Klaus Steigleder:

 

Der schwere Ausstieg aus dem Opus Dei

 

 

 

Auszug aus: Das Opus Dei – eine Innenansicht. Köln 1983

 

(Mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 

 

Nach dem Schreiben des Briefes an den Generalpräsidenten, in dem jemand mit Genehmi­gung der zuständigen Leiter um Aufnahme in das Opus Dei bittet, wird der Betreffende von den Leitern und seinen Brüdern als Mitglied des Opus Dei betrachtet. Es wurde schon ver­schiedentlich betont, daß die Leiter den jeweiligen „Bittsteller“ nach­drücklich darauf hin­weisen, daß das Schreiben eines solchen Briefes Ausdruck einer endgültigen Lebens­ent­schei­dung sein muß. Minderjährigen wird somit eine endgültige Entscheidung zu einem Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam zugemutet. Sie werden zu einer solchen „Ent­scheidung“ oftmals massiv gedrängt, wobei ihnen zugleich suggeriert wird, sie seien schon erwachsen und reif genug, eine Entscheidung von solcher Tragweite zu treffen. Von dem Tag an, da je­mand den Brief an den Generalpräsidenten geschrieben hat, wird ihm unaufhörlich klarzu­ma­chen versucht, daß seine Berufung zum Opus Dei das größte Geschenk darstelle, das Gott ihm machen konnte. „Zweifle nicht: Deine Berufung ist die größte Gnade, die der Herr dir erwei­sen konnte. – Danke dafür.“[1] Es müsse nun darum gehen, treu in der Berufung zu beharren, und es könne sich in seinem Leben nichts Schlimmeres ereignen, als wenn er nicht treu sei und seine Berufung aufgebe, „sich aus dem Fenster werfe“. Das Aufgeben der Be­rufung zum Opus Dei wird also als ein übernatürlich-geistlicher Selbstmord hingestellt. „Anfangen tun alle; ausharren – die Heiligen. Daß deine Beharrlichkeit nicht die blinde Folge deines ersten Entschlusses sei, ein Werk der Trägheit; daß es eine bewußte Beharr­lichkeit sei.“[2]

Formal wird gemäß Kirchenrecht die Inkorporation in die Vereinigung schritt­weise voll­zogen. Frühestens ein halbes Jahr nach der Bitte um Aufnahme in das Opus Dei er­folgt die sogenannte „Admission“. Diese wird in der Kapelle eines „Zentrums“ des Opus Dei mit einer Zeremonie vor einem Priester in Gegenwart von Zeugen vollzogen. Frühestens ein Jahr nach der Admission erfolgt die «Oblation», mit welcher ein Betreffender seine Mit­glied­schaft in der Vereinigung bis zum nächsten Fest des hl. Josef (19. März) ver­spricht. Bislang mußte ein Numerariermitglied vor der Oblation private Gelübde der Ar­mut, der Ehelosigkeit und des Ge­horsams für die gleiche Dauer ablegen. Mit der Um­wand­lung des Opus Dei von einem Säkularinstitut in eine Personalprälatur wird nun auf die Ablegung privater Gelübde verzich­tet. Die Oblation wird jeweils am 19. März mindestens fünfmal erneuert. Zuvor waren bislang jeweils auch die privaten Gelübde zu wiederholen. Frühestens sechseinhalb Jahre nach der Bitte um Aufnahme in die Vereinigung, also frühestens im Alter von 21 Jahren erfolgt mit der sogenannten „Fidelitas“ die endgültige, lebenszeitliche Inkor­poration in die Vereinigung. Zuvor waren bislang private Gelübde abzulegen, mit denen sich ein Betreffen­der auf Lebens­zeit zu Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam verpflichtete. In Zu­sammenhang mit der Fidelitas sind die Mitglieder gehalten, ein Testament abzufassen, in dem sie für den Fall ihres Ablebens verfügen, daß ihr Eigentum Vereinen wie beispielsweise der Studen­ti­schen Kulturgemein­schaft zufallen soll. Es mag sein, daß mit der Neu­strukturierung des Opus Dei nun die einzel­nen Schritte der – kirchenrechtlich gesehen – allmählichen, stufenweisen Inkorporation in das Opus Dei in ihrer Benennung wie in ihrer Durchführung Änderungen erfahren haben.[3] Den Mit­gliedern wird ausdrücklich gesagt und eingeschärft, daß sie schon mit der Bitte um Auf­nah­me in das Opus Dei eine endgültige Lebensentscheidung getroffen hätten, an der sie in un­verbrüchlicher Treue festhalten müßten. Vor der Erneuerung der Oblation wird regelmäßig ein Vortrag gehalten, in dem nachdrücklich hervorgehoben wird, daß ein solcher Schritt (Er­neuerung der Oblation) nicht Anlaß zu einer Prüfung und Infragestellung des bis­he­ri­gen We­ges, sondern vielmehr ausschließlich Anlaß dazu sein soll, von ganzem Herzen seine Hingabe im Opus Dei zu erneuern und zu bekräftigen. Deshalb ist die stufenweise Ein­glie­derung in das Opus Dei in keiner Weise mit Postulat oder Noviziat der Orden vergleichbar. Die kirchen­recht­liche Regelung wird (bzw. wurde bislang) zwar formal praktiziert, de facto aber umgan­gen.

Wohl behält sich die Vereinigung vor, ein Mitglied in der Zeit bis zur Fidelitas, vor allem bis zur Oblation auf seine Tauglichkeit für die Vereinigung und für eine bestimmte Weise der Mit­gliedschaft in ihr zu prüfen und über es zu urteilen. Halten die Leiter jemanden, der um die Aufnahme in das Opus Dei gebeten hat und diesem nun seit einiger Zeit angehört, aus ir­gendwelchen Gründen für dieses nicht geeignet, so muß er das Opus Dei verlassen. Die Ent­scheidung hierüber obliegt bis zur Admission dem zuständigen „Örtlichen Rat“, von der Ad­mission an bis zur Oblation der Kommission und von der Oblation an dem General­präsiden­ten. Wenn die Leiter einen Numerarier nicht für diese Weise der Mitgliedschaft geeignet hal­ten, ist es (in seltenen Fällen) möglich, daß dieser Supernumerarier oder Assoziierter wird. Zuweilen lassen die zuständigen Mitglieder eines „Örtlichen Rates“ jemanden zunächst als Supernumerarier in das Opus Dei eintreten, etwa weil er sich zunächst noch gegen ein Leben in Ehelosigkeit wehrt, und bemühen sich darum, daß der Betreffende doch noch den Ent­schluß faßt, Numerarier zu werden. Gelangt ein Numerariermitglied zu der Überzeugung, daß er sich beispielsweise nicht für ein Leben in Ehelosigkeit eigne, so kann er dies zwar sei­nem „geistlichen Leiter“ vortragen, doch wird er nur dann Supernumerarier werden können, wenn die Leiter ebenfalls zu dieser Überzeugung gelangt sind oder gelangen, wenn sie es im Gebet „sehen“.

 Escrivá de Balaguer pflegte häufig zu wiederholen, daß es schwer sei, in das Opus Dei zu gelangen und Mitglied des Opus Dei zu werden, sehr leicht hingegen, das Opus Dei zu ver­lassen. Die Tür in das Werk sei nur einen Spalt geöffnet, während die Tür hinaus weit offen stehe. Immer wieder wird es im Opus Dei gelehrt, daß die einzelnen Mitglieder frei seien, das Opus Dei jederzeit zu verlassen, vor allem nach außen hin wird dies vielfach betont. Formal betrachtet bedarf es tatsächlich nicht viel, die Mitgliedschaft im Opus Dei aufzukündigen. Bis zur Oblation zu reicht es, dem Leiter des zuständigen Örtlichen Rates seinen Austritt aus der Vereinigung zu erklären. Hat ein Mitglied, welches das Opus Dei verlassen will, schon die Oblation abgelegt, so kann es entweder am 19. März diese nicht erneuern – wer am 19. März die Oblation willentlich nicht erneuert hat, gehört dem Opus Dei unwiderruflich nicht mehr an – oder er kann in einem Brief dem Generalpräsidenten sei­nen Willen erklären, das Opus Dei zu verlassen, und diesen bitten, einen von allen einge­gan­genen Verpflichtungen zu entbinden. Dieser Bitte wird von seiten des General­präsidenten stets stattgegeben. Dem Bitt­steller wird die Antwort des Generalpräsidenten durch den Leiter des zuständigen „Örtlichen Rates“ mitgeteilt. Wer bereits die Fidelitas abgelegt hat und aus dem Opus Dei austreten will, muß ebenfalls an den Generalpräsidenten schreiben und bedarf ebenso einer Dispens von den eingegangenen Verpflichtungen. Etwa einen Monat nach Schrei­ben eines solchen Briefes an den Generalpräsidenten findet für den, der bereits die Fidelitas abgelegt hatte, zudem noch ein Gespräch mit Leitern der zuständigen Kommission statt.

In Wirklichkeit ist es aber sehr schwer, das Opus Dei zu verlassen. Die nie abreißende Aus­bildung stellt das Verlassen des Opus Dei, das als ein Aufgeben einer göttlichen Berufung hingestellt wird, als etwas sehr Schlimmes und Entsetzliches vor. Als eine Ungeheuerlichkeit, mit der es ein Mensch wagt, das große Geschenk und den gewaltigen Liebeserweis Gottes an ihn auszuschlagen, zurückzuweisen und zu verachten. Das Opus Dei zu verlassen wird vor­gestellt als ein Sich-Widersetzen gegen den Willen Gottes, als eine gleichsam schreckliche Durchkreuzung der konkreten Heilspläne Gottes, der jemanden als sein Werkzeug gebrauchen wollte, damit er mitwirke, daß „alle gerettet werden“, den er auserwählt hatte, zur Rettung bestimmter Menschen beizutragen. Die Mitgliedschaft im Opus Dei aufzukündigen, wird somit als ein Vergehen gegen Gott und die Menschen vorgestellt, deren ewiges Seelenheil mithin von dem Apostolat eines Mitgliedes des Opus Dei abhinge.

