Jeden Tag eine Abtötung

Von Steigleder, Klaus

(http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14020034.html)

Opus Dei - die heimliche Elite der Katholischen Kirche (II) / Von Klaus Steigleder _(1983 Alle Rechte bei Benziger Verlag, ) _(Zürich. ) *

Am 15. Juni 1974 wurde ich Mitglied des Opus Dei. Ich war 15 Jahre alt. Ohne Wissen meiner Eltern hatte ich mich für ein Leben in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam entschieden. Tags darauf traf ich mich mit A. G., dem stellvertretenden Leiter des Kölner Jugendclubs "Feuerstein", der nun zwei Jahre lang mein "geistlicher Leiter" sein sollte. Wir unternahmen einen kleinen Spaziergang, auf dem er sehr nachdrücklich die Bedeutung der "Aufrichtigkeit" betonte, die im Opus Dei eine der wichtigsten Tugenden sei.

Ich erfuhr von der Einrichtung der "Aussprache", die im Opus Dei auch das "brüderliche Gespräch" genannt wird: ein wöchentliches Gespräch, das jedes Mitglied der Vereinigung zu einem festen Termin mit seinem "geistlichen Leiter" führt.

In der Aussprache hat man sich seinem "geistlichen Leiter" völlig zu offenbaren, alles irgendwie Wesentliche der vergangenen Woche mit schonungsloser Aufrichtigkeit von sich zu berichten. Nach kurzer Zeit darf es nichts geben, was man von sich weiß und einem irgendwie von Belang erscheint, das nicht auch der "geistliche Leiter" wüßte. Von ihm erfährt man, was man zu tun und zu unterlassen hat, was der Wille Gottes ist. Der Leiter hat dazu "spezielle Gnade", "Standesgnade", die "Gabe des Rates".

Er hört sich das, was ihm jemand in der "Aussprache" berichtet, an, schweigend, kommentarlos, fragt gegebenenfalls nach, lobt, tadelt, ermahnt, gibt Hinweise, Ratschläge, besänftigt, schreit - je nachdem, wie er es für notwendig hält. "Merkwürdig war, daß fast alle Mitglieder, die einige Zeit dabei waren, während der Aussprache weinten - nervlicher Zustand?" schreibt das ehemalige Opus-Dei-Mitglied Petra H.

Dies mag vielleicht nicht gleichermaßen für die männlichen Mitglieder der Vereinigung gelten, doch erinnere ich mich, einige Male während der Aussprache den Tränen nahe gewesen zu sein. Immer wieder wurde gesagt, daß die Tatsache, von den Leitern hart angefaßt zu werden, eine Auszeichnung darstelle und bedeute, daß einer in seinem "inneren Leben" schon weiter fortgeschritten sei.

Am Ende der Aussprache bestimmt der "geistliche Leiter" das sogenannte "Partikularexamen", jenen Bereich, in dem der Geleitete sich in der kommenden Woche besonders anstrengen soll, um darin ein wenig voranzukommen. Den Ratschlägen und Anweisungen des geistlichen Leiters schuldet man unbedingten Gehorsam; Kritik und Widerspruch sind nicht erlaubt.

Die Anweisungen beziehen sich nicht nur auf das "innere Leben", sondern erstrecken sich auch auf Aufträge: vom Telephondienst in einem Haus der Vereinigung über Reparaturaufträge, das Abhalten von Arbeitskreisen, Clubstunden, Vorträgen, das Geldverdienen für die Vereinigung, Spendenbesuche, Fragen der Berufswahl bis hin zur Aufgabe des Berufes, um sich der Vereinigung hauptberuflich zu widmen.

Der Stundenplan der Veranstaltungen, die ein Student während eines Semesters _(Auf der Baustelle des Opus-Dei-Zentrums ) _("Villa Tevere" in Rom. )

an der Universität besuchen möchte, muß von dem Leiter genehmigt werden. Der Leiter hat zu entscheiden, ob ein Mitglied ein Buch lesen, das Haus verlassen, an einem Familienfest teilnehmen darf. Er entscheidet nicht nur, ob ein Mitglied einen Freund besuchen darf, sondern auch darüber, was er mit dem Freund besprechen soll und wie.

Eine stehende Redewendung im Opus Dei lautet: "Im Werk ist der stärkste Befehl das ''Bitte''." Ein Beispiel: Der Leiter fragt: "Könntest du heute vielleicht zur Kommission fahren und dort helfen, Schriften versandfertig zu machen?" Im Klartext heißt das: "Fahre heute zur Kommission ...!" Den Anweisungen eines Leiters darf nicht widersprochen werden - es sei denn, sie enthielten eine Aufforderung zur Sünde. Der Regelfall ist also ein klares "Ja", gegebenenfalls ein Stehen- und Liegenlassen der bisherigen Beschäftigung, um sich sofort aufzumachen.

In den Ausbildungsvorträgen wird zum Thema Gehorsam häufig folgendes Beispiel erzählt, das von dem Opus-Dei-Gründer Escriva de Balaguer stammt: Angenommen, ein Mitglied des Opus Dei hätte den Stein der Weisen entdeckt und müßte nur noch einen Tropfen aus einem Reagenzglas in ein anderes geben, so hätte er seine Arbeit liegenzulassen und den Tropfen nicht mehr zuzusetzen, wenn ein Leiter ihn mit einer anderen Arbeit beauftragen würde.

"Dein Gehorsam verdient diesen Namen nicht, falls du nicht entschlossen bist, deine blühende persönliche Arbeit aufzugeben, wenn ein Berufener es so für richtig befindet", schreibt Escriva de Balaguer. Und an anderer Stelle: "Gehorchen ... sicherer Weg. - Blind dem Vorgesetzten gehorchen ... Weg der Heiligkeit. - Gehorchen in deinem Apostolat ... der einzige Weg: weil in einem Werk Gottes der Geist vorherrschen muß, entweder zu gehorchen oder wegzugehen." Oder: "Gehorcht, wie ein Werkzeug in der Hand des Künstlers gehorcht, das nicht danach fragt, warum es dies oder jenes tut."

