Neun Jahre nach meiner Anwerbung
als Numerarier
Tomás Price Elton, 23. Juli 201
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diese Geschichte erzählen soll. Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll, aber ich werde mein Bestes versuchen. Vor einem Jahr bin ich zum ersten Mal auf diese Webseite gestoßen und habe mehr als einmal daran gedacht zu schreiben, und nun habe ich es schließlich getan. Es würde mich nicht wundern, wenn eine große Zahl anderer ehemaliger Mitglieder diese Seite kennen und sich, so wie ich, nur nicht aufraffen konnten zu schreiben. Vielleicht sind die Zeugnisse schon ausreichend, aber eines mehr kann nie zu viel sein, und vielleicht kann es ja jemand anderem helfen.
Es war eine große Überraschung, diese Seite zu entdecken, denn ich habe mich mit den Geschichten vieler von euch sehr gut identifizieren können, obwohl ich nur ein Jahr drinnen war, zweifellos das schlimmste Jahr meines Lebens, und es hat mich bis heute gezeichnet. Ich habe schon immer gehört gehabt, dass viele gegangen sind, aber die Dimension dessen, was wir erlebt haben, konnte ich mir niemals recht begreiflich machen. Was mich am stärksten berührt hat, waren die Bücher von María del Carmen Tapia und María Angustias Moreno, und es hat mir klar gemacht, dass ich zwar nur ein Jahr lang dabei war, dass es mir aber sehr lange vorgekommen ist und dass ich durchaus auch mein Mosaiksteinchen zu dem beitragen kann, was die, die weggegangen sind, bisher bezeugt haben. Ich möchte meine Geschichte nicht in allen Details erzählen, um euch nicht zu langweilen, aber ich möchte die wichtigsten Ereignisse zusammenfassen...
Ich ging in den Jahren 1992 bis 2004 auf das Colegio Tabancura in Santiago de Chile, das vom Opus geleitet wird. Obwohl meine Eltern nicht dem Werk angehören, entschieden sie sich, meine Brüder und mich auf dieses Privatgymnasium zu schicken, das 1970 gegründet worden war, mitten in heftige politischen und sozialen Umbrüchen, wenige Jahre vor dem Militärputsch, als sich Augusto Pinochet selbst zum Präsidenten machte. Es ergab sich, dass in den Zeiten dieser politischen Spaltung in Chile viele Privatschulen mit konservativer Tradition begannen, nach links zu driften. Das war unter anderem beim Colegio Saint George der Kongregation vom Heiligen Kreuz der Fall, und beim Colegio San Ignacio, das von den Jesuiten geführt wird. Viele, die damit befasst waren, beschossen das Colegio Tabancura zu gründen und seine Bildungsarbeit dem Opus anzuvertrauen. Die jüngeren Brüder meiner Mutter waren zum Beispiel in Saint George und wechselten nach Tabancura. Einer von ihnen wurde mit 15 Jahren Numerarier, er lebte etwa 20 Jahre in Rom, in der Umgebung von Echevarría, und ging jetzt nach Hongkong. Und nicht nur er blieb beim Opus hängen: Meine Großmutter mütterlicherseits ist Supernumerarierin, zwei Tanten sind Numerarierinnen, eine ist Assoziierte, eine Supernumerarierin. Meine Mutter und die übrigen vier Geschwister sind nicht dabei.