„Die Liebe Gottes und den Eifer für die Seelen mußt du an andere weitergeben, damit diese ihrerseits wieder viele an­stecken, die in einem weiteren Bereich leben; und jeder dieser letzteren wiederum seine Berufskollegen. Wie viele geistliche Energien brauchst du! - Und was für eine große Verant­wortung, wenn du kalt wirst! Ich mag nicht daran denken, was für ein Verbrechen es wäre, wenn du schlechtes Beispiel gäbest.“[4] „Bitte immer um deine Beharrlichkeit und um die dei­ner Gefährten im Apostolat; denn unser Widersacher, der Teufel, weiß genau, daß ihr seine den großen Feinde seid… Wenn einer in euren Reihen fällt, wie freut er sich darüber!“[5]

 
Das Verlassen des Opus Dei als ein Erfolg und Triumph des Teufels? Die Ausbildung in der Vereinigung, die von ständigen Wiederholungen und Einschärfungen lebt, zu erreicht es, daß ein Mitglied des Opus Dei das ihm dort Vorgestellte meist schon nach kurzer Zeit gänzlich sich zu eigen macht, daß es oftmals in bestimmten Bereichen die Eigen­ständigkeit des Den­kens verliert und in seinem Denken gleichgeschaltet wird, so daß es kaum noch und mit der Zeit immer weniger in der Lage ist, anders als in den Schemen und Kategorien der Vereini­gung zu denken. Zu diesen gehört, daß im Opus Dei – von Fehlern des einzelnen, die einge­räumt werden, abgesehen – alles nach dem Willen Gottes geschieht, daß der „Geist des Werkes“ auf göttlichen Willen zurückgeht und ihm in allem entspricht. Die Leiter wissen dank der Gnade Gottes, was Gott will. Dem zu gehorchen, was die Leiter als Leiter vor­schreiben, heißt, den Willen Gottes zu tun. „Davon, daß du und ich so handeln, wie Gott will, hängen viele große Dinge ab. Vergiß das nicht.“[6] - Der Gehorsam gegenüber dem durch die Leiter erfahrbaren Willen Gottes „ist der Schlüssel, um die Tür zu öffnen und in das Himmelreich einzugehen.“[7] Für ein Mitglied des Opus Dei gibt es keine Alternative zu einem „blinden Gehorsam“ gegenüber seinen Leitern, er ist „Weg der Heiligkeit“, und schon gar keine Alternative zum Gehorsam im Apostolat, er ist „der einzige Weg“.[8]

Die Berufung zum Opus Dei wird in der Vereinigung als apostolische Berufung vorgestellt. Was den Willen Gottes betrifft, so gibt es für ein Mitglied des Opus Dei im Grunde keine andere Erkenntnisquelle und Quelle der Erfahrung als die Leiter, als das, was die Leiter als Willen Gottes vorstellen, und somit keine eigene Erkenntnis[9] und Erfahrung. Denn, was auch das einzelne Mitglied aus der Betrachtung des Evangeliums, im Gebet, in der konkreten Alltags- und Zeitsituation als ein Angerufen- und Herausgefordertsein, mithin auch durch Gott, zu vernehmen und zu verspüren vermag, es bedarf stets der Anerkenntnis durch seine Leiter und findet diese nur, wenn es dem entspricht, was die Leiter als den Willen Gottes vorstellen.


Zu der Ausbildung des Opus Dei gehört neben vielem anderem die Vermittlung großer Angst vor ewiger Verdammnis und Hölle. „Es gibt eine Hölle. – Eine Feststellung, die dir eine Binsenwahrheit scheinen mag. – Ich wiederhole sie dir: Es gibt die Hölle! Gib das im richtigen Augenblick an jenen Freund weiter... und an jenen anderen.“[10] „Die Kinder der Welt neigen sehr dazu, die Barmherzigkeit Gottes zu betonen. – Das ermutigt sie dann, auf ihren Abwegen weiterzugehen. Es ist wahr, daß Gott, unser Herr, unendlich barmherzig ist. Aber Er ist auch unendlich gerecht: es gibt ein Gericht, und Er ist der Richter.“[11]
Doch - wer den Weg der Berufung als Mitglied im Opus Dei geht und ihm treu folgt, damit täglich wieder und wieder von neuem beginnt, befindet sich nicht auf Abwegen. Wer den Leitern „blind gehorcht“, befindet sich vielmehr auf einem „sicheren“ Weg, der „Weg der Heiligkeit“. Wer die Normen und Gewohnheiten des Opus Dei gut erfüllt, dessen Heiligkeit war sich Escrivá de Balaguer sicher.

„‘Beinahe belustigend, Sie von der ‘Abrechnung‘ reden zu hören, die unser Herr von Ihnen ver­langen werde. Nein, für Sie wird Er kein Richter im strengen Sinne des Wortes sein, son­dern einfach Jesus‘. Dieser Satz, von einem heiligmäßigen Bischof niedergeschrieben, der schon mehr als ein bedrücktes Herz aufgerichtet hat, kann auch dein Herz aufrichten.“[12]

 

Wer aber den sicheren Weg des Gehorsams im Opus Dei, wer seine Berufung verläßt, begibt sich in eine große Gefährdung, in die Gefahr ewiger Verdammnis. Er gibt einen sicheren Weg auf und beginnt höchst unsichere und heikle Wege zu beschreiten.

Gelegentlich wird in den Ausbildungsvorträgen darauf hingewiesen, daß Escrivá de Balaguer betont hat, jedes der Mitglieder eines Zentrums des Opus Dei sei in der Regel mitverantwort­lich und trage Schuld daran, wenn ein Mitglied aus ihren Reihen seine Berufung aufgibt und das Opus Dei verläßt. Oftmals treffe sie sogar schwere Schuld, die der Beichte bedürfe. Der derzeitige Generalpräsident, Alvaro del Portillo, berichtete in einem Brief an die Mitglieder des Opus Dei, wie sehr es Escrivá de Balaguer geschmerzt habe, wenn eines seiner „Kinder“ ihm schrieb, daß es das Opus Dei verlassen wolle. Vielfach hätten derartige Briefe eine Versicherung unveränderter Zuneigung dem Gründer gegenüber enthalten. Der „Vater“ habe dann oft unter Tränen gesagt (sinngemäß), er lege auf die Liebe dessen, der das Opus Dei ver­läßt, keinen Wert, wenn dieser Gott nicht oder nicht vor allem liebe. Auf die Mitglieder der Vereinigung wirkt solches Erzählte in zweifacher Hinsicht. Es legt einerseits nahe, daß das Verlassen des Opus Dei fehlender oder zumindest mangelnder Liebe zu Gott entspringt, und rührt andererseits gewissermaßen eine emotionale Tiefenschicht an: Der „Vater“ war bzw. ist der Mensch, welcher für die Mitglieder der Vereinigung die höchste Autorität darstellt. Er artikuliert nämlich für sie maßgebend und authentisch den Willen Got­tes, wie es in ihrer Ausbildung unaufhörlich zu vermitteln gesucht wird. Er ist zudem auch – und nicht zuletzt deshalb – der Mensch, den sie am meisten lieben. Welchen Numerarier schmerzte es nicht, von Tränen des Gründers des Opus Dei zu hören, und in wem erweckte das Berichtete nicht den Vorsatz, für den Nachfolger des Gründers, der doch ebenso wie Escrivá de Balaguer „Vater“ ist, niemals Anlaß zu Schmerz und Tränen zu werden!

Von seiten der Leiter fehlt es nicht an Hinweisen darauf, wie unglücklich diejenigen meist seien, die ihre Berufung als Mitglied im Opus Dei aufgegeben und verlassen haben. In aller Regel werden sie als Menschen hingestellt, die ihres Lebens nicht mehr froh werden und die nichts so sehr bereuen, wie ihren Austritt aus der Vereinigung. Es wird erzählt von jenem ersten Mit­glied des Opus Dei, das eine Berufung zum Numerarier gehabt habe, diese aufgab und heira­te­te. Es sei eine unglückliche und kinderlose Ehe geworden. Oftmals habe ich verschiedene Leiter ehemalige Mitglieder mitleidig als „ganz arme Schweine“ bezeichnen gehört. Wenn ich meine Absicht zu erkennen gab, das Opus Dei zu verlassen, wurden mir von den Leitern häufig ehemalige Mitglieder als warnende Beispiele vorgehalten. «Willst du denn, daß es dir einmal so ergeht wie X. oder Y.?

Die Herausstellung der Berufung als etwas überaus Erhabenes und als ein unschätzbares Ge­schenk Gottes, die ständigen Appelle an die Treue zu dieser Berufung einerseits und die regel­rechte und vor allem unterschiedslose Verteufelung des Aufgebens der Berufung be­wirken einen starken inneren Druck und die Verinnerlichung von Denkschemen und be­stimmter Empfindungsweisen. Diese ermöglichen es dann den Leitern, sie jederzeit an­zu­sprechen und wachzurufen. Für den einzelnen werden diese verinnerlichten Denk­schemen und Gefühls­muster oftmals zu einer starken, inneren Fessel, die er – wenn überhaupt – nur schwer und unter großen Anstrengungen abzustreifen vermag. Ich selber habe von den fünf Jahren meiner Mitgliedschaft als Numerariermitglied im Opus Dei ungefähr zweieinhalb Jahre gebraucht, um die Vereinigung zu verlassen. Es begann damit, daß ich mich in der Ver­einigung zu­neh­mend unwohler und unglücklicher zu fühlen begann. Freilich fällt es rück­blickend schwer, die mir damals bewußten Gründe dafür nachträglich in der genauen Rei­hen­folge ihres Zu-Be­wußt­sein-Kommens zu rekonstruieren. Es kamen wohl viele und zuneh­mend immer mehr Momente zusammen, die oftmals zunächst im emotionalen Bereich ihren Aus­gang nahmen und erst allmählich eine Ebene ausdrücklicher Reflexion erreichten. Ein starkes Moment war, daß ich das, was in der Vereinigung mit den großen und anspruchs­vollen Wor­ten „Brüderlich­keit“ und „Freundschaft“ belegt wird, zunehmend als verordnet zu empfinden begann. Hohe und erstrebenswerte Ideale wurden hier so hingestellt, als seien sie im Opus Dei gleichsam optimal verwirklicht. Zunehmend verdichtete sich jedoch bei mir der Eindruck, daß in Wahr­heit der gestellte Anspruch nicht nur nicht erreicht, sondern meist nicht einmal im Ansatz ver­wirklicht und ihm nicht nur vereinzelt, sondern irgendwie systembedingt grundlegend und laufend widersprochen wurde. Gleichzeitig hatte ich das Empfinden unge­heu­ren Unfreiseins, eines Eingeschnürtseins in ein mächtiges Korsett, das mir nicht paßte, sondern an das ich mich, koste es, was es wolle, anzupassen hatte. Ein sicherlich ganz wichti­ges und zunehmend wichtiger werdendes Moment wurde ein ständig stärker werdendes An­ge­zogensein vom ande­ren Geschlecht, das ich zum Zeitpunkt meines Eintritts in die Vereini­gung so nicht gekannt und erfahren hatte. Dann das pausenlose Eingespanntsein in Aufgaben und Verpflichtungen, ein letztlich nie abreißender Streß, der einen kaum noch zu dem kom­men ließ, wozu man eigent­lich angetreten war: sein Christsein in den Lebensumständen ernstzunehmen, in denen man sich auch ohne das Opus Dei befinden würde. „Eine Stunde Studieren ist für einen modernen Apostel eine Stunde Gebet.“[13]  lautet in «Der Weg» ein Punkt, der mich im Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren begeistert hatte. Und jetzt war ich froh, wenn ich meine Schulaufgaben halbwegs erledigt bekam. Dem, was mich im Unterricht interessierte, einmal nachzugehen, es zu vertiefen, dazu vielleicht einmal ein Buch zu lesen oder eine Ausstellung zu besuchen, das war längst nicht mehr möglich. Ebenso unmöglich war es geworden, einem Freund auf gleicher Ebene zu begegnen, irgendetwas ohne „apostolische“ Hintergedanken zu unternehmen und zusammen nur deshalb etwas zu tun, weil es beiden Seiten Freude macht. Auch fühlte ich mich zunehmend von den Leitern im Opus Dei ausgenutzt und hatte den Ein­druck, für die Vereinigung nur so lange und nur insoweit interessant zu sein, wie ich im Sinn der Vereinigung und für sie funktionierte.