Solch blinder Gehorsam soll aber nach den Worten von Escriva de Balaguer kein "Kadaver"-, sondern ein "intelligenter Gehorsam" sein. In den Ausbildungsvorträgen wird stets nachdrücklich betont, daß ein Mitglied des Opus Dei niemals sagen darf: "Mein Leiter hat mir gesagt ..." Die Anweisungen der Leiter hat man sich so weit zu eigen zu machen, daß der Beauftragte bereit ist, für die Konsequenzen wie für sein ureigenstes Handeln einzustehen. Das Verbot etwa, seine Eltern am Wochenende zu besuchen, hat ein Mitglied vor seinen Eltern als seinen ganz persönlichen Entschluß zu vertreten.

Das Bemühen um persönliche Heiligkeit hat nach der Lehre der Vereinigung eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen Kampf gegen den "alten Menschen", gegen die "Einflüsterungen des Feindes", "gegen den Hochmut, gegen Sinnlichkeit,

Egoismus, Oberflächlichkeit und Engherzigkeit" (Escriva). Zum anderen Kampf um größtmögliche Vollkommenheit in der Erfüllung der alltäglichen Pflichten, um ein ständiges Verbundensein mit Gott in jedem Augenblick, um ein Leben aus Liebe.

Mittel für den Kampf um die Heiligkeit sind die sogenannten "Normen", die ein Mitglied des Opus Dei vollständig zu verrichten hat: täglich eine halbe Stunde Gebet am Morgen und eine halbe Stunde am Nachmittag, Gebet des Rosenkranzes, Gebet des "Angelus" bzw. des "Regina coeli" mittags um zwölf, ferner täglich Besuch der Eucharistiefeier mit Kommunionempfang, 15 Minuten "geistliche Lesung", Besuch beim Allerheiligsten, Gebet der "Preces" (das interne Gebet der Vereinigung), Gewissenserforschung; wöchentlich Empfang des Bußsakraments.

Ferner: monatlich ein Einkehrtag; jährlich fünf Besinnungstage; schließlich noch die sogenannten "Normen von immer" - Stoßgebete, Danksagungsakte, Sühneakte, Betrachtung der Gotteskindschaft, Abtötungen, Studium, Arbeit, Ordnung, Freude.

Zu den "Normen" kommen noch die sogenannten "Gewohnheiten des Werkes": Dazu gehören etwa täglich eine Abtötung für den Generalpräsidenten des Opus Dei und eine weitere für die Kirche, vor der Nachtruhe drei "Ave Maria" für die "Reinheit", der "Evangelienkommentar" vor der abendlichen Gewissenserforschung.

Die "Normen" sollen über den ganzen Tag verteilt und genau zum geplanten Zeitpunkt verrichtet werden. Kann ein Mitglied einmal eine "Norm" nicht zur vorgesehenen Zeit erfüllen, so soll es sie vorausschauend vorverlegen, anstatt sie auf das Ende eines Tages hin zu verschieben.

Hat ein Numerariermitglied _(Numerarier sind Vollmitglieder des Opus ) _(Dei. Bei ihrem Eintritt in die ) _(Vereinigung verpflichten sie sich zu ) _(Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. In der ) _(Regel wohnen sie auch gemeinsam in einem ) _(Zentrum des Opus Dei. )

zum Zeitpunkt der abendlichen Gewissenserforschung, zu der sich die Bewohner eines "Zentrums" des Opus Dei in der Kapelle versammeln, eine "Norm" noch nicht verrichtet, so ist der Leiter des Zentrums davon in Kenntnis zu setzen. Er entscheidet dann, ob das Mitglied die "Norm" noch verrichten soll oder - für diesen Tag davon dispensiert - schon zu Bett gehen darf.

Mit seinem "geistlichen Leiter" legt ein Mitglied von Zeit zu Zeit eine neue Liste von Abtötungen fest, die es sich täglich zu verrichten vornimmt: beispielsweise morgens kalt zu duschen, sich keine Butter aufs Brot zu schmieren, Zucker in den Kaffee zu nehmen, wenn man ihn lieber ohne trinkt.

Recht früh erfuhr ich von einer "körperlichen Abtötung" als "Gewohnheit" des Opus Dei, dem "Sleeping": Ein Numerariermitglied schläft jede Woche eine Nacht auf dem Fußboden seines Schlafzimmers, sofern dieser nicht aus Stein ist. Dies gilt aber nur für Numerarier, die in einem Haus des Opus Dei zusammenwohnen; wohnt ein Mitglied noch bei seinen Eltern, soll und darf es das "Sleeping" nicht vornehmen, da die Gefahr besteht, daß die Eltern jemanden dabei "ertappen" und sich wundern könnten.

Relativ spät hingegen erfuhr ich durch einen Priester des Opus Dei von der "Gewohnheit", täglich einen "Bußgürtel" zu tragen und wöchentlich sich zu geißeln. Ich war völlig überrascht und sagte ihm, daß ich gar nicht wisse, was man sich unter einem "Bußgürtel" vorzustellen habe. Der Priester meinte, mein Leiter habe mir das wohl zu erklären versäumt.

