Lieben Frau von den Engeln freigibt. Die Szene folgt wortgetreu der Erzählung des Vorgangs, wie sie Vázquez de Prada, der offizielle Biograph, schildert:

 

Zu den Exerzitien waren sechs Priester gekommen. Sie standen morgens um fünf Uhr auf und gingen abends um neun zu Bett. Sie hörten Vorträge, hielten Gewissenserforschungen, feierten die Heilige Messe und beteten  gemeinsam das Brevier... Am Vormittag des 2. Oktober, einem Dienstag, Fest der Schutzengel, befand sich Josemaría, nachdem er die Heilige Messe gefeiert hatte, in seinem Zimmer und las in seinen Aufzeichnungen. Plötzlich überkam ihn eine außerordentliche Gnade, und er verstand, dass der Herr im Begriff war, sein ausdauerndes Bitten „Domine, ut videam!“ und „Domine, ut sit!” („Herr, lass mich sehen! Herr, lass es geschehen!“) zu erhören. [...] 

“Als ich in diesen Papieren las, erhielt ich die Erleuchtung über das Werk als Ganzes. Ich fiel tief ergriffen auf die Knie – es war in der Pause zwischen zwei Vorträgen, ich befand mich allein in meinem Zimmer-, dankte dem Herrn und ich erinnere mich bewegt an das Glockengeläut der Pfarrei Unserer Lieben Frau von den Engeln.“ (Vázquez de Prada, Der Gründer des  Opus Dei, Bd. 1, S. 280 f.).

In einem Beitrag von 2005 bezog sich Nacho auf die Unmöglichkeit, dass Escriba die Glocken jener Kirche gehört haben könnte, denn sie ist weit weg von dem Paulanerkloster, dem Ort, an dem er Einkehrstunden besuchte, war. Ich gebe eine Reproduktion bei, um euch das Suchen zu ersparen:

 

Wie ihr sehen könnt, ist der Glo­cken­­turm dieser Kirche weder besonders hoch noch groß, und Nacho bestätigt das, wenn er schreibt: „Eine der Glocken, die die Kirche Unserer Lieben Frau von den Engeln am 2. Oktober 1928 hatte, befindet sich derzeit auf der Esplanade des Wallfahrtsorts von Torreciudad. Daneben hängt eine Tafel, die daran erinnert, dass sie der Gründer an dem gewissen Datum, dem Festtag der heiligen Schutzengel, schlagen hörte. Sie ist außerdem ziemlich klein, und das macht es noch schwieriger, die offizielle Version der Prälatur zu glauben. Diese Glocke hätte sich schon sehr anstrengen müssen, wenn sie der Gründer im bewussten Augenblick hätte hören sollen. Selbstverständlich können mir die Leute vom Opus Dei natürlich auch versichern, dass es auch noch andere Glocken in der Kirche Unsere Liebe Frau von den Engeln bei Cuatro Caminos gegeben habe. Aber auch wenn es sehr große Glocken waren, bleibt es schwer, die offizielle Version zu glauben. Auf jeden Fall, Nacho, haben sie in der Zwischenzeit schon noch mehr Glocken nach Torreciudad gebracht: “Bei dieser Zeremonie heute Nacht wurden die drei neuen Glocken der Pfarre geweiht” (European Press Agency, 30. September 2008).

Als Escriba alles das seinen  Söhnen erzählte, gab es weder Internet noch Satellitenbilder, aber, wie sie gerne sagen, “es ist barbarisch, wie die Zeiten sich beschleunigen”, und heute können wir uns der Geschichte, so wie sie uns erzählt wird auf eine etwas andere Art und Wiese annähern. Beginnen wir bei der Entfernung: Tatsächlich liegen zwischen den beiden Gebäuden zwei Kilometer; zu Fuß brauchen wir 25 Minuten, um von dem einen zu dem andern zu gelangen.

 

 

Das ist eine ziemlich weite Entfernung, um feststellen zu können, dass der Klang einiger Glocken von einer ganz bestimmten Kirche kommt, auch wenn es nichts im Umkreis gäbe, keine Gebäude und dazu eine Grabesstille ‒ die es zu dem Zeitpunkt nicht gab.

Aber nehmen wir die bestmöglichen Umstände an: Escriba befand sich am Fenster eines Ge­bäudes, das seine Umgebung überragte, der Tag war wolkenlos und hell, das Fenster war offen, man konnte gut hören, und abgesehen davon, dass er Brillen trug, hatte er einen guten Ausblick. Beginnen wir beim dritten Punkt: dem offenen Fenster. Ist es wahrscheinlich, dass jemand Anfang Oktober in den frühen Morgenstunden in Madrid sein Fenster offen lässt, wenn die Nächte kalt sind, es keine Heizung gibt und du nicht ordentlich angezogen bist? Wenn er dabei Gymnastik treibt, ist das noch vorstellbar, nicht aber, wenn er am Fenster sitzt, meditiert und einige geschriebene Notizen durchgeht; dann prädestiniert er sich nämlich bestens für die erste Herbstgrippe. Das offene Fenster ist alles andere als selbstverständlich.