Selbstverständlich galt es, von solchen Empfindungen und Eindrücken in der Aussprache als Ver­suchungen zu berichten. Die „geistlichen Leiter“ taten alles, sie als gefährliche Ver­su­chun­gen und Ausdruck mangelnder Großzügigkeit, Hingabe und Liebe und zudem großen und verletzten Stolzes hinzustellen. Was das Angezogensein vom anderen Geschlecht anbe­lang­te, wurde gesagt, daß dies zwar sehr natürlich ist, ich dem aber nicht nachgehen dürfe, da Gott mich zur Ehelosigkeit berufen habe und ich darauf  mit meinem Eintritt in das Opus Dei ein für alle Male verzichtet hätte. „Jesus genügt es nicht, daß man mit Ihm ‚teilt‘: Er will alles.“[14] Hinsichtlich der „Brüderlichkeit“ wurde ich befragt, wie sich denn meine Liebe zu meinen „Brüdern“ ausdrücke, wie oft meine „Brüder“ denn Gegen­stand meines Gebetes seien, welche Dinge ich mir einfallen ließe, einem „Bruder“ eine Freu­de zu bereiten, wieviele „Brüderliche Zurechtweisungen“ ich denn üben würde. Ich solle erst einmal selber brüder­licher werden. Was die Schule anbelange, so sei es freilich notwendig, daß ich genügend da­für arbeite, ich solle die Zeit besser ausnutzen, und auch Zwischenzeiten und unvorherge­se­hene Wartezeiten zum Lernen nutzen. Andererseits müsse ich eine klare Hier­archie der Werte und Pflichten einhalten, dürfe mich an meine persönliche Arbeit nicht klammern. Ein Nume­ra­rier müsse bereit sein, jederzeit seine persönliche Arbeit, und sei sie noch so erfolgver­spre­chend, aufzugeben, wenn es sein Leiter für erforderlich hält.

Durch die intensive Aus­bildung im Opus Dei, die ich bereits durchlaufen hatte, entsprachen sol­che Äußerungen der Leiter genau den Denkmustern, sie die ich selbst verinnerlicht hatte und in denen ich zunächst auch weiterhin grundsätzlich dachte. Deshalb war ich auch und immer wieder bereit, gegen meine Empfindungen und Gedanken anzugehen, sie bisweilen regelrecht zu bekämpfen, wozu mich meine Leiter anhielten. Ließen diese Gedanken und Empfindungen, auch das Unglücklich­sein, sich auch immer wieder verdrängen und zum Schwei­gen bringen, manchmal sogar auf längere Zeit, so blieben sie doch latent und brachen stets von neuem, oft um so heftiger, hervor. Von Zeit zu Zeit überkamen mich regel­rechte Ausbruchsstimmungen, so daß ich ab und zu einen Tag lang nicht zum Jugendclub Feuerstein kam, die Normen dann nicht oder nur teilweise erfüllte und aus der ganzen Ge­regeltheit und Verplantheit ausbrach. Dabei überkam mich ein ungemeines Glücksgefühl, welches das zu­nächst stets begleitende Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, überwog und für einige Stunden über­wand. Ich liebte es unter anderem dann, die belebtesten Geschäftsstraßen Kölns aufzu­suchen, die Menschen dort zu beobachten und in ihre Gesichter zu schauen. Da war doch Leben! In diesen Gesichtern, die Freude wie Leid, Gleichgültigkeit, Gedanken­verlorenheit, Geschäftigkeit, Resignation, Glück und Kummer etc. ausdrückten, lag Realität. Realität, der ich mich entzogen fühlte. Ein Schimmer einer in weiten Teilen durchaus nicht lichten Lebens­wirklichkeit, die mehr Einsamkeit als gelungene Zweisamkeit bzw. Gemein­samkeit, mehr Leid als Freude kennt. Doch, wenn es sich für etwas einzusetzen galt, dann doch in dem und für das, was hier als Wirklichkeit aufschien.

Wenn ich aus der Stadt zurückkehrte, wußte ich, daß im Haus meiner Eltern längst schon einer der Leiter angerufen und um meinen Rückruf gebeten hatte. Das Glücksgefühl wich Schuldgefühlen. Für den nächsten Tag oder schon am Abend war ein längeres Gespräch mit meinem „geistlichen Leiter“ zu erwarten, der mir Vorhaltungen machen und mich eindrück­lich davor warnen würde, mit meiner „Berufung zu spielen“. Im Frühjahr 1977 faßte ich das erste Mal den Entschluß, das Opus Dei zu verlassen. Damals hörte ich von seiten der Leiter auch das erste Mal den Satz, ich solle mich nicht „aus dem Fenster werfen und unglücklich machen.“ Es begannen wie immer wieder, wenn ich später die Absicht erkennen ließ, das Opus Dei zu verlassen, stundenlange Gespräche mit den Leitern und Priestern des Opus Dei, später waren es oft mehrere an einem Tag. Stand ich ohnehin schon, durch die Ausbildung im Opus Dei, unter einer großen inneren Fessel, so wurde der daraus resultierende Druck durch die jeweiligen Leiter in solchen mir von ihnen aufgedrängten Gesprächen noch verstärkt. Von der Romfahrt 1977 an schaltete und sich ein Mitglied der Kommission in diese Gespräche ein. Dieser Numerarier war viele Jahre älter als ich, stellte für mich eine große Autorität dar und übte einen großen Einfluß auf mich aus, wovon er reichlich Gebrauch machte. Immer wieder gelang es ihm, oft mit sublimsten Methoden, mich zu bewegen, im Opus Dei zu bleiben.

Damals identifizierte ich noch das, was der „Geist des Opus Dei“ genannt wird, mit dem Willen Gottes. Die Schwierigkeiten, die ich mit der Vereinigung hatte, führte ich, wie es die Leiter stets taten, auf mich zurück. Könnte ich nicht alle Fesseln mit einem Mal abstreifen, wenn ich den Glauben an Gott aufgäbe? Was, wenn Gott nur ein Hirngespinst der Menschen wäre, dem keine Wirklichkeit zugrundeliegt? Wenn es Gott nicht gäbe, dann wäre auch das Opus Dei nicht auf göttlichen Willen gegründet. Doch, schon bei diesen Überlegungen wußte ich, daß ich meinen Glauben nicht so einfach abstreifen könnte. Vor allem wollte ich glauben und ein Glaubender bleiben. Da ich zutiefst aber doch noch davon ausging, Gott wolle mich als Numerariermitglied im Opus Dei, und mein Christsein mir damals, wie es mir unzählige Male eingeschärft worden war, irgendwie als untrennbar mit dem Opus Dei verknüpft erschien, verblieb ich im Opus Dei. War es nicht Mal auch eine einleuchtende Konsequenz, daß Ganzhingabe, wie sie im Opus Dei gefordert ist, Überwindung und Opfer kostete? Hatten die Leiter nicht doch recht, wenn sie immer wieder betonten, daß sich diese Opfer lohnten?


„Wir wollen in dem armen gegenwärtigen Leben den Leidenskelch bis zum letzten Tropfen leeren. – Was bedeuten zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre Leid…‚ wenn dann die Herrlichkeit kommt, für immer, für immer…‚ für immer? Und vor allem – besser noch als der erwähnte Grund „propter retributionem“ –‚ was macht es aus zu leiden, wenn man leidet, um Gott, unseren Herrn, zu trösten, um Ihm zu gefallen, im Geist der Sühne, eins mit Ihm am Kreuz, mit einem Wort: wenn man aus Liebe leidet?“[15]

Im Sommer 1977 zog ich nach Bonn ins „Studienzentrum“, wo ich zunächst an dem zwei­mo­natigen Jahreskurs für die Mitglieder dieses „Zentrums“ teilnahm. Die ersten vier Wochen wur­den von dem zuvor erwähnten Mitglied der Kommission geleitet, das während dieser Zeit meine geistliche Leitung wahrnahm. Nach dem Jahreskurs war es einer meiner Aufträge, an zwei bis drei Vormittagen in der Woche im Haus der Kommission im „Sekretariat des Vize­pos­tulators des Opus Dei in Deutschland“ zu arbeiten, dort den Versand der „Informations­blätter über den Gründer des Opus Dei“ zu besorgen, die Buchführung zu erledigen und die Spen­denbescheinigungen auszustellen. Dadurch traf ich das betreffende Mitglied der Kom­mission, das zudem einmal in der Woche uns Mitgliedern des „Studien­zentrums“ in Bonn einen Ausbildungsvortrag hielt, mehrmals in der Woche.

Auch wenn ich zunächst mich wieder um eine vollständige Hingabe als Numerariermitglied im Opus Dei bemühte, so blieben doch vor allem drei Bereiche virulent: Zum einen sehnte ich mich nach einer Freundin, und es fiel mir schwer, mich damit abfinden zu sollen, daß meine „Entscheidung“ als Fünfzehnjähriger zur Ehelosigkeit eine endgültige Lebensentscheidung gewesen sei. Ich wollte gar nicht in Abrede stellen, daß diese Lebensform tatsächlich mein Weg sein könnte, wohl aber gewann ich mehr und mehr die Überzeugung, daß der Ent­schei­dung zur Ehelosigkeit eine eingehende, ehrliche Prüfung vorausgehen muß, die bei einer ver­ordneten, völligen Abkapselung vom anderen Geschlecht vom fünfzehnten Lebensjahr an je­der Möglichkeit und Grundlage entbehrt. Auch verstärkte sich bei mir zunehmend der Ver­dacht, daß die Ehelosigkeit möglicherweise kein mir ange­messener Lebensweg sein könnte. Zum anderen wurde mir zunehmend der Bereich des Studiums zum Problem: ein ernsthaftes und ernstzunehmendes Studium in den von mir gewählten Fächern Philosophie und Klas­si­sche Philologie war mir als Mitglied des Opus Dei nicht möglich. Die zahlreichen Aufträge, Verpflichtungen und Termine ließen mich kaum zum Studieren kommen. War einmal Zeit, im Studienraum des „Althaus“ etwas zu­sam­men­hän­gender zu studieren, so wurde man fast im­mer durch ein unaufhörlich schellendes Telefon und das ständige Kommen und Gehen der Benutzer des Studienraumes gestört. Wollte man einmal relativ ungestört arbeiten, so mußte man sich, wenn das möglich war, in einen Semi­nar­raum der Universität begeben. Das Verbot der Lektüre fast sämtlicher Philosophen tat das übrige. Die Art, wie unter den Mitgliedern abschätzig über verbotene Autoren und ihre Werke gesprochen wurde, begann ich als ebenso arrogant wie dumm zu empfinden. Kaum studieren zu können, fiel mir ausgesprochen schwer.

 Einmal belastete mich die Frage, wie ich jemals unter diesen Bedingungen in meinem Stu­dium zu einem Abschluß kommen könnte. Vor allem aber machte es mir Spaß, etwas gründ­lich zu erarbeiten, Fragen aufzuwerfen und ihnen nachzugehen, was mir im Opus Dei unmög­lich war. Oft bat ich den Leiter des „Studienzentrums“ um Erlaubnis, nach der abend­lichen Gewissenserforschung aufbleiben und noch etwas arbeiten zu dürfen, was mir meist abschlä­gig beantwortet wurde. Schließlich blieb all das virulent, was sich auf das bezog, was in der Vereinigung „Brüderlichkeit“ und „Freundschaft“ genannt wird. Die Beisammensein wurden mir mit der Zeit oft zur Qual. Ich litt bisweilen fast physisch darunter, wenn jemand uns per­sönlichste Angelegenheiten eines „Freundes“ unterbreitete, oder wenn ich, was häufig ge­schah, vom Leiter dazu aufgefordert wurde, über „Freunde“ von mir zu erzählen. Mehr und mehr hatte ich es im „Studienzentrum“ aufgegeben, von mir aus von meinen „Freunden“ zu berichten.