Aus einem Schrank holte er ein kettenartiges, dreireihiges und vielgliedriges Metallband, das aus einem starken Draht gefertigt war und nach der "Innenseite" hin zahlreiche Spitzen hatte. An einem Ende des Metallbandes war eine Schnur befestigt. Der Priester erklärte mir, daß man den "Bußgürtel" mit den Spitzen nach innen um den Oberschenkel lege, die beiden Enden mittels der Schnur zusammenziehe, bis der Gürtel fest sitzt, und dann verknote. Der "Bußgürtel" werde täglich zwei Stunden getragen, Sonn- und Feiertage ausgenommen. Die Geißel sei aus Schnüren mit Knoten gefertigt und werde einmal in der Woche benützt, indem man sich damit für die Dauer eines "Credo", eines "Salve Regina" oder eines anderen Gebetes auf das blanke Hinterteil schlage.

Ich sprach dann meinen "geistlichen Leiter" auf die Bußinstrumente an und bekam wenig später einen "Bußgürtel";

eine überzählige Geißel war damals im Haus des Jugendclubs nicht vorhanden, ich erhielt sie einige Monate später von einem Mitglied der Kommission, das sie selber für mich geknüpft hatte.

Mein "Bußgürtel" wurde in einem Schrank des Jugendclubs Feuerstein aufbewahrt, von wo ich ihn mir jeweils holen sollte. Ich durfte ihn nicht außerhalb des Hauses des Opus Dei tragen, geschweige denn in das Haus meiner Eltern mitnehmen.

Das Tragen des "Bußgürtels" ist äußerst schmerzhaft, vor allem beim Sitzen. Die Metallspitzen graben sich tief in die Haut ein und hinterlassen als Spuren kleine rote Punkte. Mehr noch schmerzt der Gebrauch der Bußgeißel. So schmerzhaft es auch war, sich selbst zu geißeln, als weitaus unangenehmer und qualvoller empfand ich es, das durchdringende Knallen zu hören, wenn ein anderer sich mit der Geißel schlug - was ich, als ich in Bonn im "Studienzentrum" der Vereinigung wohnte, häufig erleben mußte.

Die Priester und Leiter des Opus Dei sollen den "Bußgürtel" länger und häufiger als die anderen Mitglieder gebrauchen. Die Leiter sollen ihn tragen, wenn sie einen "Kreis" oder andere Ausbildungsvorträge halten. Das Tragen des "Bußgürtels" ist zudem beim Entgegennehmen der "Aussprachen" üblich.

Auch die Numerarierinnen haben harte "körperliche Abtötungen" zu üben. Sie müssen jede Nacht statt auf einer Matratze auf einem Brett schlafen. Eine ehemalige Numerarierin berichtet: "Diese Arten der Abtötung befremdeten mich noch nicht, ich war jedoch sehr schockiert, als man mich zum erstenmal mit dem Bußband und der Geißel konfrontierte.

"Diese ''Abtötungswerkzeuge'' wurden mir etwa neun Monate nach meinem Eintritt von meiner Leiterin übergeben, mit der Auflage, das Bußband täglich zwei Stunden am Oberschenkel zu tragen, und zwar so, daß es weh tue. So wurde zum Beispiel empfohlen, die Schleife nach vorne zu binden, damit, wenn man sich hinsetzte, die Dornen tiefer ins Fleisch eindringen konnten. Der Gebrauch der Geißel wurde einmal wöchentlich vorgeschrieben. Dazu sollte man sich niederknien und für die Dauer eines Gebetes sich mit der Geißel auf den Rücken schlagen."

Unmittelbar nach dem Eintritt in die Vereinigung beginnt für das neue Mitglied eine nie endende Ausbildung. In den ersten anderthalb Jahren muß es eine Vielzahl von Vorträgen über die Vereinigung, deren Geschichte, Gewohnheiten und Gebräuche über sich ergehen lassen. _(Oben: Geißel, Bußgürtel; unten: ) _(Bußgürtel, zur Demonstration am ) _(Oberschenkel angelegt. )

Die Themen sind genau vorgeschrieben; es ist Buch darüber zu führen, welche Vorträge man schon gehört hat und welche noch ausstehen. Mit meinem damaligen "geistlichen Leiter" traf ich mich außer zur Aussprache noch zweibis dreimal in der Woche zu solchen Vorträgen, die er mir meist als einzigem Zuhörer hielt.

Jedes Mitglied hat wöchentlich an einem "Kreis" teilzunehmen: Einem Einleitungsgebet folgt ein kurzer Kommentar zum Tagesevangelium. Danach verliest der Leiter alle vorgeschriebenen "Normen". Anschließend folgt ein Vortrag über eine dieser "Normen". Sind im Lauf der Wochen alle "Normen" abgehandelt, wird wieder von vorne begonnen.

Dem "Normenkommentar" folgt eine längere Gewissenserforschung, die aus ungefähr 20 vom Gründer des Opus Dei festgelegten Fragen besteht. Danach knien sich meist einige der Kreisteilnehmer nacheinander hin und klagen sich vor den anderen eines Fehlers an, beispielsweise, daß man in der vergangenen Woche häufig unpünktlich war, daß man die "Brüderliche Zurechtweisung" oder die Abtötungen vernachlässigt habe. Der Leiter gibt eine kleine "Buße" auf, etwa einen Besuch beim Allerheiligsten, ein bestimmtes Gebet.

Diejenigen, die sich im "Kreis" eines Fehlers anklagen wollen, müssen dies dem Leiter vorher mitteilen. Er entscheidet dann, ob sie es vorbringen dürfen, und bisweilen, wie sie formulieren sollen.

Beschlossen wird der "Kreis" durch das gemeinsame Gebet der "Preces", das sorgsam vor Nichtmitgliedern verborgen gehalten wird. Die Mitglieder knien sich dazu auf den Boden und küssen diesen zu Beginn des Gebetes. Im Feuerstein hatte dabei immer einer die Türe zu bewachen und darauf zu achten, daß kein Nichtmitglied die Teilnehmer beim Gebet der "Preces" ertappte.

