Maria del Carmen Tapia:

Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei.

Der schockierende Bericht einer Frau. Zürich 1993

 

[Ausschnitt: Der Ausschluss aus dem Opus Dei]

 

Zuallererst möchte ich den Leser darauf aufmerksam machen, daß ich alles, was ich jetzt berichten werde, so detailgetreu darzustel­len vermag, weil ich nach meinem Austritt aus dem Opus Dei sozusagen als Übung, um meinen Verstand wieder ins rechte Lot zu bringen, alle Fakten, Gespräche und Namen von Personen, die dabei eine Rolle spielten, aufgeschrieben habe. Ich dachte mir, daß ich im Laufe der Jahre eventuell Fakten und Namen vergessen könnte, und etwas in meinem tiefsten Innern sagte mir, ich solle diese Ereignisse zusammentragen, nicht aus Rachsucht, sondern um dies wahrheitsgetreu darstellen zu können.

Am 11. Oktober [1965] war ich mit Ana María Gibert, der Leiterin der Escuela Hogar, gerade beim Einkaufen, als Roberto Salvat Romero, der Consiliarius, in „Casavieja“ anrief und befahl, man solle mich überall suchen, es sei sehr dringend. Wenn ich ausging, rief ich gewöhnlich von einer Telefonzelle aus im Haus an, um mich zu erkundigen, ob etwas Dringendes anliege. Diesmal telefonierte Ana María, und man gab die Nachricht an sie weiter.

Wir begaben uns unverzüglich zur Verwaltung von „La Trocha“, wo der Consiliarius wohnte. Über die Sprechanlage kündigten wir uns an. (Ana Maria Gibert war meine interne Leiterin, saß in der regionalen Leitung, in der Asesoría, und war zudem asociada inscrita.) Als der Consiliarius kam und Ana Maria und mich sah, fragte er:

„Kannst du jetzt nach Hause gehen?“

„Ja, selbstverständlich“, erwiderte ich.

„Ist Eva Josefina dort?“

Sie war, wie gesagt, die Delegierte und Sekretärin der Asesoría  Re­gional.

„Ja, sie ist da“, antwortete ich.

„Dann werden Don José María Félix und ich auch gleich dorthin kommen.“

Wir gingen nach Hause, und tatsächlich kamen sie eine Viertelstunde später zu uns. Im Besuchersaal stand Don Roberto und sagte zu mir:

„Sieh mal, ich habe gerade eine Nachricht aus Rom erhalten, die bes­agt, du sollst so schnell wie möglich dorthin reisen, Der Padre möchte, daß du dich dort ein paar Tage erholst. Du sollst direkt, ohne Zwischenstopp zu ihm kommen. Er hat wohl wieder ein Pöstchen für dich!»

Ich blieb ganz ernst und fragte ihn:

„Finden Sie das nicht seltsam?“

„Seltsam? Warum denn? Du weißt doch, daß der Padre die Obersten sehen will, denn er sagt, es sei wie das Lied „si fa sera nella sua vita“ (etwa: sein Lebensabend bricht an). Welche netten Einzelheiten willst du denn noch wissen? Kauf dir ein Hin- und Rückflugticket. Logi­scherweise wirst du vierzehn Tage in Rom bleiben, dann wird dir der Padre in seiner väterlichen Art sagen, du sollst über Spanien zurückrei­sen, damit du dort wenigstens für ein, zwei Wochen deinen Vater besu­chen kannst, und dann kommst du wieder hierher zurück.“

„Aber glauben Sie denn allen Ernstes, daß ich wiederkomme?“

„Wie dumm du doch bist. Anstatt dich auf ein paar glückliche Tage in Rom zu freuen, verdirbst du dir die ganze Reise. Am besten ist es, wenn du so schnell wie möglich abreist. Noch in dieser Woche solltest du in Rom sein, denn wenn der Padre ruft, will er, daß man unverzüg­lich erscheint.“

Ich erklärte dem Consiliarius, daß mein Reisepaß nicht mehr gültig sei und ich weder ein Visum noch einen internationalen Impfpaß hätte.