Im Dezember 1977 sagte ich dem Leiter des „Studienzentrums“, daß ich zu der Auffassung gelangt wäre, nicht zum Opus Dei berufen zu sein. Der Leiter sagte mir daraufhin: „Gut, dann schreibst du jetzt auf einen kleinen Zettel: ‚Ich habe keine Berufung zum Opus Dei‘ und unterschreibst ihn. Wir legen diesen Zettel dann in den Tabernakel. Könntest du heute nacht ruhig schlafen, wenn wir das täten?“ Ich gab zu, daß mir dabei nicht ganz wohl sein würde. Wir führten dann ein längeres Gespräch, in dem er die üblichen Warnungen aussprach und in dem es dann darum ging, wie ich in meiner Hingabe treuer werden könnte. Nach diesem Ge­spräch zog ich fast ein halbes Jahr lang meine „Berufung“ nicht mehr in Zweifel, bemühte mich, mich mit ihr abzufinden und sie zu bejahen, und versuchte, den „Geist des Werkes“ treu zu erfüllen. Im Mai 1978 brach alles von neuem auf. Am Pfingstsonntag hatte ich ein langes Gespräch mit dem verschiedentlich schon erwähnten Mitglied der Kommission, längere Ge­spräche mit meinem „geistlichen Leiter“ waren schon vorausgegangen.

Das Mitglied zeigte mir schließlich ein Bild, das einen gekreuzigten Christus mit abge­schla­genen Armen darstellte. Auf dem Querbalken des Kreuzes stand geschrieben: „Ich habe keine anderen Hände als deine“. Dieses Bild beeindruckte mich sehr. X. fragte lapidar, ob ich mich dem entziehen wolle. Meine „Berufungskrise“, so wird es im Opus Dei bezeichnet, dauerte diesmal länger. Auch nach diesem Gespräch beharrte ich darauf, daß ich mich zumindest nicht als Numerarier eigne und wohl nicht zur Ehelosigkeit berufen sei. An einem Samstag unternahm ich mit meinem „geistlichen Leiter“ in Zusammenhang mit einem Besuch eines Jugendclubs in Trier, der von einigen Mitgliedern des «Studienzentrums» von Bonn aus be­treut wurde, eine längere Wallfahrt. Auf dem Rückweg sagte ich meinem „geistlichen Leiter“, daß ich der Überzeugung sei, daß die Mitgliedschaft im Opus Dei als Numerarier nicht mein Weg ist und fragte ihn, ob ich nicht Supernumerarier werden könne. Der Leiter ging darauf zunächst scheinbar ein. Ich solle mich im Gebet ehrlich fragen, was Gott von mir wolle und mit einer täglichen, kurzen Wallfahrt zu einer Marienstatue in einer Bonner Kirche um Klar­heit bitten. In den folgenden Tagen und Wochen begannen nun wieder die zahl­reichen, inten­si­ven Gespräche, in denen mir mein Leiter und das Mitglied der Kommission klarzumachen versuchten, daß ich sehr wohl eine Berufung zum Numerarier hätte. Einerseits wurde mir wie­derholt, daß Gott, indem er mich zur Ehelosigkeit berufen habe, von mir ein Mehr an Hingabe erwarte, andererseits wurde betont, ich würde mir eine Ehe wohl allzu ro­man­tisch vorstellen. Es wurde mir beispielsweise von einem Supernumerarier erzählt, dessen Frau Alkoholikerin geworden sei. Auch andere warnende Beispiele wurden mir vorgehalten. Es wurde an meine Verantwortung für meine Mitbrüder und die „Freunde“ meines Apostola­tes appelliert. Ich wurde befragt, ob ich nicht auch mit der Möglichkeit rechne, daß ich mir mit meinen Über­legungen etwas vormachte und alles nur meinem Egoismus entspringen könnte. Wieder und wieder wurden mir zwei ehemalige Numerarier vorgehalten, die wegen einer Frau das Opus Dei verlassen hätten und die nun sehr unglückliche Menschen seien.

Jedes dieser Gespräche nahm mich sehr mit und stellte für mich eine große Belastung dar. Dennoch verfestigten sich mehr und mehr meine Ansicht, daß ich mich nicht als Numerarier eigne, und der Entschluß, das Opus Dei zu verlassen. Nach einem Beisammensein nahm mich mein „geistlicher Leiter“ beiseite und sagte mir, ich könne mich freuen, der „Örtliche Rat“ habe beschlossen, ich dürfe an der Sommerfahrt zu dem vom Opus Dei neu aufgebauten Marienwallfahrtsort Torreciudad in Spanien teilnehmen. Überrascht sah ich ihn an und sagte ihm, er wisse doch von meinem Entschluß, das Opus Dei zu verlassen und daß ich, wenn die Fahrt nach Torreciudad beginne, nicht mehr Mitglied der Vereinigung sein würde. Der Leiter gab mir zu bedenken, daß es sich dabei doch um eine so gewichtige Entscheidung handele, daß es zumindest nicht schaden könne, wenn ich alles noch einmal während der Wochen in Torreciudad „durchbeten“ würde. Letztlich vertue ich mir ja nichts, wenn ich einen Monat später das Opus Dei verlassen würde, und ich könne, wenn ich nach Torreciudad immer noch der Auffassung sei, diesen Schritt gehen zu sollen, wenigstens sagen, daß ich mich ernsthaft um eine Entscheidung bemüht habe. Ich gab ihm recht. Am Vorabend der Abfahrt nach Torreciudad hatte ich noch ein sehr langes Gespräch mit meinem „geistlichen Leiter“. Während der Torreciudad-Fahrt leitete mich der Sekretär des „Studienzentrums“, da der Leiter nichtfuhr. Er tat zunächst so, als wisse er von all meinen Überlegungen der letzten Zeit nichts.[16] Er setzte vorerst den weichen Kurs, den die Leiter mir gegenüber in den letzten Tagen genommen hatten, fort und ließ erkennen, daß er zwei bereit sei, meine Entscheidung, die ich in Torreciudad treffen wollte, anzuerkennen und ernstzunehmen. In Torreciudad verbrachte ich täglich oft viele Stunden in der Wallfahrtskirche. Mehr und mehr wurde ich mir dessen sicher, daß es für mich richtig sei, das Opus Dei zu verlassen. Der Sekretär des „Studienzentrums“ schlug darauf als hin eine andere Tonart an. Er habe mir nicht die Wahrheit gesagt, er sei über mich vorher genauestens informiert worden und angewiesen, mich „knallhart“ anzupacken. Ich solle mir doch nichts vormachen, meine Überlegungen seien die Folge meines Egoismus und Stolzes. Wenn ich das Opus Dei verlasse, ginge ich sehr wahrscheinlich in die Hölle. Wenn mir wirklich ernst damit wäre, mich ehrlich vor Gott zu entscheiden, dann solle ich gleich noch zur Beichte gehen und mich dort meines unbändigen Stolzes anklagen. Es war ein Uhr nachts, als er mir das sagte. Da ich noch ganz unter dem Einfluß der Erziehung zum Gehorsam stand, die ich im Opus Dei erfahren hatte, faßte ich mir ein Herz und weckte, wie es der Leiter angeordnet hatte, den Priester, der die Fahrt begleitete.

Trotz der Härte der Gespräche, die diesem Nachtgespräch in den nächsten Tagen folgten, blieb ich bei meinem Entschluß, das Opus Dei zu verlassen. Auf der Rückfahrt hatte ich den festen Willen, spätestens am Tag nach der abendlichen Rückkehr ins «Studienzentrum» in einem Brief an den Generalpräsidenten diesen zu bitten, mich von den eingegangenen Ver­pflichtungen zu dispensieren und das Opus Dei zu verlassen. Am 14. August 1978 hatte ich mit dem Leiter des „Studienzentrums“, der mein „geistlicher Leiter“ war, ein langes Ge­spräch, das ich mit der Überzeugung begann, es würde mein endgültig letztes mit ihm sein. In diesem Gespräch fuhr der Leiter gewissermaßen fast alle vorhandenen Geschütze auf. Wieder spürte ich die mächtige innere Fessel. Wenn ich mich doch belog? Wenn alles wirklich nur meinem Egoismus und einem verletzten Stolz entsprang? Wer war ich denn, daß ich mich so einfach über die Auffassungen der Leiter hinwegzusetzen können glaubte, die einhellig die Ansicht vertraten, daß ich von Gott zum Numerarier im Opus Dei berufen sei? Besaßen sie nicht die Standesgnade, um mir gültig zu sagen, was der Wille Gottes sei? Hieß nicht, wie es die Leiter betonten, sich über die Leiter hinwegzusetzen, sich über Gott hinwegzusetzen und sich ihm somit zu widersetzen? Eignete nicht dem, was der Leiter mir in diesem Gespräch gesagt hatte und in der Folgezeit oftmals wiederholen sollte, eine gewisse Plausibilität: „Wenn Gott dich nicht im Opus Dei haben will, glaubst du nicht, daß ihm genügend Mittel und Wege zur Verfügung stehen, dich aus dem Opus Dei herauszuholen?“ „Was wäre, wenn du dich irrst? Du weißt, daß du, wenn du das Opus Dei verläßt, niemals mehr in es zurückkehren kannst!“ Nun doch wieder unsicher geworden, hielt ich nach diesem Gespräch die Zeit des nachmittäglichen Gebetes. Am Abend teilte ich dem Leiter mit, daß ich doch in der Vereinigung verbleiben wolle. Von nun an wurden aber die Abstände zwischen den einzelnen „Berufungskrisen“ immer kleiner.

Ende September verließ ich das Althaus, allerdings ohne den Brief an den Generalpräsidenten geschrieben zu haben. Ich wollte zunächst einmal außerhalb des Einflusses der Leiter über­legen. Die Leiter hatten alles getan zu betonen, daß sie ein solches Verhalten in keiner Weise billigen, mich aber nicht daran hindern könnten, daß ich mich unglücklich machte. Kurz bevor ich das „Studienzentrum“ verließ, nahm mich ein Numerarier beiseite, mit dem ich früher im Jugendclub Feuerstein viel zusammengearbeitet hatte. Er brach in Tränen aus. Er habe den Eindruck, daß ich einen schlimmen Schritt tun wolle. Er selber habe in der Zeit, wo wir gemeinsam im Jugendclub Feuerstein waren, oft das Opus Dei verlassen wollen. Daß er es nicht getan habe, verdanke er mir. Ohne es zu wissen, sei ich ihm in diesen Zeiten Vorbild und Beispiel gewesen. Er sei der festen Überzeugung, daß wir außerhalb des Opus Dei nicht glücklich werden könnten. Ob ich mich nicht an den letzten Satz des Prologes in „Der Weg“ erinnere: damit du „am Ende ein Mensch bist, der klar sieht.“? Augenblicklich sähe ich nicht klar und sei dabei, in mein Unglück zu rennen. Diese Worte ergriffen mich sehr. Ich hatte den Eindruck, daß dies nicht mit einem Leiter abgesprochen war, was eine große Ausnahme darstellt. Unter dem Eindruck seiner Tränen und Worte fuhr ich nach Hause, meine Eltern waren in Urlaub gefahren. Schon nach einem Tag hielt ich es nicht mehr aus und kehrte ins Althaus zurück. Diese „freiwillige Rückkehr“ wurde mir von da an bei den „Berufungs­krisen“, die noch folgen sollten, immer wieder gleichsam als ein Gegenargument vorgehalten. Wenn ich erst einmal den Brief an den Generalpräsidenten geschrieben hätte, würde eine Rückkehr nicht mehr möglich sein. In den etwas mehr als vierundzwanzig Stunden außerhalb des Opus Dei war mir auch erschreckend klar geworden, wie mich die Jahre meiner Mit­glied­schaft völlig isoliert hatten. Wen hatte ich außer den Leitern, an den ich mich hätte wenden können? Konnte ich mich denn noch außerhalb des Opus Dei überhaupt zurecht­finden? 