Monatlich haben die Mitglieder an einem Einkehrtag teilzunehmen. Die jährlichen Besinnungstage dauern in der Regel fünf Tage. Neben den internen Vorträgen, "Kreisen", Betrachtungen, Einkehr- und Besinnungstagen hat ein Mitglied noch an den für seine "Freunde" bestimmten Ausbildungsmitteln teilzunehmen, so daß ein Numerarier oftmals in der Woche an mehreren "Kreisen", an zahlreichen Betrachtungen, im Monat an mehreren Einkehrtagen und im Jahr mehrmals an Besinnungstagen teilnimmt.

Jedes Numerariermitglied nimmt einmal im Jahr an einem mehrwöchigen "Jahreskurs" teil. Die "Jahreskurse" sind Zeiten einer besonders intensiven Ausbildung, die zugleich die Ferien der Mitglieder darstellen. Fast täglich finden mehrere Unterrichtsstunden statt; vier Vorlesungsstunden über Philosophie oder Theologie, Latein- und Spanischunterricht,

ein Vortrag oder ein Briefkommentar, eine Katechismusstunde.

Alle Numerarier müssen intern zunächst Philosophie und dann Theologie studieren. Die Vorlesungen werden in der Regel von den Priestern der Vereinigung oder von solchen Laien gehalten, die das interne Philosophie- und Theologiestudium bereits einmal vollständig durchlaufen haben. Die Fächer werden am Ende des Kurses geprüft. Wer die Prüfungen nicht mit den Noten "sehr gut" oder "gut" besteht, muß sie wiederholen oder die Vorlesungen in einem der nächsten "Jahreskurse" erneut hören.

Ein Numerarier, der die "internen Studien" abgeschlossen hat, kann sofort zum Priester für die Vereinigung geweiht werden. Zur Beschleunigung der "internen Studien" besuchen solche Mitglieder nach Abschluß ihrer "zivilen Berufsausbildung" in Rom das "internationale Studienzentrum" des Opus Dei "Collegio Romano de la Santa Cruz", das als ein Ableger mit der theologischen Fakultät der Opus-Dei-Universität Pamplona zusammenhängt.

Hat ein Numerarier, etwa um Religionslehrer zu werden, an einer öffentlichen Universität Theologie studiert, so muß er dennoch intern alle theologischen Fächer hören und darin Prüfungen ablegen.

Zu Beginn ihres "zivilen" Studiums ziehen die Numerarier in der Regel für zwei Jahre in das sogenannte "Studienzentrum" der Vereinigung, wo für sie - nach der Ausbildung in den ersten anderthalb Jahren ihrer Mitgliedschaft - nochmals eine besonders intensive Zeit der Ausbildung und Formung beginnt.

Als eines der ersten Dinge lernte ich in der Vereinigung, daß das Opus Dei eine übernatürliche Familie und nun meine eigentliche Familie sei. Mit meiner Entscheidung für eine Mitgliedschaft als Numerarier hätte ich einen Schritt getan, der in seiner Tragweite und in seinen Konsequenzen einer Heirat vergleichbar sei.

So wie Eheleute einander mehr lieben würden, als sie ihre Eltern liebten, und die von ihnen gegründete Familie ihnen mehr bedeute als ihre Blutsfamilie, habe ein Numerariermitglied der übernatürlichen Familie des Opus Dei mehr Liebe zu schenken und mehr Bedeutung beizumessen als seinen Eltern, Geschwistern und Verwandten.

Mit dem Zeitpunkt meiner Mitgliedschaft sei ich erwachsen - was ich im Alter von 15 Jahren gerne anzunehmen bereit war - und trüge, wie Escriva de Balaguer zu sagen pflegte, für die Familie des Opus Dei "die Verantwortung eines Vaters einer armen und kinderreichen Familie".

Und was tut der Vater einer armen und kinderreichen Familie? Er ordnet alles, seinen Beruf, seine persönlichen Interessen und Angelegenheiten den Interessen und Belangen seiner Familie unter. Da er seine "arme und kinderreiche Familie" auch ernähren muß, wird er alles Erdenkliche daransetzen, um Geld für seine Familie herbeizuschaffen.

Ein Numerarier muß alles Geld, das er besitzt, und all seine Einnahmen beim Sekretär des "Zentrums" abgeben. Von diesen Geldern wird monatlich ein bestimmter Betrag an die Kommission, das ist die Leitung des Opus Dei in einem Land, weitergegeben, als Mindestbeitrag 30 bis 40 Mark pro Mitglied.

Meine "Einnahmen" als Schüler waren das Taschengeld, das ich von meinen

Eltern bekam, hin und wieder auch etwas Geld, das mir meine Großmutter zusteckte. Bald schon wurde mir gesagt, daß dies zu wenig sei; so würde ich meiner Verantwortung nicht gerecht. Ich solle meinen Eltern klarmachen, daß ich mit dem Taschengeld nicht auskomme.

In der Vereinigung gilt es als eine Selbstverständlichkeit, zu versuchen, von den Eltern soviel Geld wie irgendmöglich zu erhalten. Da monatlich vom Sekretär des Hauses unter meinem Namen an die Kommission mehr Geld überwiesen wurde, als ich einbrachte, wuchsen meine Schulden. Ich begann, gegen den Willen meiner Eltern und ohne ihr Wissen Nachhilfestunden zu geben; auch hier sind die Mitglieder angewiesen, möglichst viel zu verlangen.

Einen wichtigen Platz nimmt für die Mitglieder das sogenannte "Familienleben" ein. Täglich finden in den "Zentren" des Opus Dei zwei in der Regel halbstündige "Beisammensein" jener "Brüder" statt, die demselben "Zentrum" angehören. Gesprächsthemen sind an erster Stelle die Vereinigung selbst, Neuigkeiten aus Rom, von der Kommission, aus anderen Städten, Erzählungen und Anekdoten aus der Geschichte des Opus Dei.

