Widmar Puhl

Teufelskreis im Namen Gottes:

Ich war im Opus Dei

 

 

(Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors,

http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2003/imp030807.html )

 


Als Katholik habe ich gelernt, Heilige seien Vorbilder. Sie sollen den Gläubigen einen besonders erfolgversprechenden Weg der christlichen Lebensführung zeigen. Erfolg heißt, in den Himmel zu kommen. Die Kirche lehrt, die Heiligen seien mit Sicherheit schon dort, in der ewigen Gegenwart Gottes. Deshalb empfiehlt die Kirche sie als Fürsprecher, die uns helfen, Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu erlangen - und eben als Vorbilder, die wir nachahmen sollen. Einen davon kenne ich gut. Ich bezweifle nachhaltig, dass dieser Mann sich als Vorbild eignet.

Er heißt Josemaria Escrivá de Balaguer, war Spanier und hat das Opus Dei gegründet.

Ich war zehn Jahre lang Mitglied des Opus Dei. Und ich möchte davon erzählen, wie es dazu kam und warum ich schließlich ausgetreten bin. Zur Heiligsprechung von Escrivá de Balaguer war ich mit einem Fernsehteam in Rom: ein Anlass mich meinen Erinnerungen zu stellen und das Geschen als kritischer Zeitzeuge zu kommentieren.

Samstag, 5. Oktober 2002, vier Uhr Nachmittags: Ich stehe in einer langen Schlange vor der Villa Giulia am Nordrand des Parks der Villa Borghese. Es sind Tausende von gut gekleideten Menschen aus aller Herren Länder. Ihr Ziel ist aber nicht das berühmte Etruskermuseum, sondern die nahe gelegene Pfarrkirche Sant' Eugenio. Und der Sarg von Josemaria Escrivá de Balaguer, der dort seit drei Tagen steht.

Am Straßenrand sehen wir ein überdimensionales Konterfei aus seinen besten Jahren. Wohl mehr als zehnmal zehn Meter groß in Farbe. Die Haare streng gescheitelt und mit dunkler Hornbrille, lächelt er gütig auf uns herab.

Ich schiebe mich vorwärts. Rings um mich herum beten die Menschen still den Rosenkranz, halten Prospekte in der Hand: Prospekte für Devotionalien. Die kleine Gipsbüste kostet 90 , eine größere 125. Es gibt sie auch in Bronze. Jetzt ist es also amtlich. Der Personenkult, der mich zu seinen Lebzeiten schon abstieß, bekommt morgen den allerhöchsten Segen.

Wer war dieser Mann? - Escrivá de Balaguer wurde im Jahr 1902 in der spanischen Kleinstadt Barbastro geboren, nicht weit von der Provinzhauptstadt Saragossa. In der tief religiösen Familie gab es mehrere Priester. Das kleine Textilgeschäft seines Vaters ging bankrott, drei seiner fünf Geschwister starben. Josemaria wurde schwer krank. Seine Mutter pilgerte mit ihm zum Gnadenbild der Muttergottes von Torreciudad, etwa 30 Kilometer entfernt am Rand der Pyrenäen. Dass er überlebte, schrieb sie der Fürsprache Marias zu. Escriva wurde Priester, absolvierte ein Zweitstudium als Jurist und ging zum Schlussexamen nach Madrid. Dort gründete er 1928 mit drei Freunden das Opus Dei, lateinisch das Werk Gottes.

Am 5. Oktober 2002, in der völlig überfüllten römischen Pfarrkirche Sant Eugenio, beherrschen Laien das Bild. Uniformierte Ordner mit Armbinde, Sprechfunkgerät, sanften Gesten und strengem Blick, allesamt jung und weiblich, dirigieren die Menge durch einen seitlichen Kreuzgang vor den Altar. Er ruht auf einem hohlen Marmorblock. Darin steht, hinter Glas, der Gegenstand all der Verehrung. Der Sarg von Josemaria Escrivá de Balaguer.