 

 

Es ist zwar ein heller Tag gewesen, allerdings nicht gegen zehn Uhr vormittags, der Zeit, in der nach Vázquez de Prada das Ereignis stattgefunden haben soll; und tatsächlich war es erst neun Uhr, denn es war noch Sommerzeit und die Uhr war eine Stunde vorgestellt, die Sonne stand noch tief und drang kaum durch den feuchten Nebel und den Rauch von Kohlen- und Holzfeuern, der aus den Kaminen stieg. Wo aber lag Escribas Zimmer? Nehmen wir uns nochmals die Erzählung von Vázquez de Prada vor:

Escrivá meldete sich mit anderen Priestern der Diözese Madrid im Zentralhaus der Paulaner an, das nicht sehr weit vom Stift entfernt lag. Es handelte sich um ein weiträumiges, vierstöckiges Ziegelsteingebäude, das einen Garten oder Innenhof umschloss. Die Zimmer waren einfach und bescheiden und lagen auf langen Fluren nebeneinander. Dem Gebäude schloss sich, mit Eingang von der Straße García de Paredes, die Kirche St. Vinzenz von Paul an, die, 1904 vollendet, heute der Muttergottes von der Wundertätigen Medaille geweiht ist. Hinter dem Gebäude lag „ein weitläufiger, üppiger Garten, reich an unterschiedlichem Grün. Er bestand aus mehreren von Pfad und Alleen gebildeten Karrees, wo zahlreiche schattige Bäume, auch einige Obstbäume, wuchsen.”

 (Vázquez de Prada, Bd. 1, Die frühen Jahre, S. 278).

So sieht das auf der Webseite der Paulaner aus:

 

 

 jardín del convento: Konventsgarten
iglesia padres paúles: Kirche der Paulanerpatres

 “Der Grundstein dieses Gebäudes wurde am Festtag des heiligen Joseph, am 19. März 1883, gelegt, der Schlussstein am 27. November desselben Jahres, dem Festtag der Wundertätigen Medaille. Die Bestimmung des Hauses entsprach dem Herkommen: Internes Seminar und Fakultät, Einkehrhaus, Leitung der “Töchter der Nächstenliebe” und der Volksmissionen. Später, am 29. März 1901, segnete der Bischof von Madrid den Grundstein der Kirche. Im Juni 1904 weihte der Nuntius die neue Kirche; am 28. Juli 1924 wurde sie von Pius XI. zur Basilika erhoben. In der Zeit von 1936-39 wurden Haus und Kirche geplündert und niedergebrannt. Als nach dem Krieg die Gemeinschaft kleiner geworden war, vermietete man das halbe Gebäude an die Marianisten, die dort ein Gymnasium einrichteten. Beim Abschluss des Pachtvertrags am 11. Februar 1943 richtete P. AdolfoTobar in diesem Bereich auch eine Klinik und die Krankenabteilung der Gemeinschaft ein. Das Krankenhaus “La Milagrosa” wurde vom Bischof von Madrid, Eijo y Garay, am 16. November 1944 eingeweiht. 1965 wurde die Basilika Pfarrkirche”.

Auf dem Luftbild sieht man auch die Anlage des Konvents, ein Quadrat mit Fenstern, die ausschließlich auf den Innenhof gehen; wenn Escriba in diesem Teil des Gebäudes untergebracht war, so ist es unmöglich, dass es den Glockenturm von “Unserer Lieben Frau von den Engeln” gehört haben kann. Die Gebäude waren niedrig, lediglich vierstöckig, viel niedriger als die Nachbargebäude, die in den folgenden Jahren gebaut wurden:

“Dank der spanischen Neutralität im Ersten Weltkrieg (1914-1918) verwandelte sich Madrid rasch in ein Zentrum politischer und wirtschaftlicher Interessen, die zu einer intensiven und fruchtbaren architektonischen und städtebaulichen Aktivität führten. Die Stadt begann damals, sich in eine der großen europäischen Metropolen zu verwandeln; Ende der zwanziger Jahre erreichte die Einwohnerzahl eine Million, die bebaute Fläche an die 1.700 ha, ungerechnet die 1.200 ha Verkehrsflächen und Gärten.” (http://www.madridhistorico.com).

So sah Madrid 1930 aus, Quelle ist dieselbe Webseite. Die Ansicht zeigt deutlich, dass „die vielen Zier- und Gemüsegärten in diesem Bezirk, der sich bis zum Platz Cuatro Caminos erstreckte”, bereits verbaut waren.