Meinungen können ausgetauscht werden, es darf sich dabei aber keine Diskussion ergeben. Kommt eine Diskussion auf, so hat der Leiter in der Regel einzuschreiten und gegebenenfalls dafür zu sorgen, daß das Thema gewechselt wird. Nicht zulässig ist auch Kritik an der Vereinigung, an einer Initiative, welche die Leiter beschlossen haben.

Zu Anfang meiner Mitgliedschaft, während ich noch bei meinen Eltern wohnte, nahm ich gern am Beisammensein teil. Die anderen Teilnehmer waren meist älter, und ich fühlte mich von ihnen akzeptiert. Es war nicht nur der Reiz des Neuen, sondern ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme in der Gemeinschaft mit denen, die das gleiche wollten.

Während meine Eltern mir allmählich Vorhaltungen machten, unter anderem deshalb, weil ich mich fast ständig im Jugendclub Feuerstein aufhielt und nicht so recht Auskunft gab (geben durfte), was ich dort eigentlich tat, empfand ich das Beisammensein mit den "Brüdern" als eine Oase: Hier war die Welt in Ordnung, hier wußte man Bescheid, hatte die "rechte Lehre" und hatte auf alles eine Antwort.

Es verband uns ein Überlegenheitsgefühl, "der Überlegenheitskomplex des Christen", wie es in der Vereinigung heißt, der zutreffender aber wohl als "Überlegenheitskomplex, Mitglied des Opus Dei zu sein", bezeichnet werden muß; das Bewußtsein, auf dem richtigen Weg zu sein.

Jedes Mitglied ist zur sogenannten "Brüderlichen Zurechtweisung" verpflichtet.

Fällt jemandem bei seinem "Bruder" ein Verstoß gegen den "Geist des Werkes" auf, so soll er den zuständigen Leiter aufsuchen und fragen, ob man den Betreffenden in der jeweiligen Angelegenheit zurechtweisen darf oder soll. Nach einer bejahenden Antwort des Leiters ist die Zurechtweisung eine Sache des Gehorsams; ist sie erfolgt, muß der Leiter darüber nochmals informiert werden.

Das Feld möglicher Zurechtweisung ist weit: der Eindruck, ein anderer mache die Kniebeuge in der Kapelle nachlässig und gedankenlos, sei häufiger unpünktlich, sage während des Beisammenseins zuviel oder zuwenig, treibe zu wenig Sport, vernachlässige das Apostolat, vergeude Zeit, tue etwas Unerlaubtes, trage altmodische oder zerschlissene Kleidung, achte zuviel auf sein Äußeres.

Die "Brüderliche Zurechtweisung" trägt zu einem permanenten Kontrolliertsein der Mitglieder des Opus Dei und einer sofortigen Ahndung kleinster Abweichungen bei.

Zum "Familienleben" gehört das gemeinsame Begehen von Sonn- und Feiertagen. Vor dem Weihnachtsfest soll jeder Numerarier einen "Brief an das Christkind" schreiben, in dem er sich ein bis zwei Kleinigkeiten wünscht und den er dem Leiter des Hauses gibt. Können Mitglieder sich zum Weihnachtsfest etwas von ihren Eltern wünschen, so haben sie vorher den Sekretär des Hauses zu fragen, was sie sich wünschen sollen.

Er nennt ihnen einige Dinge, die andere Mitglieder sich "vom Christkind" gewünscht haben oder die für das Haus des Opus Dei nützlich wären. Die übrigen "Wünsche an das Christkind", die nicht durch Eltern oder Verwandte der Mitglieder abgedeckt werden können, werden eingekauft.

Mitglieder des Opus Dei grüßen einander mit einem internen Gruß. Treffen sich zwei und sind sie unter sich, so grüßt der eine mit "Pax" (Frieden), worauf der andere mit "In aeternum" (in Ewigkeit) antwortet. Dieser interne Gruß wird in der Vereinigung Nichtmitgliedern gegenüber geheimgehalten.

Jeder Numerarier hat an einem Tag in der Woche seinen sogenannten "Wachetag", an dem er zu besonderer Anstrengung im Umgang mit seinen "Brüdern", in besonderer Weise zur Übung der "Brüderlichen Zurechtweisung" verpflichtet ist und an dem er sich bemühen soll, besonders intensiv für seine "Mitbrüder" zu beten und sich abzutöten.

Bei allem Einsatz und aller Ernsthaftigkeit sind der "Brüderlichkeit" Grenzen gesetzt, durch welche sie als Ganze in Frage gestellt ist. "Vertraulichkeiten" sind verboten, wirklich Persönliches, ureigenste Schwierigkeiten und Probleme dürfen miteinander nicht besprochen werden. Es ist letztlich nicht

erlaubt, einem "Bruder", die Leiter ausgenommen, sein Herz auszuschütten. Man darf einander nicht zeigen, wenn man traurig und unglücklich ist.

Die Brüderlichkeit besteht in der Vereinigung vor allem in dem Bemühen, sich für die Belange des anderen zu interessieren, Anteil zu nehmen, einem anderen eine Freude zu bereiten, in dem stets erneuerten und nicht selten eingelösten Vorsatz, diesem oder jenem in einer Angelegenheit zu helfen, in einer permanenten gegenseitigen Kontrolle, die als Sorge füreinander verstanden wird.

Brüderlichkeit hat im Opus Dei viel mit Planung zu tun. Sie wird geübt und ist einübbar. Doch kommt sie wirklich von Herzen? Hat sie etwas mit Spontaneität, Natürlichkeit und Ungezwungenheit zu tun? Brüderlichkeit ist im Opus Dei eher ein "Überbau", eine Ideologie. Man weiß voneinander weniger, als gute Freunde über sich wissen.