Werk Gottes: Schon der Name erscheint mir heute als Anmaßung. Die Idee war revolutionär: Früher musste ein Katholik, der eine religiöse Berufung verspürte, Kleriker werden. Er musste sich anderen Klerikern unterstellen, seine Familie verlassen und den Beruf aufgeben. Im Opus Dei ist das anders. Es gibt nur so viele Priester, wie man für die geistliche Betreuung braucht. Die Mitglieder sind meist Laien und bis auf wenige Funktionäre berufstätig. Sie leben unauffällig unter uns, um ihre tägliche Arbeit zu "heiligen". Sie sind fleißig, fromm. diszipliniert, ziemlich leidensfähig und sehr missionarisch. Sie fühlen sich dazu berufen.

Leitungsaufgaben übernehmen die so genannten "Numerarier": ehelose Akademiker ohne persönlichen Besitz, die Gehorsam geloben. Sie leben in Wohngemeinschaften. Zu deren Grundausstattung gehört ein Besuchszimmer, eine Kapelle, ein Priester sowie ein völlig getrennter Verwaltungstrakt für Mitglieder der weiblichen Abteilung, die putzen. kochen und waschen.

Zu jedem dieser Zentren gehören so genannte "Supernumerarier" aus allen Schichten der Gesellschaft. Sie sind meist verheiratet, leben bei ihren Familien und müssen daher nur einen Teil ihres Einkommens abgeben. Ihre Freizeit opfern sie aber fast ganz den Aktivitäten des Opus Dei. Das ist die größte Gruppe. Ihre kinderreichen Familien sind der beste Werbeträger.

Dann gibt es noch "Assoziierte Mitglieder": Diözesanpriester, die das Werk erst nach ihrer Weihe kennen lernen, Witwen, Kranke oder Einzelgänger. Ihr Engagement richtet sich nach einem auf sie persönlich zugeschnittenen Lebensplan. Als Mitarbeiter werden auch Nichtkatholiken und sogar Nichtchristen aufgenommen, die einzelne Ziele des Werkes teilen.

Ich kam aus einer streng katholischen Familie, in der Autorität und Ordnung herrschten. Ich war isoliert, und ich war einsam. Mit 15 lebte ich in einem Bonner Jesuiten-Internat. Wegen seiner Versetzung ins Ausland hatte mein Vater entschieden, mich in "gute Hände" zu geben. Er selbst war dort gewesen und mein älterer Bruder auch, der in Madrid studierte.

Die Jesuiten waren streng, konservativ und altmodisch. Im Internat war ich "der Neue", der erst mal gehänselt wurde. Auch in der Schule gab es Probleme. Ich fing an, rebellisch zu werden, blieb sitzen, lief Mädchen nach, ließ mir die Haare wachsen. Meine Eltern glaubten, sie würden nicht mehr mit mir fertig. Da kam mein Bruder aus Madrid zurück.

Er war dort Mitglied des Opus Dei geworden und gehörte jetzt zur Leitung eines Studentenheims in Bonn. Er bot meinen Eltern an, ich könne zu ihm ziehen. Sie hatten einen guten Eindruck von diesem Haus: es gab eine Kapelle, einen Priester, ein eigenes Studierzimmer und "vernünftige junge Leute". Sonst wussten meine Eltern wenig vom Werk, und ich noch weniger.

Er ließ sich Vater nennen

Nach dem Besuch am Sarg des Gründers laufe ich durch die Menge und fühle mich wie im Zoo. Auf einem Sportplatz neben der Kirche sind Verkaufsstände aufgebaut: CDs mit frommen spanischen Volksliedern. Weil ER sie mochte, wurden sie Familientradition. Spanisch ist die "Familiensprache" des Werkes. T-Shirts mit Josemaría, Rosenkränze, Medaillons, Bücher. Ein Katechismus als Computerspiel für Kinder, mit Josemaría als Comic-Figur: Super Mario mit Priesterkragen. Der gütige Blick der kitschigen Büsten soll väter1ich sein. Er ließ sich "Vater" nennen.

Plötzlich geschieht, was ich erwartet und auch befürchtet habe: Ein Mann in mittleren Jahren ruft meinen Namen, fragt auf spanisch, wo die anderen sind, fällt mir auf südländische Art um den Hals. "Ich muss mir erst einen Überblick verschaffen", sage ich. "Wir sehen uns!" ruft er, winkt und ist schon wieder weg.