 

  

 

Fassen wir zusammen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass Escriba die Glocken der Kirche Unserer Lieben Frau von den Engeln gehört haben könnte; noch weit unwahrscheinlicher ist es, dass er das Geräusch der Glocken einem bestimmten Kirchturm zuordnen hätte sollen und dass es nicht vielleicht die der Paulanerkirche gewesen seien, deren Kirchturm unmittelbar angebaut war und die zum Beginn der Messe läuteten. Aber ist es denn überhaupt von Bedeutung, welche Glocken es gewesen sind? Ja; denn wenn es die Glocken der Paulanerkirche gewesen wären, so hätte es sich um die normalste Sache von der Welt gehandelt; aber Escriba wollte den (angeblichen) Augenblick seiner Gründung mit der Aura eines himmlischen Einwirkens umgeben: Die Mutter Gottes, Königin der Engel zeigte ihr Wohlwollen angesichts dieser göttlichen Offenbarung, indem sie die Glocken ihrer Kirche läuten ließ. Das ist die ziemlich einleuchtende Botschaft des Lieds von der Glocke. Außerdem stand Maria von der Wunderbaren Medaille bereits unter der Patronanz der Paulanerpatres, während Unsere Liebe Frau von den Engeln noch von keinem namhaften Orden für sich reklamiert worden war (heute würden sie das als „Trade Mark“ oder geistiges Eigentum bezeichnen), und so konnte sie Escriba für seine eigene Gründung reklamieren.

Was ist also überhaupt an jeden 2. Oktober passiert (falls überhaupt etwas passiert ist)? Ich werde mich an das herantasten, was wahrscheinlich ist: Escriba ging schon seit einiger Zeit die Idee durch den Kopf, dass er etwas tun musste, um aus der Patsche zu kommen. Er war ein ganz junges Pfäfflein, mittelllos und mit einer Familie belastet, für die er zu sorgen hatte, eben, wie man im kirchlichen Jargon zu sagen pflegte, “sin oficio ni beneficio”, ohne Amt und ohne Einkommen. Sein Stoßgebet „ut videam”, „Herr, lass mich sehen” ließe sich einfacher mit „Was soll ich bloß machen?“ übersetzen. Die Ignatianischen Exerzitien in ihrer einfacheren Variante (die “richtigen” dauern einen Monat) beginnen üblicherweise an einem Sonntag Abend; an diesem Wochentag triffst du ein, nimmst an einer ersten Versammlung teil, wo sie dir den Wert des Stillschweigens erklären, wie wichtig es ist, aufrichtig zu dir selber zu sein etc:, es gibt Abendessen, und du gehst schlafen. Die Betrachtungen des ersten Tages (wenn es fünftägige Exerzitien sind, können einige davon auch am zweiten Tag stattfinden) kreisen um die Frage, was Gott von dir erhofft, und um die „Letzten Dinge“: Tod, Gericht, Hölle und Himmel. Diese Betrachtungen hatten es in sich; der Priester richtete sich in der Wortwahl nach seinem Publikum, aber am Ende warst du ziemlich fertig und nur noch bereit dich zu verkriechen, denn man wurde mit Ausdrücken wie Treulosigkeit, Nichtigkeit, Feigheit, Lieblosigkeit bombardiert. An diesem Tag schläft man schlecht, außer man ist völlig abgehärtet. Escriba “sah” seine Vision ausgerechnet nach der ersten Betrachtung des zweiten Tages, ausgerechnet in einem sehr aufgewühlten Zustand, in dem man unter schwerem psychischen Druck steht und nach einem Ausweg sucht. Er sag, dass er „etwas Wichtiges“ gründen würde, das beruhigte zugleich sein Gewissen und sein Ego; andere “sahen” den Ruf, Trappist zu werden oder eine Nonne zu werden wie die, die ihre Schule leiteten (Geschmack und Ohrfeigen sind verschieden). Wenn man unter solchen Umständen eine Entscheidung von solcher Tragweite fällt, kann es leicht sein, dass man in einen Zustand der Euphorie gerät, sich befreit fühlt, Glocken läuten hört. Normalerweise – und Gott sei Dank! – hält so ein Zustand nicht lange an, und nach einigen Stunden oder Tagen kehrst du zur Normalität zurück, aber das geschieht eben nicht immer, denn manchmal, und je nach den persönlichen Umständen, kann es sein, dass das, was du “gesehen” hast, deinen innersten Vorstellungen  so innig entspricht, dass du darin den „Willen Gottes“ siehst.

Escriba ist offenbar diesen letzteren Weg gegangen und hat sich völlig in seine Gründeraktivitäten geworfen. Ich weiß nicht, was der Inhalt seiner (angeblichen) Offenbarung war, aber nach den abenteuerlichen Veränderungen zu beurteilen, denen die Gemeinschaft ausgesetzt war, die er gründete, neige ich dazu, sie für ebenso hermetisch zu halten  wie die Prophezeiungen des Nostradamus.

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