Der Intensität der Ausbildung, dem Verbot von Kritik und Diskussion auf der einen Seite entspricht auf der anderen ein unerbittliches, uneingeschränktes Fernhalten aller vermeintlich feindlichen Fremdeinflüsse.

Schon bald erfuhr ich davon, daß es im Opus Dei einen internen Bücherindex gibt. Will ein Mitglied der Vereinigung ein Buch lesen, so ist (Mathematikbücher ausgenommen) vorher der Leiter um Erlaubnis zu fragen. Der schaut dann in einer bereits mehrere tausend Buchtitel umfassenden Bücherkartei nach, die in jedem "Zentrum" der Vereinigung vorhanden ist und zentral ständig fortgeführt wird.

Die durch "ältere Mitglieder" zensierten Bücher, die dort aufgenommen sind, werden in fünf Kategorien eingeteilt: 1. empfehlenswert, 2. bietet keine Hinderungsgründe, 3. nur mit solider doktrinärer Vorbildung, 4. fällt unter das interne Verbot, 5. fällt unter das allgemeine moralische Verbot.

Darüber hinaus gibt es noch Klassifizierungen wie "nur für Fachleute" (etwa manches medizinische Fachbuch, beispielsweise aus dem Gebiet der Gynäkologie) oder "für Fachleute empfehlenswert".

Einige Beispiele: Solschenizyns "Der Archipel Gulag" oder "Der erste Kreis der Hölle", der "Gottesstaat" von Augustinus oder Platons "Politeia", Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel" oder die "Antigone" des Sophokles dürfen nur von solchen gelesen werden, denen eine "solide doktrinäre Vorbildung" zuerkannt wird. Brecht ist wie alle sozialistische oder marxistische und vielfältige andere Literatur streng verboten.

Verbotene Autoren dürfen nur dann gelesen werden, wenn es für jemanden dringend erforderlich ist und er dafür die Erlaubnis des Generalpräsidenten der Vereinigung erhält. Eine solche Leseerlaubnis ist dann in der Regel zeitlich genau begrenzt und mit der Verpflichtung verbunden, die verbotene Literatur nicht offen herumstehen zu lassen und nach der Lektüre eine Rezension über die betreffende Schrift zu verfassen.

Als unsere Deutschlehrerin im Unterricht Bertolt Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" behandeln wollte, teilten ein Klassenkamerad, der ebenfalls Numerariermitglied des Opus Dei war, und ich dies unserem "geistlichen Leiter" mit. Er legte uns nahe, unsere Deutschlehrerin zu bitten, von ihrem Vorhaben abzulassen.

Nach der nächsten Deutschstunde faßten wir uns ein Herz und gingen zu der Lehrerin. Wir appellierten an ihr christliches Gewissen; Brecht sei ein marxistischer Autor und stelle daher eine Gefährdung für den Glauben dar. Sie schaute uns mit einem fast mitleidigen Blick an, und das erste, was sie sagte, war: "Natürlich! Feuerstein!" Sie

hatte ähnliches wohl schon in anderen Klassen mit Mitgliedern des Opus Dei erlebt.

Einmütig bestritten wir, daß dies irgend etwas mit dem Jugendclub Feuerstein zu tun habe; es sei unsere eigene, von niemandem beeinflußte Erkenntnis und Überzeugung, zu der wir gelangt seien. Als wir am Nachmittag dem "geistlichen Leiter" unsere Antwort berichteten, lobte er uns, wenngleich die Antwort nicht der Wahrheit entsprochen hatte.

Beide hatten wir bis dahin noch nie etwas von Brecht gelesen, und beide hatten wir im Alter von 15 Jahren ohnehin erst vage Vorstellungen von dem, was der Marxismus beinhaltet. Beide hatten wir aber schon verinnerlicht, uns die Weisungen des Leiters zu eigen zu machen.

Die Deutschlehrerin ließ sich durch uns verständlicherweise nicht davon abbringen, Brechts "Mutter Courage" im Unterricht zu besprechen. Wir lasen das Theaterstück zunächst nicht, weil uns die Lektüre von unserem "geistlichen Leiter" nicht erlaubt worden war und von ihm, da streng verboten, auch nicht erlaubt werden konnte. Inzwischen war beim Generalpräsidenten in Rom angefragt worden, ob wir die Erlaubnis erhielten, dieses Werk zu lesen.

Da es normalerweise wohl recht lange dauert, bis auf solche Anfragen aus Rom eine Antwort erfolgt, und es unaufhaltsam auf eine Klassenarbeit zuging, erhielten wir ausnahmsweise von der Kommission die Erlaubnis, die "Mutter Courage" zu lesen, allerdings mit der Auflage, uns immer wieder mit dem Priester des Jugendclubs Feuerstein darüber zu unterhalten und nach der Lektüre eine Rezension zu erstellen. Die Leseerlaubnis war zeitlich befristet.

Eine ehemalige Numerarierin berichtet: "In der Klasse 12 nahmen wir im Deutschunterricht die ''Ansichten eines Clowns'' von Böll durch. Da dieser Autor natürlich auf dem internen Index zu finden ist, war es mir verboten, diese Lektüre zu lesen. Ich mußte also einen Priester des Opus Dei um Rat fragen. Dieser Priester bestätigte mir das Verbot. Damit ich jedoch im Unterricht mitarbeiten konnte, las er für mich dieses Buch und übergab mir anschließend eine zwei DIN-A4-Seiten ''umfassende'' Zusammenfassung dieses Buches, die natürlich sehr stark zensiert worden war. Mit diesen ''Unterlagen'' mußte ich nun im Deutschunterricht arbeiten."