Woher kennen wir uns? Barcelona oder Rom? In Rom war ich immerhin sieben Mal während der Karwoche. Mit Hunderten habe ich in der Zentrale die charismatischen Auftritte des "Vaters" erlebt. Wie ein Bischof ließ er sich die Hände küssen und streichelte erwachsenen Männern die Köpfe, die sich dabei wie Kinder benahmen. Dort habe ich mit Studenten fröhliche mediterrane Ostern gefeiert.

Mit 16 war ich Mitglied. Als ich in Bonn das Werk kennen lernte, war ich angenehm überrascht. Für mich zählte vor allem: Es gab im Studentenheim auch einen Jugendclub und tolle Kumpels. In den Ferien durchquerten wir auf dem Fahrrad Irland. In Dublin trafen wir Iren von einem ähnlichen Club. Mit denen spielten wir Fußball, besuchten eine Messe im Clubhaus, sangen Lieder von Donovan und tranken Bier in einem Pub. Es begann alles ganz harmlos. Ich konnte weg von den Jesuiten auf ein staatliches Gymnasium. Ich hatte einen Hausschlüssel und musste nicht mehr um zehn im Bett liegen. Ich genoss die Freiheit.

Niemand regte sich auf, wenn ich ein Bier trank oder rauchte. In der Schule ging es besser. Ich spielte in der Fußballmannschaft des Clubs, arbeitete an einer Schülerzeitung mit, fand eine Freundin und wurde Schlagzeuger einer Rockband; mit der trat ich öffentlich auf. Ich dachte: So also ist das Opus Dei.

Der Priester, bei dem ich beichten ging, schenkte mir ein Taschenkreuz. Das legte ich im Studierzimmer vor mich auf den Tisch, um meine Hausaufgaben in der Gegenwart Gottes zu machen. Ich begann, an einem Kreis zur Vertiefung des religiösen Lebens teilzunehmen. Ich gehörte dazu. Es machte Spaß, fleißig und erfolgreich zu sein. Ich half auch gern beim Ausbau des Clubhauses und bei Renovierungsarbeiten im Studentenheim. Die leitete ein gelernter Anstreicher aus dem Westerwald. Der alte Mann war immer fröhlich und ging jeden Tag nach der Arbeit zur Messe. Meistens nahm er vorher auch an der Betrachtung teil und saß abends noch auf ein Bier mit uns zusammen.

Sein bester Freund war der Leiter des Studentenheims und des Clubs, ein älterer Student. Für mich war dieser Horst ein Mentor. Wöchentlich besprachen wir meine Fortschritte und auch, wie es mir ging. Unmerklich wurde daraus eine umfassende Kontrolle meiner Lebensführung. Ich vertraute ihm.

Ich begleitete Horst, als er den Anstreicher nach Hause brachte. Auf der Heimfahrt sprach er mich auf das Opus Dei an. Er wollte wissen, was ich vom Werk hielte. Meine Antwort war ehrlich. Ich hatte das Gefühl, wieder Freunde zu haben, so etwas wie eine Familie. Schließlich erzählte er, das Werk sei ein Weg zur Heiligkeit mitten in der Welt, und er habe den Eindruck, ich sei dazu berufen.

Ist das Gott?

Ich spüre keine Berufung, sagte ich. Aber das Werk gebe mir einiges. um ein besserer Mensch zu werden. Da antwortete Horst: das ist Gott. Er ruft dich bei deinem Namen. Und dann begann er. mir zu erklären, wie diese Berufung aussehen sollte: ein Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam. Das ist nichts für mich, sagte ich. Ich glaube doch, sagte er.

Wir diskutierten und stritten uns. Er war gut zehn Jahre älter als ich und hoffnungslos überlegen. Er lockte, ich bockte. Er: Gottes Ruf kann man nicht ohne Folgen ablehnen. Ich weinte, weil ich nicht wusste. was Gott von mir wollte und was Horst. Wir vereinbarten, um Klarheit zu beten. In meinem Kopf nicht Erleuchtung, sondern Verdunkelung. Am Ende schrieb ich einen Brief an den "Vater" in Rom, bat um die Aufnahme ins Opus Dei als Numerarier und machte ein Testament zugunsten des Werkes.