 Um die Darstellung etwas abzukürzen, sollen Einzelheiten bis zur Romfahrt 1979 über­sprun­gen werden. In dem letzten Jahr meiner Mitgliedschaft wurde ich zunehmend zu einem Kriti­ker des Opus Dei, was einen für mich entscheidenden Wendepunkt darstellte. Bislang hatte ich, wozu die Leiter jeden erdenklichen Beitrag leisteten, das, woran ich mich zuneh­mend in der Vereinigung stieß, als eine ausschließlich individuelle Problematik betrachtet. Daß ich mit diesem oder jenem nicht zurechtkam, mochte daran liegen, daß ich nicht zum Opus Dei beru­fen war, nicht aber daran, daß in der Vereinigung gewissermaßen objektiv Un-rechtes ge­schieht. Nun begann ich nach und nach, das System des Opus Dei als solches in Frage zu stel­len. War solche „System“kritik nur die Projektion unbewältigter Eigenproblema­ti­ken auf die Vereinigung, und lag darin nicht ein selbstbetrügerischer Schachzug, durch eine versuchte Kri­tik am Ganzen eine Rechtfertigung für das eigene Verhalten zu gewinnen? – dies betonten die Leiter. Oder war die eigene Problematik nicht wesentlich die Konsequenz aus dem, was es zu kritisieren galt? Diese beiden Fragen habe ich mir während des letzten Jahres meiner Mit­gliedschaft oft gestellt und mich bemüht, eine ehrliche Antwort darauf zu finden. Mußte ich nicht Kritik üben? War nicht beispielsweise das, was unter dem Namen „Freundschaft“ vorge­stellt wurde, eine trügerische Ideologie und das, was in ihrem Namen getan werden mußte, nicht nur die Abwesenheit von Freundschaft, sondern auch ein letztlich menschenver­ach­ten­der, unchristlicher „Seelenhandel“? War es nicht eine Ungeheuerlichkeit, immer wieder Min­der­jährigen weittragende „Entscheidungen“ letztlich aufzuzwingen? Das (und vieles andere) konnte nicht der Wille Gottes sein. Das hieß aber, daß die Leiter in ihren Anweisungen den Willen Gottes nicht artikulieren, womit dem geschlossenen System des Opus Dei die Basis fehlt. Dies erhielt für mich während der Romfahrt 1979 eine er­schreckende Deutlichkeit. Mochte es vielleicht möglich sein, daß ich selber im Opus Dei verblieb und, wie es in «Der Weg» heißt, „den Leidenskelch bis zum letzten Tropfen“ leerte, ich durfte es nicht, weil ich stets gehalten sein würde, Dinge zu tun, die ich nicht verantworten konnte und durfte.

Diese Einsicht gewann ich endgültig während der erwähnten Romfahrt. Die Wochen, die ich trotzdem noch in der Vereinigung verblieb, nicht zuletzt deshalb, weil ich intensiv prüfen woll­te, ob meine Kritik richtig war oder nur eine sublime Weise der Selbstrechtfertigung dar­stellte, bestätigten mir die Berechtigung und Notwendigkeit der Kritik. Die Denkmuster waren zerbrochen, und ich sah alles, was in der Vereinigung geschah und in den Ausbildungs­vorträgen vorgestellt wurde, mit anderen Augen und in einem anderen Licht. Was ich schon länger erahnt hatte, zeigte sich mir nun in aller Deutlichkeit: eine er­schre­ckende und schreck­liche Wirklichkeit. Die Leiter bemühten sich sehr darum, deutlich zu machen, daß ich mich mit meiner Kritik nicht nur gegen das Opus Dei wende, sondern mich auch außerhalb der Kirche stelle, die alles, was der „Geist des Werkes“ sei, bis in alle Einzel­heiten hinein als von Gott kommend anerkannt und approbiert habe. Ich antwortete darauf, daß ich mir das nicht vor­stellen könnte. Ich wolle die Dokumente der Approbationen, vor allem das sogenannte „Ius peculiare“ (das spezielle, interne Recht), das angeblich approbiert worden sei, endlich einmal sehen. Sehr wahrscheinlich würde es von dem, was Escrivá de Balaguer bis in alle Einzelheiten festgelegt hat, erheblich abweichen und vieles, was angeb­lich von Gott gewollt wäre und in der Vereinigung praktiziert werden muß, nicht enthalten. Durch meine Mitarbeit am „Apostolat der öffentlichen Meinung“ wußte ich, wie sehr die Außen­darstellungen des Opus Dei sich von der Wirklichkeit unterscheiden. Auch wußte ich, wie wenig das, was Escrivá de Balaguer in der Interviewsammlung „Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer“ dargestellt hat, die Wirklichkeit der Vereinigung wiedergibt. Vieles wird in diesem Buch ver­schwiegen, und eine Reihe von Aussagen des Gründers laufen der Wahr­heit direkt zuwider.

Der Leiter des „Studienzentrums“ meinte auf diese Bitte hin, daß ich die Dokumente gerne einsehen dürfe. Nur müsse ich mich noch etwas gedulden. Ich hätte augenblicklich einen derart „kritischen Geist“, der das Resultat eines Mangels an Innenleben und „übernatürlicher Sicht“ sei. Wenn ich persönlich wieder mit Gott ins Reine gekommen wäre, wolle er mir das Gewünschte geben. Doch gab ich in dieser Frage nicht nach. Der Leiter verwies mich darauf­hin an die Kommission. Die Texte der von mir geforderten Dokumente seien im Studien­zentrum nicht vorhanden, wohl aber in der Kommission. Ich solle das erwähnte Mitglied der Kommission darum bitten, sie mir zur Einsicht zu geben. Am nächsten Tag arbeitete ich wie­der im Haus der Kommission und wandte mich sogleich an X. Dieser tat sehr überrascht. Selbstverständlich seien die Texte im Studienzentrum vorhanden. Er könne mir die Texte natür­lich geben, doch sei es für mich wohl bequemer und effektiver, wenn ich sie im „Stu­dien­zentrum“ in aller Ruhe durchgehen könnte. Wieder ins Althaus zurückgekehrt, teilte ich dies dem Leiter mit, der seinerseits sehr überrascht tat. X. irre sich, die Texte seien im „Stu­dien­zentrum“ nicht vorhanden.

Nur kurz sei erwähnt, daß ich mich auch nach meinem Austritt aus dem Opus Dei um Einsicht in die Texte der Approbationen und vor allem des „Ius peculiare“ bemüht habe. Im Mai 1980 schrieb ich in diesem Anliegen das erste Mal an den Consiliarius des Opus Dei in Deutschland. Auf meinen Brief nach Köln erfolgte eine Antwort aus Bonn. Der Priester des Studienzentrums teilte mir mit, er sei vom Consiliarius beauftragt worden, sich mit mir in meinem Anliegen in Verbindung zu setzen. Wann wir uns denn bei mir einmal treffen könnten; er brächte Entsprechendes mit. Entsprechendes entpuppte sich dann als eine Arbeit eines Opus-Dei-Mitgliedes, die sich aus der Sicht des Kirchenrechts mit den Säkularinstituten befaßte.[17] Die von mir geforderten Texte könne er mir leider nicht zur Einsicht vorlegen, da das „Ius peculiare“ auf Grund päpstlicher Anordnung Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ vom 6. 8. 1966 überarbeitet würde, um es den Bestimmungen des II. Vatikanischen Konzils anzu­passen. Mein Einwand, daß doch das Bisherige, eventuell mit Zusatzbestimmungen, weiterhin gelte und deshalb auch einsehbar sein müsse, ehe die Über­arbeitung nicht abgeschlossen und die mir eventuelle Neufassung des „Ius peculiare“ nicht approbiert sei, blieb unbeantwortet. Am 31. 3. 1981 schrieb ich ein weiteres Mal an den Con­siliarius. Ich wiederholte meine Bitte, betonte, daß mir mit Literatur von Opus-Dei-Mit­glie­dern selbstverständlich nicht gedient sei, und legte meine Auffassung dar, daß das bisherige „Ius peculiare“ solange Gültigkeit besitze, bis ein neues in Kraft getreten sei. Diesen Brief verschickte ich per Einschreiben. Daraufhin erreichte mich ein vom 3. 4. 1981 datierter Brief des Consiliarius: Er habe gehört, daß ich ihm einen eingeschriebenen Brief gesandt habe. Da er, als der Brief ankam, nicht zu Hause ge­we­sen sei, liege dieser nun beim Postamt. Fast schon hätte er ihn abgeholt, doch da sei ihm die Frage gekommen, wieso ich ihm denn per Einschreiben geschrieben habe. Wir kennten uns doch gut - wovon keine Rede sein kann – so daß ich nicht auf solche Förm­lichkeiten zurück­zugreifen brauchte. „Du kannst mir also jeder Zeit normal schreiben, oder Du kannst mich anrufen, ich stehe gern zu Deiner Verfügung, falls Du ein bestimmtes An­liegen hast.“ Am 9. 4. kam der eingeschriebene Brief ungeöffnet wieder zurück. Am 6. 4. hatte ich, versehen mit einem Begleitbrief, dem Consiliarius eine Fotokopie meines Briefes vom 31. 3. geschickt – diesmal nicht eingeschrieben. In seiner Antwort vom 22. 4. 1981 schrieb der Consiliarius, daß er dem, was mir seinerzeit der Priester des „Studienzentrums“ mitgeteilt habe, nichts hinzu­zufügen habe. Das „Ius peculiare“ befände sich in Überarbeitung und „es dürfte eigentlich selbstverständlich sein, daß man in ein schwebendes Verfahren nicht eingreift.“ Er beschloß seinen Brief: «In diesen Tagen erscheint die 3. Auflage der „Ge­spräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer“. Dieses Buch hat nichts an Aktualität verloren: was den spezifischen Geist des Werkes und seine Auswirkung auf Tun und Handeln der Mit­glieder betrifft, so findest Du dort das Entscheidende dazu gesagt.“

 
Maria Angustias Moreno schreibt: „Ja, das Werk hat Konstitutionen. Die schriftlichen Kon­sti­tutionen, die der Heilige Stuhl von jeder religiösen Vereinigung fordert, die approbiert werden soll, und auf denen eigentlich die Anerkennung beruht. Diese Konstitutionen genau zu ken­nen, haben die Mitglieder des Werkes, wie es scheint, keinen Grund. Sie sind in Latein ge­schrie­­ben, und man übersetzt sie nicht. Die Mitglieder haben sie nie gelesen. Nur ein Auszug, eine Zusammenfassung – nach ich weiß nicht welchen Kriterien angefertigt – ist zu sehr be­grenzten und festgelegten Zeiten und Bedingungen für die Mitglieder zugänglich: es handelt sich um den Katechismus des Werkes, ein Büchlein, das von den internen Druckereien her­aus­gebracht nur unter Kontrolle und immer von den Leitern überwacht benutzt werden darf  (und das vor einigen Jahren wieder zurückgezogen wurde); niemand durfte es auch nur vier­undzwanzig Stunden auf seinem Zimmer haben; jeden Abend sammelten sie die Exem­plare ein und zählten sie sorgfältig nach. Im Durchschnitt hatten die Mitglieder – nicht alle – 28 Ta­ge im Jahr – die Dauer ihres „Jahreskurses“ – Zugang zum Katechismus – und dies nicht ein­mal in jedem Jahr. Allein in der Zeit, in der ich dem Werk angehörte, wurden drei ver­schie­dene Auflagen des besagten Katechismus herausgegeben: in jeder gab es Punkte, die sie kürz­ten oder erweiterten oder auf eine völlig neue Weise erklärten, so wie es ihnen paßte. Und das, obwohl es, wie es hieß, eine Zusammenfassung der einzigen approbierten Kon­sti­tu­tionen war, die, zumindest meinem Wissen nach, niemals einer Revision von seiten der Kirche „unterzogen worden sind.“[18]