Gut, die Geschichte ist, dass ich ein ziemlich normales Kind war, ziemlich verrückt, das ja, und man sprach zu mir nicht vom Opus, bis ich etwa 15 Jahre alt war. Vielleicht passte ich nicht ganz in das Profil der Kinder, für das sie sich interessierten: Ich begehrte auf, und ich tat mich auch nicht durch meine Leistungen hervor. Aber dann fing ich zu lernen an und wurde ein ziemlich guter Schüler. Seit zwei Jahren sang ich im Chor der Schule (als Sopran, ja) und verstand mich mit dem Chorleiter ziemlich gut, einem Numerarier, der, glaube ich, die Kreise für meine Klassenkollegen abhielt. Dann, nach dem achten Grundschuljahr, luden sie mich zu einigen Arbeitseinsätzen im Sommer ein. Ich war begeistert, und der Lebensplan, den ich da kennen lernte, beeindruckte mich. Von Kindheit an war ich sehr fromm (das ist ein Detail, auf das sie im Opus große Wert legen), aber auch sehr skrupulös, vor allem in Bezug auf die Sexualität (eigenartig, nicht?). Schließlich begann mich die Lebensform, die ich da kennen lernte, zu begeistern. Ich kam nach Hause und erzählte meiner Mama, was ich Tolles erlebt hatte. Noch hatte ich keine Ahnung, was ich mir da aufhalsen sollte. Gut, ich kam aufs Gymnasium, und aus eigenem Antrieb ging ich jeden Mittwoch zum Kreis, nachdem sie mich einmal eingeladen hatten, und zu den Betrachtungen am Freitag. Alles war gut, bis sie mich einluden, an den Samstagen an der Katechese teilzunehmen. Da begannen bei meiner Mama die Alarmglocken zu schrillen, und sie fragte mich, ob ich nicht der Ansicht sei, dass ich zu viel Zeit mit dem Opus verbringe. Ich hatte mir diese Frage noch nicht gestellt, denn ich war mit Feuereifer dabei; aber ich begann mich doch auch ein wenig mulmig zu fühlen.
Wenige Wochen später begann ich bei einer Konvivenz auf dem Feld eines Freundes ein Gespräch mit einem Numerarier, den wir alle bewunderten, weil er Karate konnte. Er stellte mir die Routinefrage, die bei ihnen üblich ist wenn sie Schüler verführen wollen: Ob ich mir schon Gedanken gemacht habe, zu welchem Zweck mich Gott erschaffen habe, und alles das mit der Berufung, natürlich. Ich dachte mir, dieser Typ hat recht, und ich begann in meinen Kopf Pirouetten zu schlagen: Mein Papa war Agnostiker, meine Brüder Atheisten – und ich hatte die Mission, sie zu bekehren. Die Dinge nahmen ihren gewohnten Verlauf. Im Sommer kam mein bester Freund, der ein Jahr älter war als ich und bereits Aspirant [siehe unten] des Opus Dei, auf mich zu und begann über meine Berufung zum Opus zu sprechen. (Am 19. März des folgenden Jahres erfuhr ich, dass er mich auf die Liste der Beitrittskandidaten gesetzt und sich verpflichtet hatte, mich zum Aspiranten zu machen. Dann kam mein zuständiger Direktor (der Leiter des Chores), später der Priester. Schließlich, bei all dem, was mir ohnehin schon durch den Kopf ging, glaubte ich ohnehin schon eine messianische Sendung zu habe. Ich war weichgekocht.
Wieder in Santiago, beschloss meine Mama den Stier bei den Hörnern zu packen und fragte mich direkt, ob sie mich auf die Berufung angesprochen hätten. Ich war bestürzt und sagte nein, aber es ließ mir keine Ruhe, und ich beschloss es mit dem Direktor und dem Priester zu besprechen. Aber, welche Überraschung, sie sagten mir, ich solle es abstreiten, weil die zuhause es nicht verstehen würden … Meine Mama wusste freilich schon, wie der Hase läuft; es reichte ihr schon zu wissen, dass ihr jüngerer Bruder mit 15 Jahren beigetreten war, und mit so vielen Mitgliedern in der Familie wusste man schon, woran man war.
Von da ab begann das schlimmste Jahr meines Lebens. Ich war 15, wurde gedrängt Aspirant zu werden, konnte aber andererseits mit keiner Unterstützung von Seiten meiner Eltern rechnen, und es war sehr hart zu sehen wie sie um jeden Preis vermieden, dass sie mich „einfangen”. Einerseits meinte ich, dass ich eine ganz besondere Berufung hätte (ich war aber natürlich auch völlig konfus), und andererseits musste ich meinen Eltern gehorchen, die mit dem Priester sprachen, dass er aufhören solle auf mich Druck auszuüben, und sie erlaubten mir lediglich, mittwochs zum Kreis zu gehen. Bis der Tagt kam (wenn ich mich recht erinnere, ein 4. August, der glücklichste Tag meines Lebens...) an dem ich die berühmte Karte an den Regionalvikar schrieb mit der Bitte, mich als Aspiranten aufzunehmen. Ich kam von der Katechesis nach Hause zurück, die ganze Familie saß beisammen ich kam mir sehr schlecht vor, und dann ging ich, ganz kleinlaut, an diesem regnerische Tag in das Zentrum des Opus (Los Montes), an der Grenze zur Depression. Ah, ich habe vergessen, die Schritte aufzuzählen, bevor jemand den Brief schreibt. Es wird euch langeilig vorkommen, denn die Methode ist ja schon bestens bekannt. Aber ich werde sie trotzdem erzählen, um euch daran zu erinnern, wie absurd das alles ist. Der Priester sagte mir, dass ich mit dem Direktor des Zentrums wegen des Beitritts reden solle, bevor ich den Brief schrieb, und ich war alarmiert, denn jetzt wurde es ernst … Schließlich kam der Tag, und ich ging zu dieser Person, um mit ihr zu sprechen, und erfragte mich ob ich bereit wäre mein Leben hinzugeben, und ob ich mir bewusst wäre, dass man mich morgen nach Japan schicken könnte, und andere Dummheiten dieser Art. Ich war durch den Zuspruch des Priesters und der anderen, die mich bis zu diesem Punkt geführt hatten, ermutigt, zeigte Tapferkeit und bat um die Aufnahme.