Jetzt war ich ein vollwertiges Mitglied der Familie. Mit Rechten, aber vor allem mit Pflichten: Täglich je morgens und Nachmittags eine halbe Stunde Meditation, Besuch der Heiligen Messe. Kommunion, eine Viertelstunde Lesung des Evangeliums und eines anderen geistlichen Buches, zwanzig Minuten Rosenkranz, Mittags um zwölf der Engel des Herrn, mindestens ein kurzer Besuch beim Allerheiligsten in der Kapelle. Dazu zwei Stunden das Tragen des so genannten "Bußgürtels" am Oberschenkel, ein Drahtband mit nach innen gerichteten Stacheln.

Wöchentlich Beichte, Katechismuskreis und Aussprache mit dem persönlichen geistlichen Leiter, familiäres Beisammensein mit erbaulichen Anekdoten aus der Missionsarbeit, dem so genannten "Apostolat". Dazu eine Nacht auf dem nackten Fußboden schlafen und einmal ein Vaterunser lang kräftiger Gebrauch einer Bußgeißel aus gef1ochtenen Schnüren mit eingewirkten Knoten. Das tat ich nur selten.

Monatlich: ein halber Tag der schweigenden Einkehr und ein Tag Familienausflug. Jährlich: Dreitätige Besinnungstage und drei Wochen "Jahreskurs", eine Kombination aus Seminaren in katholischer Philosophie und Theologie mit Erholung. Immer: Abtötung der Sinne, Stoßgebete, Gegenwart Gottes, Fortbildung, Arbeit, Ordnung, Freude. Jawohl: Lebensfreude war eine Vorschrift, eine Norm.

Zweiter Termin in Rom am Vorabend der Heiligsprechung: Besichtigung des Petersplatzes. Am Zugang von der Via della Conciliazione wieder Devotjonalienhändler. In den Kolonaden sind diskret Toilettenhäuschen versteckt. Über dem Hauptportal von Sankt Peter hängt ein riesiges Porträt von Josemaría. Auf der großen Freitreppe davor ein überdachtes Podium für den Papst und Sitzplätze für Ehrengäste. Hölzerne Barrikaden bilden Pferche rings um den Obelisken in der Mitte und die beiden Springbrunnen rechts und links davon. Dazwischen bleiben breite Gänge frei.

Morgen kommt hier ohne Eintrittskarte oder Spezialausweis niemand hinein. Kleine und größere Gruppen von Männer oder Frauen wandern mit Fotoapparaten herum. Sie knipsen die Fassade der Peterskirche im Abendlicht, suchen ihren Platz für morgen. Manchmal eine Widerbegegnung; Menschen, die sich umarmen. Viele Priester. Überall höre ich Spanisch.

Ich werde verkabelt, trage ein winziges Mikrophon im Kragen. Ich soll über den Platz gehen, den Kameramann im Rücken, und bin nervös: Hier kann ich erst recht auf alte Bekannte treffen. Symbolisch laufe ich gegen den Strom, bahne mir den Weg durch mehrere Gruppen, die mir entgegenkommen. Wahrscheinlich teilt sich die Menge vor mir, weil die Menschen die Kamera hinter mir sehen und höflich Platz machen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich anstarren, als hätte ich die Pest oder ein Kainsmal auf der Stirn.

Plötzlich passiert es: Eine entgegenkommende Gruppe verstellt mir die Sicht nach vorn, und wie ich vorbei bin, steht Christoph nur wenige Meter vor mir. Der Medizinstudent von einst, der Freund meiner Kölner Studienzeit ist heute Priester. Zuletzt haben wir uns vor fünf Jahren gesehen, bei der Totenmesse für meinen Bruder, der an einer seltenen Nervenlähmung starb. Danach hatte Christoph mich umarmt, als wäre nie etwas gewesen. Heute erscheint mir das unpassend zu sein. Doch wieder strahlt er mich an, grinst übers ganze Gesicht.