Ist ein Buch noch nicht in der internen Kartei erfaßt, so wird es dem Priester des Hauses gegeben, der dann die Aufgabe hat, festzustellen, ob es gelesen werden darf. Kommt der Priester beim Lesen an eine Stelle, von der er meint, daß das dort Angeführte in Widerspruch mit der Glaubens- oder Sittenlehre der katholischen Kirche steht, so hat er die Lektüre abzubrechen.

Die neuen Schulbücher zu Beginn eines Schuljahres werden zunächst beim Leiter abgegeben, der dann feststellt, welche Bücher benutzt und welche nicht benutzt werden dürfen. Unser Lesebuch für den Deutschunterricht war streng verboten, im Biologiebuch durften bestimmte Seiten, auf denen es um Evolutionstheorien ging, nicht gelesen werden. Bestimmte Quellentexte, die das Geschichtsbuch enthielt, waren zu lesen nicht erlaubt.

Von unserem "geistlichen Leiter" wurden wir dazu angehalten, uns im Unterricht dafür einzusetzen, daß keine glaubensgefährdende Lektüre gewählt würde, falls darüber abgestimmt werde, welche Literatur Behandlung finden soll. Da wir in unserer Klasse aber nur zwei Mitglieder des Opus Dei waren, war unser Bemühen nur selten erfolgreich.

In einem Brief an seine "Söhne und Töchter" ging der Gründer des Opus Dei sehr eindringlich auf die Notwendigkeit eines vorsichtigen Umgangs mit Büchern ein. Escriva de Balaguer schrieb dort, wer nicht bereit sei, sich an das von ihm hinsichtlich des Lesens von Büchern Festgesetzte zu halten, solle das Opus Dei besser verlassen.

Das Gewicht einer solchen Äußerung läßt sich nur ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es für ein Mitglied des Opus Dei nichts Schlimmeres geben kann, als das "göttliche Geschenk seiner Berufung" aufzugeben, nicht treu zu sein - dies wird einem Mitglied des Opus Dei fast täglich eingeschärft.

War die strenge Bücherzensur für mich während meiner Schulzeit bisweilen ziemlich aufreibend - oft konnte ich Hausaufgaben nicht erstellen, da ich einen zu bearbeitenden Text nicht lesen durfte -, so stellte sie beim Studium

ein echtes Problem dar. Zum Wintersemester 1977/78 begann ich, in Bonn Philosophie und Klassische Philologie zu studieren.

Das Philosophiestudium gestaltete sich für mich sehr schwierig, da es kaum einen Philosophen gibt, der nach Auffassung des Opus Dei nicht irgendwelche Hinderungsgründe zur Lektüre bietet. Während der Zeit meiner Mitgliedschaft im Opus Dei habe ich niemals auch nur eine einzige Seite eines nennenswerten neuzeitlichen Philosophen lesen dürfen.

Die interne Zensur erstreckt sich nicht nur auf Bücher und Aufsätze. Als ich nach meinem Abitur in das "Studienzentrum" nach Bonn zog, konnte ich miterleben, wie der Leiter des Hauses allmorgendlich die vom "Zentrum" abonnierten Tageszeitungen, vor allem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", durchsah.

Die Artikel bestimmter Journalisten, beispielsweise des Spanienkorrespondenten Walter Haubrich, der schon häufig Kritisches über die Vereinigung geschrieben hat, oder des Romkorrespondenten Heinz-Joachim Fischer, wurden vom Leiter dann in der Regel durchgestrichen und durften nicht gelesen werden; bisweilen wurde eine Zeitungsseite auch vollständig herausgerissen.

Immer wieder wurde gesagt, daß ein kirchliches "Imprimatur" heutzutage leider nichts mehr bedeute. Besondere Vorsicht sei bei Bibelübersetzungen geboten, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erschienen sind. Für die geistliche Lesung und für das Gebet dürfen nur bestimmte, vom Opus Dei erlaubte Bibelübersetzungen benutzt werden.

Auch bei Fernsehfilmen war größte Vorsicht geboten. Will ein Mitglied des Opus Dei sich einen Film anschauen, so ist der Leiter zuvor um Erlaubnis zu fragen. In der Regel dürfen Fernsehfilme, besonders solche, die nach 1966 gedreht worden sind, nur zu zweit angesehen werden. Kommt darin eine "unsittliche Szene" vor, wird sofort um- oder ausgeschaltet.

Spielfilme, die im Rahmen des Programms eines Jugendclubs oder Studentenheims vorgeführt werden sollen, werden vorher vom Priester des Hauses und einem anderen Mitglied, meist einem der Leiter, angesehen. Gegebenenfalls werden bestimmte Szenen vor der allgemeinen Aufführung herausgeschnitten, nicht selten kommt ein Film, da er als glaubens- oder sittengefährdend eingestuft wird, gar nicht erst zur Aufführung.

Die "Berufung" zum Opus Dei wird als "unverdiente Gnade" verstanden, die allerdings verpflichtet. Die Mitglieder der Vereinigung sollen ihren Glauben vor den Menschen, mit denen sie zu tun haben, bezeugen und unter ihnen ein "Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens" üben.

Es ist der Hauptzweck jeder Einrichtung des Opus Dei, sei es nun ein Jugendclub, ein Studentenheim, ein Zentrum für Erwachsenenbildung, eine Schule oder eine Universität: mit anderen in Kontakt zu kommen, ihnen die christliche Botschaft weiterzugeben und vor allem viele als Mitarbeiter und Mitglieder für die Vereinigung zu gewinnen. Diese Einrichtungen sind im Verständnis der Vereinigung in erster Hinsicht "apostolische Aufhänger" und "Hilfen für das Apostolat". Oberstes Ziel der Arbeit des Opus Dei ist die

Gewinnung neuer Mitglieder für die Vereinigung, der "Proselytismus". Es ist eine Gewohnheit im Opus Dei, am Vorabend des Festes des heiligen Josef (19. März) eine sogenannte "Josefsliste" zu erstellen. Nach gemeinsamer Anrufung des Heiligen Geistes soll jedes der Mitglieder eines "Zentrums" zwei "Freunde" seines Apostolates benennen, von denen es überzeugt ist, daß sie im Lauf eines Jahres "pfeifen", das heißt Mitglieder der Vereinigung werden können.