Die letzten Wochen meiner Mitgliedschaft waren wiederum durch zahllose Gespräche mit verschiedenen Leitern bestimmt, die mich davon zu überzeugen suchten, daß ich dabei sei, mich unglücklich zu machen und dem Willen Gottes zuwiderzuhandeln. Auf den Vorschlag des Mitgliedes der Kommission hin hielt ich noch bis zum Pfingstsonntag eine „Novene zum Hl. Geist“, mit der ich um Klarheit bat. Am Pfingstsonntag wollte ich eine endgültig Ent­schei­dung treffen und traf sie. An diesem Tag besprach ich mich mit meinen Eltern und teilte ihnen zu ihrer Überraschung wie Freude mit, daß ich zu der Auffassung gelangt sei, daß das Opus Dei nicht mein Weg sei und daß ich wohl im Lauf der Woche wieder zu Hause einziehen wer­de. Am Abend des 5.Juni hatte ich noch ein langes Gespräch mit dem Leiter des „Studien­zen­trums“, am darauffolgenden Mittwoch noch ein weiteres mit dem Mitglied der Kommission. Dieses Ge­spräch stellte für mich gleichsam noch eine Pflichtübung dar, da ich X. im Februar 1979 hatte in die Hand versprechen müssen, keine meinen Lebensweg betreffende Entschei­dung zu fäl­len, ohne mit ihm vorher Rücksprache zu nehmen. X. betonte, daß es ihm letztlich unwe­sent­lich erscheine, ob ich Mitglied des Opus Dei bleibe oder nicht, das einzig Wesent­li­che sei, daß ich nicht in die Hölle käme. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er mich, wenn ich das Opus Dei verließe, in dieser Hinsicht für besonders gefährdet hielt. Außerdem sagte er, daß es ihm unverständlich sei, woher ich die Unverfrorenheit und den Stolz beziehe, entgegen der Auf­fas­sung aller meiner Leiter zu meinen, daß ich im Recht sei.

 

Am Nachmittag des 6. 6. 1979 schrieb ich den Brief an den Generalpräsidenten. Mit dem Lei­ter des „Studienzentrums“ kam ich überein, daß ich am nächsten Vormittag meine Sachen zu­sammenpacken sollte und zwar so, daß die anderen Mitglieder der Vereinigung nichts von mei­­nem Weggehen bemerken würden – darauf legte der Leiter besonderen Wert. In aller Schnel­le mußte ich dann am nächsten Tag packen. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Leiter, in dem er mir sagte, daß es wohl selbstverständlich sei, daß ich von nun an kein „Zent­rum“ des Opus Dei mehr betreten dürfe, fuhr mich der Sekretär des „Studien- Zent­rums“ nach Hause. Während der Fahrt wechselten wir miteinander kaum ein Wort.

 

Entgegen aller Voraussagen habe ich meinen Austritt aus dem Opus Dei niemals bereut; nicht zuletzt deshalb nicht, weil mir mein Austritt immer als ein Weg in den Glauben und in die Kir­che, und nicht umgekehrt, erschienen ist. Je mehr ich Abstand von der Vereinigung ge­wann, desto deutlicher wurde mir die Richtigkeit meiner Überzeugung, daß ich das Opus Dei nicht nur verlassen durfte, sondern auch verlassen mußte, und daß ich es nicht hätte ver­ant­wor­ten können, in ihm zu verbleiben. Von Anfang an war mir klar, daß ich mein Wissen um die Innenseite des Opus Dei nicht für mich behalten dürfe. – Einem lange gehegten Wunsch folgend begann ich zum Wintersemester 1979 mit dem Studium der Theologie, behielt das Studium der Philosophie aber bei.


Die Zahl derjenigen, welche die Vereinigung wieder verlassen, ist verglichen mit anderen religiösen Vereinigungen wohl ungewöhnlich hoch. Genaue Zahlen lassen sich jedoch nicht angeben, da die Vereinigung bemüht ist, den Austritt eines Mitgliedes auch den anderen Mit­gliedern gegenüber möglichst geheimzuhalten. Die Mitglieder eines „Zentrums“ erfahren in der Regel erst dann von dem Austritt eines „Bruders“ bzw. einer „Schwester“, wenn sie sich über die Abwesenheit eines Mitgliedes wundern und beim Leiter nachfragen. Nur die­jenigen ehemaligen Mitglieder werden einem Schwankenden als warnende Beispiele vorge­halten, von deren Austritt er schon wußte. Man kann aber wohl davon ausgehen, daß zu­min­dest in Deutsch­land ungefähr 35 – 50 Prozent der Mitglieder die Vereinigung wieder verlassen haben.

Die Gründe, weshalb jemand das Opus Dei verläßt, sind durchaus unterschiedlich. Durchaus unterschiedlich ist auch die Weise, wie das einzelne ehemalige Mitglied seine Mitgliedschaft in der Vereinigung verkraftet. Vielen gelingt es nur sehr schwer oder gar nicht, sich von den oft über aus Jahre hinweg eingeimpften Denkmustern und -schemen zu lösen. Sie werden von großen Schuldgefühlen gequält, sind in ihrer Mentalität und Persönlichkeit gebrochen und fin­den sich kaum noch außerhalb des Opus Dei zurecht. Nach ihrem Austritt aus der Ver­ei­ni­gung überfällt sie bisweilen eine große Einsamkeit und Leere. Der Kontakt zu den Mitglie­dern des‘ Opus Dei reißt mit einem Mal ab. Diejenigen, mit denen sie oft jahrelang zusam­men­gearbeitet und -gewohnt haben, kennen einen nicht mehr. Man ist ein „Abtrünniger“. Oft habe ich erlebt, wie ehemalige „Brüder“, wenn ich ihnen auf der Straße entgegenkam, mich be­wußt übersahen oder gar ostentativ die Straßenseite wechselten. Diejenigen, die einen weiter­hin grüßten, vielleicht sogar stehenblieben und kurz mit einem sprachen, bildeten immer eine Ausnahme und Seltenheit, in der sich fast durchweg bestätigte, daß die „Brüder­lichkeit“ im Opus Dei eine meist ausschließlich funktionale Gemeinschaft war; daß man sich nie kennengelernt hatte und sich deshalb im Grunde auch nichts mehr zu sagen hat. Die ehemalige Numerarierin Petra H. schreibt: „Nach dem Austritt wird man aus der ‚Familie‘ aus­geschlossen und hat keinen Zutritt mehr (in meinem Fall, wenn man bewußt und nicht aus nervlichen Reaktionen austritt) – vorher wurde ich ignoriert (außer von ganz freundlichen wie Y.), zuletzt noch in einer Übung [an der Universität, K.S.] von meiner ersten Leiterin, die Mühe hatte, immer an mir vorbeizusehen.“ Freilich hat man, wenn man sich reuig zeigt, die Möglichkeit, sich weiterhin von einem Priester oder Leiter leiten zu lassen. Selbstverständlich gibt es auch solche, die von der Richtigkeit ihres Austrittes überzeugt und froh sind, daß es ihnen gelungen ist, das Opus Dei zu verlassen. Gebrochene und in ihrer Persönlichkeit zer­schlagene Menschen finden sich zudem nicht nur unter den ehemaligen Mitgliedern, sondern auch unter denen, die bislang in der Vereinigung verblieben sind.

Alvaro del Portillo, der Nachfolger von Escrivá de Balaguer, schrieb in einem Brief, daß die Vereinigung denjenigen, welche die Vereinigung verlassen hätten, Verständnis entgegen­brin­gen würde. Diejenigen aber, die nach ihrem Austritt aus dem Opus Dei es wagen würden, etwas gegen die Vereinigung zu unternehmen, solle der Fluch Gottes treffen. Welchen Ein­druck ein solcher Satz auf jemanden macht, der jahrelang die Ausbildung und Erziehung im Opus Dei durchlaufen hat, läßt sich von einem Außenstehenden wohl kaum ermessen. Die Wirkung eines solchen oder ähnlicher Sätze sowie quälende Schuldgefühle bei vielen ehe­maligen Mitgliedern sind wohl die Hauptgründe, weshalb im deutschen Sprachraum bislang noch keine ausführlichere Darstellung der Innenseite des Opus Dei von einem ehemaligen Mitglied geschrieben worden ist.

 

SCHLUSSBETRACHTUNG

Es wurde bis hier versucht, eine Reihe von Aspekten der Innenseite des Opus Dei darzustellen und zu beleuchten, wobei mit Innenseite die nach außen kaum sichtbare, allenfalls an bestimmten Symptomen greifbare und durch die Selbstdarstellungen des Opus Dei verdeckte Realität der Vereinigung gemeint ist. Die Darstellung soll nun durch den Versuch einer Zusammenschau der Aspekte, die deren tatsächliches Zusammenwirken nachzuzeichnen bemüht ist, beschlossen werden.

Gleichsam refrainhaft ist das Opus Dei in seinen Selbstdarstellungen darum bemüht, die Freiheit seiner Mitglieder zu betonen. Solchen Beteuerungen der Freiheit ist entgegen- zuhalten, daß die meisten Mitglieder sich weder in freier Entscheidung der Vereinigung anschließen noch in ihr frei sind. Vielmehr kommt im Opus Dei eine Fülle von Praktiken zum Tragen, von denen jede einzelne schon zumindest problematisch ist. Sie fügen sich aber zudem noch, genau aufeinander abgestimmt, zu einem Ensemble zusammen. (Dadurch wird meist derart massiv und gravierend in die Persönlichkeit und Psyche eines Menschen eingegriffen, daß das Zusammenwirken dieser Praktiken in seinem Effekt mit der unter anderem von den sogenannten Jugendsekten her bekannten „Seelenwäsche“ vergleichbar ist.

Es beginnt damit, daß meist Minderjährige in eine „Entscheidung“ zu einem Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam mit den verschiedensten Methoden, die hier im einzelnen nicht mehr aufgezählt werden sollen, regelrecht hineingedrängt werden. Dabei werden die mit dem Pubertätsalter in der Persönlichkeitsentwicklung gegebene Umbruchssituation, das Erwachen des Bedürfnisses nach emotionalen Bindungen und Geborgenheit außerhalb des Eltern­hauses[19], eine gerade im Jugendalter oftmals gegebene Idealfreudigkeit, Begeisterungsfähig­keit und Hingabebereitschaft gezielt angesprochen und nutzbar gemacht. Den Jugendlichen wird suggeriert, daß sie schon reif genug seien, eine «Entscheidung» zu treffen, zu der ihnen meist die Erfahrungskompetenz und Beurteilungsmöglichkeiten fehlen, und deren Tragweite für sie zum einen deshalb, er zum anderen durch das Verschweigen wesentlicher Dinge oftmals nicht im geringsten absehbar ist. Wer sich zu einer Mitgliedschaft im Opus Dei „entscheidet“, tritt zu dem an, was die Vereinigung als ihr Wesen und ihre Wirklichkeit in ihren für die Öffent­lichkeit bestimmten Selbstdarstellungen vorstellt; was hingegen Realität des Opus Dei ist, steht dazu in einer nicht mit dem Fehlverhalten einzelner Mitglieder hinreichend erklärbaren, sondern grundsätzlichen Divergenz, die den Mitgliedern, zumindest lange Zeit, eigentümlich unbewußt bleibt und nur selten reflektiert ist.