"Wie geht's dir? Was machst du?" Es fällt mir schwer, aber ich will ihm nichts vormachen. "Ich bin nicht aus Begeisterung hier", sage ich ernst zu Christoph, hier auf dem Petersplatz. Ich beobachte das Ganze mit Bauchschmerzen. Als Studenten waren wir beide noch gegen jede Form von Personenkult. Nun sehe ich, wie er sich verschließt. Er bemerkt die Kamera, die mir folgt, reagiert ärgerlich und irritiert, verstummt. Inzwischen ist er der Regionalvikar des Opus Dei in Deutschland, lese ich später in der Zeitung. Der Chef.

Jetzt will er nur noch weg. Das Lächeln ist ihm sauer geworden, der Händedruck zum Abschied verkrampft. Er war kein Feingeist, aber ein guter Kumpel. Ich erinnere mich an Medizinerwitze, robusten Fußball, feuchtfröhliche Abende. Er tat mit blindem Eifer, was man ihm sagte. So will es das Werk. Als wir Examen machten, war er mein Leiter im Studentenheim. Irgendwann haben sie ihn nach Rom ins Priesterseminar gerufen.

Als ich ins Werk eingetreten war, musste ich mich von meiner Freundin trennen

Horst sagte: Lad' sie zu einem Eis ein und erklär's ihr! Es kann nicht sehr überzeugend gewirkt haben. Nicht weil ich Gott wirklich so sehr liebte, sondern um zu gehorchen, sagte ich: Ich liebe dich, aber Gott liebe ich noch mehr, deshalb können wir uns nicht mehr sehen. Wochenlang waren wir beide krank vor Kummer. So etwas ist eigentlich nicht zu begreifen, vor allem wenn es einer sagt, der das gar nicht will. Was war mit mir geschehen? Abschied auch von der Rockband. Die Band, das war o.k., so lange ich nur Clubmitglied war. Für einen Numerarier des Werkes kam es nicht mehr in Frage.

Im Werk gibt es keine persönlichen Freundschaften. Deshalb wurden wir alle drei Jahre versetzt. Das kappt Bindungen, bevor sie zu eng werden. Und wenn einer austritt, steht er ganz allein da. Freundschaften pflegt man im Werk. ausschließlich als Mittel zu dem Zweck, Mitglieder und Mitarbeiter zu gewinnen.

Auch ich habe Mitglieder angeworben. Die meisten sind aber wieder ausgetreten, nachdem ich ausgetreten war. Meine Leiter waren daher nie zufrieden mit meiner Erfolgsstatistik als Menschenfischer.

Sonntag, 6. Oktober 2002: Die Heiligsprechung von Josemaría Escrivá de Balaguer ist eine Machtdemonstration und Rom eine besetzte Stadt. 300 000 Pilger strömen zum Petersplatz und verstopfen die Via della Conciliazione bis zur Engelsburg. Autofahren ist in Rom immer ein Abenteuer: der mörderische Verkehr und die vielen Einbahnstraßen. Doch jetzt ist es völlig unmöglich, mit dem Wagen zum Vatikan zu kommen. Das ganze Stadtviertel ist hermetisch abgeriegelt, überall Umleitungen.

Um 9 Uhr sind wir da, aber ohne Akkreditierung läuft gar nichts. Mühsam kämpfen wir uns durch zum Vatikanischen Informationsbüro. Dort, an der Südseite des Petersplatzes, ist der Chef seit 1978 ein Mitglied des Opus Dei. Damals wurde der polnische Kardinal Woytila Papst. Bis dahin standen die Päpste dem Werk skeptisch gegenüber. Das änderte sich mit Johannes Paul II.. Der Kardinal aus dem armen Polen genoss mehrfach die großzügige Gastfreundschaft des "Vaters" und war früh begeistert von ihm - vor allem von seiner Marienverehrung. Er kannte die Auftritte des "Vaters" bei Massenversammlungen durch Filme. Sie wurden in Rom, Spanien oder Südamerika gedreht: unheimliche Dokumente der Indoktrination und des Personenkultes.

Dieser Mann hatte zweifellos eine enorme Ausstrahlung. Wir hatten den Auftrag, dem Papst einen Brief zu schreiben, die Heiligsprechung des "Vaters" zu fordern und solche Briefe auch von Freunden und Verwandten zu besorgen. Wir haben gehorcht.