Die vorgeschlagenen Namen werden bisweilen "diskutiert". Gegebenenfalls wird der Priester um seine Meinung gebeten. Die Liste wird schließlich in einem Umschlag verschlossen und von dem Leiter des Hauses aufbewahrt, um dann im folgenden Jahr unmittelbar vor Erstellung der neuen "Josefsliste" wieder geöffnet und verlesen zu werden. Großer Jubel und Applaus für diejenigen, die tatsächlich Mitglieder geworden sind, "gepfiffen" haben; Nachfragen zu denen, die diesen Schritt nicht oder noch nicht gegangen sind.

Zwar besteht das Ziel, daß jedes Mitglied der Vereinigung jährlich zwei neue Mitglieder zuführen soll, doch in der Zeit, als ich der Vereinigung angehörte, waren es zumindest in Deutschland bedeutend weniger, die jährlich hinzukamen.

Immer wieder war von seiten der Kommission oder aus Rom zu hören, daß es zu wenige seien, die sich dem Opus Dei anschlössen. Daß es darum gehen müsse, Gott um mehr Berufungen zu bestürmen, mehr zu beten, großzügiger in der Abtötung und apostolischer zu sein. Zu Lebzeiten des Gründers habe ich oft miterlebt, wie in den Beisammensein darüber spekuliert wurde, wann denn der "Vater" einmal wieder Deutschland besuchen würde. Die Mitglieder der Kommission pflegten darauf zu anworten: "Wenn mehr Leute pfeifen."

1976 traf ich während der Oster-Romfahrt im Generalhaus der Vereinigung mit zwei anderen zufällig auf den Generalpräsidenten des Opus Dei, Alvaro del Portillo. Er fragte uns, woher wir kämen. Als wir antworteten, daß wir aus Deutschland seien, sagte er in deutsch: "Ich erwarte sehr viel von Deutschland." Solche Begegnungen und Aussprüche werden in der Vereinigung weitererzählt und tradiert.

Diejenigen, von denen man den Eindruck hat, daß sie den "Geist des Werkes" verstehen und in ihrem "inneren Leben" Fortschritte machen, werden in aller Regel zu einem der "Kreise" eingeladen, die für Nichtmitglieder wöchentlich abgehalten werden. Sie nehmen dann an der sogenannten "Arbeit von St. Raphael" (oder von "St. Gabriel", wenn sie bereits verheiratet oder berufstätig sind) teil und werden dem engsten Freundeskreis des Opus Dei zugerechnet.

Zu den Mitteln der "Arbeit von St. Raphael" gehören auch die sogenannten "Armenbesuche". Diese zu organisieren war einer meiner ersten Aufträge kurz nach meinem Eintritt in das Opus Dei. Unter "Armenbesuchen" werden Besuche bei meist älteren, einsamen Menschen verstanden, die von einem Mitglied der Vereinigung zusammen mit einem "Freund" seines Apostolates von Zeit zu Zeit durchgeführt werden.

Die älteren Menschen, die besucht werden, wohnen meist in einem Altenheim, mit dessen Leitung vorher Rücksprache genommen wurde. Bisweilen erhält man auch über eine Pfarrei oder einen Bekannten eine Privatadresse. Der Besuch besteht im wesentlichen darin, dem älteren Menschen ein wenig Gesellschaft zu leisten.

Das Anliegen, das bei solchen "Armenbesuchen" verfolgt wird, ist im Grunde nur vordergründig sozial oder karitativ. Als ich den Auftrag bekam, die Armenbesuche zu organisieren, wurde mir ausdrücklich gesagt, daß ich dafür Sorge zu tragen hätte, daß jemand in der Regel nur einmal besucht würde und daß sich daraus kein regelmäßiger Besuchstermin ergebe oder irgendeine Verpflichtung für Mitglieder der Vereinigung erwüchse.

"Wir sind kein Sozialverein", wurde mir gesagt. Der alte Mensch, der da besucht wird, ist letztlich nur Mittel zum Zweck; um ihn geht es nur sekundär. Primäres Ziel ist es, die "Betroffenheit" des "Freundes", die bei einem solchen "Armenbesuch" entsteht, zu nutzen und seinen Gesichtskreis auf anderes hin zu öffnen. Die "Armenbesuche" werden deshalb auch zu den "Ausbildungsmitteln" gerechnet.

In einem Brief der ehemaligen Numerarierin Petra H. heißt es: "Mit 16 versorgte ich in den Ferienmonaten eine dreiköpfige Kinderschar, so daß die Eltern verreisen konnten. Noch als ich zum Opus Dei kam, fuhr ich öfters nach S., um der Mutter einen Einkaufsnachmittag zu ermöglichen, außerdem war eine nette Freundschaft entstanden, für die Kinder war ich schon eine integrierte Tante. Als Entgelt bekam ich kleinere Geschenke.

Im Opus Dei wurde mir jedoch nahegelegt, daß diese unbezahlte Zeit nicht lohne und ich meine Kräfte ganz dem Opus widmen solle. Ich war damals dieser Familie gegenüber beschämt, weil ich nicht mehr, wie bisher, spontan helfen konnte. Für ein entsprechend hohes Honorar hätte ich vielleicht weiter arbeiten dürfen. Da dies aber nicht möglich war, wurde die Familie fallengelassen. Von einfacher Nächstenliebe kann da wohl kaum noch die Rede sein."