Von jetzt an war mein Leben die Hölle. Ich hörte auf, mich mit meinen Freunden von vorher zu treffen und mit Mädchen auszugehen, die Diskussionen mit meiner Mutter wurden immer mühsamer, und angesichts ihres Unvermögens, mich aus all dem herauszuhalten, bestanden zu allem Überfluss der Direktor und der Priester darauf, dass ich meinen Eltern die Wahrheit verheimlichte. Ich erinnere mich außerdem, dass mir der Priester eines Tages ein Zitat „unseres Vaters” zeigte, der versicherte, dass die Eltern, die sich der Berufung eines Kindes zum Opus entgegen stellen, ihr Seelenheil aufs Spiel setzen. Ich war sehr bedrückt und sagte nichts.
Es kamen die Sommerferien, und wie es üblich war, gab es für den Dezember Jobs zu erledigen. Mein Direktor organisierte für mich eine Arbeit im Büro eines Numerariers, der Architekt war. Aber meine Mutter verbot mir hinzugehen, und nach heftigen Diskussionen brach ich in Tränen aus. Jetzt begann die schlimmste Zeit. Ich reduzierte während dieses Sommers die Beziehungen zum Direktor und den Leuten vom Opus. Ich ging nicht zum Telefon, und für einen Monat fuhr ich mit der Familie eines Freundes und anderen befreundeten Familie auf der Autobahn auf Urlaub in den Süden Chiles. Bei all meiner Verwirrung fühlte ich mich doch innerlich frei, und ich kam zu der Überzeugung, dass ich nach meiner Rückkehr nach Santiago meinen Ausstieg aus dem Opus besiegeln wolle. Aber es war umsonst. Mein Direktor überzeugte mich dass ich bleibe solle; und ich blieb...
Tatsächlich lebte ich meine Berufung aber nicht wie die übrigen Aspiranten, denn ich ging weder zu den Betrachtungen noch zur Katechese. Genau erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nicht mehr ob ich jeden Tag in die Messe ging, aber sonst erfüllte ich doch den ganzen Lebensplan (einschließlich der dummen “kalten Dusche” am Morgen), ging weiter in den Kreis und sprach mit meinem Direktor und dem Priester. Eines Tages tauschten sie mir den Direktor gegen den Karateka aus, der ein Numerarier von über dreißig war und im Rahmen des Möglichen gescheiter als die anderen, abgesehen davon, dass er mich hatte pfeifen lassen. Er fragte mich selbst eines Tages, ob ich daran gedacht hätte zu gehen. Ich sagte ja. Sie schlugen mir vor, noch auf das Sommerworkcamp [siehe unten] zu fahren, um darüber nachzudenken, und ich musste mit dem Leiter und dem Priester rede. Ich hatte offenbar große Skrupel, ob ich mein Seelenheil noch erlangen könne, wenn ich das Opus verlassen hätte…
Nun gut, ich bin gegangen. Aber es war danach auch nicht rosig. Die schlimme Erfahrung hat ihre Spuren hinterlassen. Ich habe wieder ein normales Leben geführt, mich mit Freunden getroffen, bin mit Mädchen ausgegangen, aber es hat mir viel Mühe gekostet mich wieder aufzurappeln, ich hatte Depressionen, und die schreibe ich meinem Jahr im Opus und den drei letzten in meiner Schule zu.