Durch eine schon vor der Mitgliedschaft einsetzende Ausbildung wird versucht, allmählich bestimmte Denkschemen und Gefühlsmuster gleichsam einzuimpfen. Bei denen, die dafür empfänglich sind, wird dabei ein Doppeltes erreicht: Erstens, eine – sicherlich erst an­fäng­liche und ansatzhafte – Isolierung vor allem von den Eltern und Freunden. Die Freunde wer­den zu Objekten apostolischer Bemühungen. Sie erscheinen als solche, die zumindest im religiösen Bereich belehrt werden müssen. Wenigstens auf dieser Ebene scheiden sie deshalb mehr und mehr als gleichwertige Gesprächspartner aus. Zweitens wird eine zunehmende Bin­dung an vermeintliche Autoritäten erreicht: an die Autorität des meist älteren „Freundes“, der anderen Leiter im Opus Dei, an die Autorität des Gründers bzw. des jeweiligen Generalpräsi­den­ten.

Zu diesen Denkschemen gehört ebenso die Herausstellung des Opus Dei als etwas, das allein auf göttlichen Willen zurückgeht und einzigartig vollkommen und heil ist. Demgegenüber wird die Defizienz und Fehlerhaftigkeit der Realitäten außerhalb der Vereinigung her­vor­gehoben, die der Kirche eingeschlossen. Außerdem gehört zu diesen Denkschemen die unter der Voraussetzung von Gehorsam und Treue gleichsam garantierte Verbindung von ewigem Seelenheil mit der Vereinigung, dem dessen Gefährdetsein außerhalb der Vereinigung ent­gegengesetzt wird. Gott erscheint in diesen Denkschemen primär als der Fordernde[20], als der, welcher nicht teilt[21]. Er wird als ein Steinmetz vorgestellt, „der uns die harten Kanten ab­schleift“ und unter dessen unausweichlichen Meißelschlägen der nichtgefügige Mensch zu einem „Haufen Schotter“ verkleinert wird, „über den die Leute verächtlich hinweg­gehen.“[22] Freilich wird Gott auch als der barmherzige, verzeihende und liebende Vater gesehen.

Die „Berufungsfrage“ wird von seiten des Opus Dei gegenüber einem Jugendlichen so expo­niert, als habe dieser – ihm wird die „Berufung“ gleichsam von vorneherein unterstellt – zwi­schen zwei Möglichkeiten zu wählen: entweder in Konsequenz einer Ganzhingabe im Opus Dei glücklich zu werden oder aber unglücklich zu werden als mögliche Folge eines Sich-Ver­weigerns gegenüber Gott, als dessen Wille die Entsprechung in der unterstellten Berufung de­klariert wird. Zudem wird die „Berufungsfrage“ derart aktualisiert, als gelte es „heute und jetzt“ eine unaufschiebbare Entscheidung zu fällen.

Vom Zeitpunkt des Eintrittes in die Vereinigung an beginnt nun erst recht eine nie endende Ausbildung und Formung eines Mitgliedes, mit der schon nach kurzer Zeit dessen völlige Gleichschaltung erreicht wird. Ganz wesentlich ist dabei eine versuchte und meist er­folgreiche Ablösung des eigenen Erkennenes und eine weite Bereiche betreffende „An­nullierung der Erkenntnis“[23] bei gleichzeitiger Bindung an und Unterwerfung unter ver­meintliche Autorität. Damit steht und fällt das System des Opus Dei.

Der Generalpräsident und die mit ihm in Verbindung stehenden Leiter artikulieren für die Mit­glieder des Opus Dei (allein-)gültig den Willen Gottes. Der Gründer bzw. sein Nachfolger und die Leiter wissen dank der „Standesgnade“, „spezieller Gnade“ und der „Gabe des Rates“, was Gott will. Vor allem der jeweilige Generalpräsident erscheint in einer herausragenden, unmittelbaren Bezie­hung zu Gott. Alles, was der Gründer als den „Geist des Opus Dei“ festgelegt hat, geht auf göttlichen Willen zurück, was von der Kirche bestätigt wor­den sei. Die wunderhaften Vor­kommnisse im Leben des Gründers nehmen für die Mit­glieder die Funktion ein, den An­spruch des Opus Dei, ein Werk von Gott zu sein, zu unter­mauern. Die Mitglieder der Ver­einigung sind den Leitern, allen voran dem Generalpräsiden­ten, zu einem unbedingten, blinden Gehorsam verpflichtet, der aus verschiedenen Gründen höchst fraglich ist. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich betont, daß es nicht darum geht, den möglichen Wert und die Sinnhaftigkeit christlichen Gehorsams in seinen unterschiedlichen Gestalten in Abrede zu stellen. Freilich wird christlicher Gehorsam immer in einer Spannung zwischen einer versuchten, auch zeichenhaften, Radikalität der Nach­folge und Verfügbarkeit und einer notwendigen Eigenerkenntnis und Eigenver­ant­wor­tung stehen, die der einzelne nicht abgeben und aufgeben darf. Dabei besteht die Schwie­rigkeit, diese Polarität zu wahren und nicht durch eine einseitige Betonung des einen das andere auszuhöhlen oder gar zu eliminieren. „Wir wissen, daß viele Meister des geistlichen Lebens den Gehorsam empfohlen haben. Aber wir wissen auch, daß diese Meister ebenso großen oder noch größeren Nachdruck auf die Er­kenntnis gelegt haben.“[24] Es darf wohl davon ausgegangen werden, daß die Schwierigkeit der Spannung zwischen Gehorsam und not­wendiger Eigenerkenntnis wie Eigenverantwortung in einer gewissermaßen überschaubaren Welt hinter den Klostermauern eines beschaulichen Ordens sich anders und vielleicht auch nicht in der Schärfe stellt wie für eine Gemeinschaft, die sich mitten im Alltags- geschehen der Welt um ein Leben der „evangelischen Räte“ be­müht und deren Mitglieder beispielsweise im Berufsleben stehen und unter anderem dort Ver­antwortung tragen.[25]

Zweifellos bedarf es für jemanden, der sich zu einem Leben der „evangelischen Räte“, welche Form dies auch immer haben mag, gerufen meint, einer verantwortlichen wie verant­wort­ba­ren, freien Entscheidung. Diese hat sowohl einen gewissen Abschluß der Persönlich­keits­ent­wicklung als auch eine umfängliche Kenntnis der zur Entscheidung stehenden Lebensform wie auch eine eingehende Prüfung der Eignung zu dieser Lebensform zur Bedingung ihrer Mög­lichkeit. Davon kann im Opus Dei - zumindest, was die Numerarierberufungen anbelangt – wohl keine Rede sein. Viele werden als Minderjährige zu einer Lebensentscheidung ge­drängt in einer Phase noch völlig unabgeschlossener Persönlichkeitsentwicklung und –ent­faltung und in Unkenntnis von Wesen und Wirklichkeit dessen, wozu sie sich zu „ent­schei­den“ haben. Solchen „Entscheidungen“ wird damit von seiten des Opus Dei der Charak­ter der Endgültigkeit aufgeprägt. Sie werden somit einer gewissen Vorläufigkeit benommen, was zur Folge hat, daß die Mitglieder der Mög­lichkeit einer eingehenden, jahrelangen Prüfung beraubt werden, die Kritik im weitesten Sinn von Beurteilung zur Voraussetzung hat. Die neuen Mit­glieder werden stattdessen auf einen blinden, ausschließlich personenbezogenen Gehorsam eingeschworen. Nur scheinbar kennt dieser eine Ebene sachbezogener Kritik, nämlich den hypothetischen Fall einer Aufforderung zur Sünde. Dessen Möglichkeit wird aber von vorneherein als im Grunde ausgeschlossen hingestellt.[26] Zudem stehen dazu keine anderen Beurteilungskriterien zur Verfügung als jene, welche die Personen vorstellen, denen der Gehorsam geschuldet wird.

Die Ablösung der Erkenntnis verbunden zudem mit einer eben fast völligen Beschneidung der Erfahrungsmöglichkeiten durch Fernhalten beinahe aller vermeintlicher Fremdeinflüsse stellt eine Festschreibung und Einbindung in eine Gruppen- und Autoritätsmoral dar. Für Minder­jährige bedeutet dies eine Festschreibung einer „vorpersonale(n) Orientierung an internalisier­ten Verhaltensschemata“[27] Eine ansonsten in der Persönlichkeitsentwicklung nur vorüber­gehende Phase wird damit zementiert und die Persönlichkeitsentwicklung als solche unter- bzw. abgebrochen. Bei denen, die, schon etwas älter, sich der Vereinigung anschließen, wird eine gewissermaßen schon entwickeltere Persönlichkeit reduziert und gleichsam auf eine „vorpersonale Stufe“ zurückgedrängt.


„Erfahrung ist nur dort kompetent, wo sie nicht auf autoritärer Interaktion beruht, sondern sich in der Möglichkeit kritischer Reflexion behauptet. Autoritäre Instanzen und  konfor­mis­tische Gruppen mißtrauen daher der Spontaneität der Erfahrung und versuchen die Erfah­rungsmöglichkeiten zu manipulieren. Diese Art der Manipulation ist das Kennzeichen von Totalitarismus jedweder Spielart. Erfahrungskompetenz kann, daher nur unter der Voraus­setzung von Orientierungsfreiheit entstehen. Sie bedarf daher der sozialen Ermöglichung, der Selbst­beschränkung ihrer sozialen Bedingungen. Auf der anderen Seite kann sich Erfah­rungs­kom­petenz nicht in völliger Permissivität herausbilden, weil Desorientierung reflektierte und kon­frontierte Praxis ebenso unmöglich macht.“[28] Die Bindung an Autoritäten bei gleich­zeitiger Ausschaltung eigener Erkenntnis und Erfahrung in den Bereichen, auf die sich der Gehorsam bezieht, verbunden mit einer gewissermaßen totalen Kontrolle, der Einschärfung von Denkschemen und Gefühlsmustern, einem völligen Beanspruchtsein durch Aufgaben und Verpflichtungen, das kaum einmal zur Ruhe kommen läßt und Abstand ermöglichte, bewirkt eine Entmündigung des einzelnen zumindest im religiösen und sittlichen Bereich. Den Leitern wird die Fähigkeit zugesprochen, für den einzelnen jeweils konkret den Willen Gottes zu artikulieren. Es wird ihnen somit ein gleichsam unmittelbares Wissen dessen, was Gott will, unterstellt. Dadurch wird im Opus Dei einerseits ein eigenes Lehramt installiert, das in seinem Anspruch die Kompetenzen der kirchlichen Lehrautorität bei weitem zu überbieten scheint. Andererseits wird die Vereinigung durch die Berufung auf die höchste Autorität, nämlich auf Gott, gegen mögliche Kritik immunisiert und schließlich „Gott“ vollständig domestiziert. Dem, der Kritik üben will, wird die vollständige Verfehltheit rationaler Beurteilung der Vereinigung damit begründet daß die „Logik Gottes“ nicht die der Menschen sei. Gleichzeitig meint man, mit eben dieser als nicht nur nicht hinreichend, sondern als in diesem Kontext verfehlt hinge­stellten menschlichen Logik das, was die „Logik Gottes“ darf genannt wird, genauestens erklären zu können. Wer die Vereinigung kritisiert, dem wird ein Mangel an „übernatürlicher Sicht“ bescheinigt, die allein dem Opus Dei gerecht werden könnte. Jede mögliche Kritik an der Vereinigung wird für die Mitglieder auch dadurch immunisierbar, daß sie mithin als „Wider­spruch der Guten“ eingeordnet werden kann [29] und damit nicht ernst­genommen zu wer­den  braucht als Verfolgung durch welche in guter Absicht, aber fehl­geleitet, manche gemäß Joh 16,2 meinen, „Gott einen heiligen Dienst zu leisten“. Mitunter aber auch als Ver­folgung durch Böswillige, die zu Handlangern Satans werden, der in den Mitgliedern „seine großen Feinde“[30] sieht. Tatsächlich erfolgte unwahre Behauptungen über  die Vereinigung erlauben, jede mögliche Kritik diesen gleichzustellen. Jede große kirchliche Vereinigung sei schließlich in ihren Anfangsjahren Kritik und Verleumdung ausgesetzt gewesen. Kritisiert und angegriffen zu werden, gewinnt so für das Opus Dei gleichsam den Charakter eines Gütesiegels und stellt eine weitere Untermauerung der Autorität dar.