Die Zeremonie beginnt um 10 Uhr. Die Menschen auf dem Petersplatz kennen keinen Zweifel. In meiner Nähe ein zugleich rücksichtsloses und diszipliniertes Gedränge. Die fromme Ekstase erreicht den Höhepunkt, als der Papst nach einer Stunde der Lobeshymnen die liturgische Formel spricht: "Kraft meines Amtes erhebe ich Josemaría Escrivá de Balaguer zur Ehre der Altäre". Freudentränen, Applaus. Ich fühle mich wie im falschen Film.

Am Ende der nachfolgenden Messe schwärmen Hunderte von Priestern aus, um den Gläubigen die Kommunion zu spenden. Hinter jedem ein junger Mann im Anzug, der einen weißen Schirm über ihn hält. Mit andächtiger Geduld stehen die Menschen Schlange und empfangen die geweihte Hostie mit dem Mund. Das Opus Dei lehnt die Handkommunion ab.

Misstrauen, Gängelung, Kontrolle

12 Uhr: Langsam zerstreut sich die Menge. Wie durch ein Wunder ergattern wir einen Tisch in einem Restaurant, bevor die spanischsprachige Invasion uns überrollt. Dann stehen wir anderthalb Stunden mit der schweren Ausrüstung an einem Taxiplatz. Die frommen Damen und Herren sind erschöpft. Hier ist sich jeder selbst der Nächste, kennt keine Spielregeln mehr, keine Rücksicht auf Alte und Behinderte. Der ganz normale Alltag ihrer Nachfolge Christi. Heilig mitten in der Welt?

Mein "kritischer Geist": ein ständiger Vorwurf meiner Leiter während der zehn Jahre im Werk. Warum diese Gängelung bis hin zur Kontrolle der Lektüre, warum so viel Misstrauen und Geheimniskrämerei? Mehr als einmal dachte ich an einen Ausstieg. Doch ich wusste nie, wohin ich dann hätte gehen sollen, und ließ mich ebenso oft wieder einfangen.

Zunehmend empfand ich den Spagat zwischen "internen Verpflichtungen" und den Anforderungen meines Berufs als wirklichkeitsfremde Zumutung. Als ich die Frau kennen lernte, mit der ich inzwischen 25 Jahre verheiratet bin, wollte man uns auseinander bringen. Aus familiärer Fürsorge wurden massiver Druck, der Einsatz schwerer Beruhigungsmittel, Telefonterror und Intrigen. Fast hätten sie es geschafft. Nur durch Freunde fanden wir wieder zusammen.

Bei meinem Ausstieg war ich 26. Ich besaß zwei Koffer mit Kleidern und Büchern. Meine Ersparnisse hatte man mir gelassen, davon konnte ich ein paar Monate leben. Den alten VW, den ich für meine Arbeit brauchte und den ich allein bezahlt hatte, war ich los. Ich konnte nichts dagegen tun: Weil ich ohne persönlichen Besitz gelebt hatte, standen in den Fahrzeugpapieren die Namen meiner Leiter. Mein Onkel, ein Arzt, war entsetzt über die Beruhigungsmittel, die ich auf Anweisung eines Arztes vom Werk zu nehmen begonnen hatte, und setzte sie vorsichtig ab. Ich war wieder frei, aber noch lange tief verletzt.

Gegner bezeichnen das Werk als katholische Mafia oder reaktionäre Vereinigung fanatischer Fundamentalisten. Seine Anhänger halten sich nur für "gut katholisch". Mit Leib und Seele, Hab und Gut dienen die Mitglieder einer Organisation, die sich jeder demokratischen oder kirchlichen Kontrolle entzieht. Sie verbrauchen sich für Ideale, von denen einige zweifelhaft sind. Sie haben aufgehört, selbständig denkende, kritische Wesen zu sein. So lassen sie sich missbrauchen und manipulieren. Sie bieten dir Halt, wenn du welchen suchst. Und sie nehmen dir erbarmungslos jeden Halt, wenn du versuchst, dich wieder auf eigene Füße zu stellen.

Der Bericht von Widmar Puhl wurde im SWR (II) am 6.11.2003 gesendet (Sendung Eckpunkt).