Freunde und Freundinnen, ich könnte noch viele Seiten niederschreiben, obwohl ich nur ein Jahr dabei war. Ich habe vieles weggelassen, aber was ich geschrieben habe, ist das, was ich erlebt habe. Ich hoffe, dass ich damit anderen helfen konnte, die in der gleichen Situation sind.
Tomás Price Elton
Erklärungen
Die „Aspiranten“ sind in dieser Form eine Besonderheit des Opus Dei. Nachdem der Ausnahmezustand der ersten Jahre – Bürgerkrieg in Spanien, ein „Kreuzzug“, der an die Traditionen der Reconquista anknüpfte und bei der noch großteils „gut“ katholisch erzogenen bürgerlichen Jugend eine Aufbruchsstimmung erzeugt hatte, die dem damals avantgardistischen Opus Dei die Anwerbung von Studenten und jungen Akademikern als zölibatäre Laienapostel erleichterte – vorbei war und die Anwerbung so vieler Idealisten nicht mehr so einfach schien, verlegte man sich auf die Arbeit mit Jugendlichen. Die Eingliederung in das Opus Dei, die „Admission“, ist jetzt frühestens mit 17 Jahren möglich; vgl. die (de facto) geheimen Statuten, Nr. 20. § 1. lit. 4°: „Es steht dem nichts entgegen, dass der Kandidat schon vorher einige Zeit hindurch als Aspirant gilt, ohne allerdings noch der Prälatur anzugehören“. Diese Bestimmung wird besonders häufig in der gelebten Praxis der Vereinigung dadurch umgangen, dass die „Aspiranten“ über ihren tatsächlichen Status nicht aufgeklärt werden; ihnen wird unter Verweis auf die an sie ergangene „göttliche Berufung“ das begründete Gefühl vermittelt, sie seien schon Mitglieder; dazu kommt, dass großer Druck auf sie ausgeübt wird, an allen Treffen und Bildungsvorträgen der Vereinigung teilzunehmen und auch ihrerseits andere anzuwerben, damit sie sich als Teil des Ganzen fühlen, mit den Zielen identifizieren und sich dritten gegenüber, denen die Anwerbungsversuche gelten, kompromittieren. Erleichtert wird diese Desinformation des Aspiranten durch das strikte Verbot, sich mit Vertrauenspersonen außerhalb des „Werkes“, und seien es auch die eigenen Eltern oder ein katholischer Priester, über die forcierten „eigenen“ Entscheidungen beraten zu lassen. Die derzeit führende Numerariergeneration (das gilt auch für die Frauen) ist in ihrer großen Mehrheit mit vierzehneinhalb Jahre beigetreten; viele von ihnen haben die Statuten des Werkes niemals im Original gelesen (und wenn, hätte es nur den wenigsten etwas genützt, da sie auf Lateinisch geschrieben sind und nicht übersetzt werden dürfen).
Die Sommerworkcamps sind Ausdruck der panischen Angst der Führungsgarnitur des Opus Dei vor Freiräumen, und das sind bei den minderjährigen Numerariern bzw. bei den Studenten eben die Sommerferien. Die Abwesenheit, die erotischen Anfechtungen und Möglichkeiten der „Verführung“ am Strand (vgl. Mafalda: An den Strand!) und die (ungeschriebene) Regel, dass das Werk niemanden als Numerarier aufnimmt, der Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht hat, dazu die Obsession, dass „auch der Teufel keine Ferien macht“, drängen dazu, die Ferien der jungen Mitglieder und der Beitrittskandidaten zu verplanen. Drei Wochen „Jahreskurs“ für die Numerarier, das ist ein rudimentärer Theologie- und interner Verhaltenskurs mit insgesamt drei Ausflügen und Sport zu Mittag (für die Mitglieder von Studienzentren sechs Wochen) und eine „Reparaturphase“ im eigenen Zentrum lassen die Jugend ohnehin nicht zu Atem kommen; dann fährt man auch noch gerne zum Kirchenbauen, in ein Slum oder Erdbebengebiet, um die „Pfeifkandidaten“ unter Anleitung einiger junger Numerarier durch Gratisarbeit zur „Hingabe“ zu animieren und sie emotional durch die Konfrontation mit dem Elend zu erschüttern. (Und in Chile, auf der südlichen Hemisphäre, finden die „Sommercamps“ etc. eben im Dezember statt…)