 „Schon wieder.. . : Man habe geredet, man habe geschrieben. . .: dafür, dagegen. . .: in guter und in weniger guter Absicht. . . : Halbwahrheiten, Verleumdungen, Lobreden, Überschweng­lich­keiten...: Unsinniges, Zutreffendes... Du Dummkopf! Du Schwachkopf! Wenn du gerade­wegs auf dein Ziel losgehst, Kopf und Herz berauscht von Gott, was kümmert dich dann das Rauschen des Windes, das Zirpen der Grillen, das Muhen, das Grunzen und das Wiehern ringsum? … Überdies . ..‚ das ist unvermeidlich: bringe nicht auf freiem Felde Türen an.“[31]

Die Vereinigung, die sich jeder Kritik entzogen wähnt, beansprucht für sich selbst, letztlich alles und jedes kritisieren zu können und zwar anhand jenes Maßstabes, in deren Besitz sie sich nahezu uneingeschränkt glaubt: das Wissen um den Willen Gottes im Konkreten. Von der Kritik durch die Vereinigung ist im Grunde nichts ausgenommen: auch bischöfliche und päpstliche Entscheidungen nicht. Die Kritik an solchen Entscheidungen hat ihren Grund aber beispielsweise nicht in einem um Verantwortung bemühten Gewissensentscheid, durch den jemand sich mithin zu gegenteiliger Auffassung genötigt sieht, sondern eben in einer ver­meint­lichen Kenntnis des Willens Gottes, in dem mögliche Lehrentscheide der Kirche gleich­sam schon vorweggenommen seien. Gleichwohl gibt es in der Vereinigung auch ein durchaus ernsthaftes Bemühen um Treue und Loyalität gegenüber dem Papst und den Bischöfen. Auf der anderen Seite wiederum stellt sich für den, der die große Divergenz zwischen dem kennt, was das Opus Dei zu sein vorgibt, und dem, was es wesentlich ist, die Frage, inwieweit die Bischöfe und der Papst wirklich um die Innenseite des Opus Dei wissen. Auf die Gutheißun­gen von seiten der Hierarchie der Kirche beruft sich das Opus Dei ständig. Sie nehmen die Funktion einer weiteren Untermauerung seiner Autorität ein. Es fragt sich, ob die Päpste und Bischöfe nicht das Bild, welches das Opus Dei nach außen hin von sich ständig zu zeichnen bemüht ist, gutgeheißen haben, ohne zu wissen, daß die Wirklichkeit des Opus Dei eine ganz andere ist. Es kann wohl davon ausgegangen werden, daß ihnen das meiste dessen, was hier als das Innenseite der Vereinigung dargestellt werden mußte, unbekannt ist.

Das Sendungsbewußtsein der Vereinigung führt diese zu einer Apostolatspraxis, die zumindest ein Doppeltes mit sich bringt: Einerseits führt sie zu einem menschenverachtenden „Seelenhandel“. In diesem wird ein anderer zum apostolischen Objekt degradiert, und der für gut erachtete Zweck läßt beinahe jedes Mittel als gerechtfertigt erscheinen. Zum anderen wird den Mitgliedern des Opus Dei die Freundschaft weitgehend verunmöglicht, sofern sie sich an das halten, was in der Vereinigung vorgeschrieben ist. Dies wiederum ist in Zusammenhang zu sehen mit der Normierung und Beschränkung dessen, was in der Vereinigung „Brüderlich­keit“ genannt wird, und einer fast mit dem Notwendigkeit gegebenen Ent­fremdung der Mit­glieder von ihrem Elternhaus und der rigorosen Beschränkung ihrer Kontakte zu diesem. Dies zusammen führt oftmals zu einer völligen Isolierung des einzelnen (Numerarier-)  Mitgliedes, dessen Bindung und ein gewisses Ausgeliefertsein an die Leiter dadurch noch verstärkt werden. Von der Trias: „die Arbeit heiligen, sich in der Arbeit heiligen und die anderen durch die Arbeit heiligen“ ist im die Verständnis der Vereinigung das Anliegen von Heiligung der Arbeit das eigentliche Spezifikum des Opus Dei und die Möglichkeitsbedingung der Eigen­heiligung und des Apostolates mit dem Ziel der Heiligung anderer. Nicht zufällig wird in der Vereinigung in Ausbildungsvorträgen nach zu dieser Thematik ausgeführt, daß beispielsweise in Deutschland die meisten der wichtigsten Posten in der Gesellschaft bedauerlicherweise nicht von Katholiken wahrgenommen werden. Die Mitglieder werden allgemein angewiesen, durch ihr Arbeiten nach Möglichkeit Stellungen anzustreben, die eine gewisse Multiplika­toren­funktion haben und eine Verchristlichung der Gesellschaft im Sinn des Opus Dei erlauben. Wenn es auch nicht möglich ist, die Vereinigung mit der Tätigkeit eines Mitgliedes des Opus Dei in verantwortlicher Stellung in Politik, Wirtschaft und Kultur im einzelnen ein­fachhin zu identifizieren, so werden die Mitglieder doch allgemein dazu angehalten, solche Stellungen anzustreben und einzunehmen. Zweifellos ist das Opus Dei um eine Durch­dringung von Gesellschaft und Kirche mit dem bemüht, was es seinen „Geist“ nennt.

So zutreffend der Vergleich der in der Vereinigung gehandhabten Praktiken mit denen der sogenannten Jugendsekten auch ist, einer der Unterschiede zu vielen dieser Sekten besteht darin, daß alles in der Vereinigung auf allen Ebenen mit gutem Willen und subjektiv bester Absicht geschieht. Es ist nicht etwa so, daß wie in manchen der Sekten die obersten Leiter der Vereinigung sich den guten Willen der Mitglieder etwa zur persönlichen Bereicherung nutz­bar machten. Es kann wohl ohne Abstriche gesagt werden, daß alle Leiter und jedes Mitglied des Opus Dei unter sehr hohem persönlichem Einsatz und mit größten Anstrengungen und guter Absicht für christlich und als von Gott gewollt erachtete Praktiken verfolgen, die gewissermaßen objektiv inhuman und unchristlich sind. Hier liegt etwas von Tragik.

Daß es dem Opus Dei gelingt, im Gewand einer heute eher selten gewordenen Kirchlichkeit zu erscheinen, mit ebenso angestrebter wie vermeintlicher Treue zur Hierarchie und dem, was diese als Lehre der Kirche vorstellt, verstellte bisher vielen Bischöfen und Päpsten den Blick für das, was die Realität des Opus Dei ist. Das ließ warnende Stimmen, die nicht gefehlt haben, bisher als unwahr erscheinen und nicht ernstnehmen. Das Gewand scheinbarer Kirch­lichkeit, das oftmals verdeckte Auftreten des Opus Dei, die Fülle an Falsch­informa­tionen und der Mangel an Kenntnis über die Vereinigung bewirkten und bewirken eine verhängnisvolle Sorglosigkeit und ein tragisches Zutrauen gegenüber dem Opus Dei bei Eltern und Seel­sorgern. Sie seien eindringlichst gewarnt! An die Verantwortlichen in der Kirche sei appelliert, eine genaue und sehr eingehende Untersuchung des Opus Dei vorzunehmen und dringend notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Diejenigen, die um die Realität der Vereini­gung wissen, seien ermutigt, ihr Schweigen aufzugeben.



[1] Der Weg, Nr. 913.

[2] ebd. Nr. 983.

[3] Anmerkung: Das ist nicht der Fall. Die Gelübde wurden durch ein Vertragsband ersetzt, die Bezeichnung „Mitglied“ (lat. sodalis) durch „Gläubiger“ (lat. fidelis) – ansonsten hat sich weder im Geist noch in der Praxis etwas geändert.

[4] Der Weg, Nr. 944.

[5] ebda. Nr. 62.

[6] ebd. Nr. 755.

[7] ebd. Nr. 754.

[8] vgl. ebd. Nr. 941.

[9] vgl. José María Castillo: "Der Weg" - die Abschaffung der Erkenntnis. Concilium 14 (1978) 588 f.

[10] Der Weg, Nr. 749.

[11] ebda. Nr. 747.

[12] ebd. Nr. 168.

[13] ebd. Nr. 335.

[14] ebd. Nr. 155.

[15] ebd. Nr. 182.

[16] Erst später erfuhr ich, daß die einzelnen Numerariermitglieder in den Sitzungen des „Örtlichen Rates“ stets sehr detailliert durchgesprochen werden und von Zeit zu Zeit sehr ausführliche Beurteilungen über jedes  Mit­glied ohne deren Wissen geschrieben und an die Kommission weitergeleitet werden.

[17] J. Herranz, Die Entstehung der Säkularinstitute.

[18] Maria Angustias Moreno, El Opus Dei, 25/6; im spanischen Text nur Hervorhebung von nunca – nie. – Alvaro del Portillo hat im Dezember 1982 in Aussicht gestellt, daß er die Statuten des Opus Dei nun „allen zuständigen Autoritäten – als erstes den Bischöfen, in deren Diözesen wir arbeiten – zukommen lassen“ werde. „Ich sehe keine Schwierigkeiten darin, sie zu veröffentlichen, das heißt, sie mit der entsprechenden Erlaubnis des Heiligen Stuhls allgemein zugänglich zu machen.» (Geist und Rechtsnormen stimmen überein: Deutsche Tagespost, 10./11. 12. 1982) Ob eine solche Veröffentlichung tatsächlich erfolgen wird, bleibt abzuwarten.

[19] vgl. U. Haldimann: Tages-Anzeiger 11.1.1980, 17.

[20] vgl. K. Doemens, Leserbrief: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.2.1981, 8.

[21] vgl. Der Weg, Nr. 155.

[22] ebd. Nr. 756.

[23] José María Castillo: "Der Weg" - die Abschaffung der Erkenntnis. Concilium 14 (1978) 588.

[24] ebd. 589.

[25] vgl. Hans Urs von Balthasar: Internationale Katholische Zeitschrift 10 (1981) 241.243.

[26] vgl. Der Weg, Nr.617.

[27] D. Mieth, Die Bedeutung der menschlichen Lebenserfahrung, 115.

[28] ebd. 113/4.

[29] vgl. das «Der Widerspruch der Guten» überschriebene Kapitel: S. Bernal, Msgr. Josemarfa Escrivá de Balaguer, 257–272.

[30] vgl. Der Weg, Nr. 924.

[31] ebda.688.