Der Consiliarius beharrte darauf, daß ich die Reise so schnell wie möglich antreten sollte.

Währenddessen bestätigte die Delegierte all seine frohlockenden Versicherungen mit einem Kopfnicken.

Es erschien mir merkwürdig, daß er die Nachricht aus Rom nicht dabei hatte, da uns der Consiliarius stets jede Mitteilung für die Frau­enabteilung zu lesen gab.

Ich sprach mit Don José María Peña, der mir vorschlug, ich solle den Consiliarius anrufen und darauf bestehen, daß er mir die Nachricht aus Rom vorlesen solle. Ich fragte Don José María Peña auch, ob es von schlechtem Geist zeuge, wenn ich dem Padre, gesetzt den Fall, er wiese mich an in Rom zu bleiben, erklärte, daß ich gern zu meiner Arbeit nach Venezuela zurückkehren wollte. Don José María sagte mir ganz eindeu­tig, daß dies keinesfalls von schlechtem Geist zeuge, da es stets geheißen Ländern leben, in denen sie auf ihre Weise innerhalb des Opus Dei am besten Gott zu Diensten sein konnten. Dieser Gedanke beruhigte mich zutiefst.

Ich rief ihn also an, und da er nicht anwesend war, sprach ich mit Pater Felix. Der war etwas verblüfft über meine Hartnäckigkeit und wiederholte beinahe wörtlich, was mir der Consiliarius am Morgen mitgeteilt hatte. Man ließ mich jedoch weder die Mitteilung sehen, noch las man sie mir vor. Es wurde mir nur noch einmal gesagt, der Padre wünsche, daß ich für einige Tage zur Erholung nach Rom kommen sollte.

Dieser Mangel an Klarheit ließ mich vermuten, daß etwas anderes hinter der Mitteilung steckte, etwas, von dem ich nichts wissen sollte; und das verursachte in mir ein unbehagliches Gefühl. Ich hatte so eine Vorahnung, daß dem Consiliarius und der Delegierten meine forschen­de Haltung gegenüber den Dingen, die aus Rom kamen, nicht gefiel, und sie mir nicht, wie geboten, einen brüderlichen Tadel erteilten, son­dern darüber die Zentrale in Rom informiert hatten, damit man mich aus dem Land abriefe. Das war sehr wohl möglich, dem Verhalten nach zu urteilen, das ich seit einiger Zeit sowohl beim Consiliarius, als auch bei der Delegierten, nachdem sie aus Rom zurückgekehrt war, feststel­len konnte. Die Art und Weise, in der sie einer Leiterin mitteilten, sie habe sich auf den Weg nach Rom zu machen, um sie dann dort für alles, was nicht im Einklang mit dem Geist des Opus Dei stand, Prügel be­ziehen zu lassen, war hinterhältig.

Nach allem, was da anscheinend zusammen mit der Delegierten aus­geheckt worden war, hatte ich das Gefühl, als hätte man mir einen Schlag vor den Kopf versetzt. Wenn mich auch Ana María Gibert ein­dringlich bat, mich von dieser Idee zu lösen, es gelang mir nicht. Meine bisherige Gutgläubigkeit hatte ein Ende gefunden. Es gab zu viele In­dizien, die meine Befürchtungen, daß sich über mir etwas zusammenbraute, bestätigten.

Die Nachricht war mir am Morgen des 11. Oktober mitgeteilt wor­den, und vier Tage später, am 15. Oktober um 23.30 Uhr, saß ich im Flugzeug nach Rom.

Ich verabschiedete mich von niemandem. Der Consiliarius und die Delegierte versicherten mir, es sei nicht der Mühe wert, daß ich mich für ein paar Tage Abwesenheit groß verabschiedete, und schon gar nicht von den höchsten Vorgesetzten der Kirche. Es war vorgesehen, daß ich etwa vierzehn Tage lang fortbleiben würde. Nichtsdestoweniger hinterließ ich alles geordnet und unterschrieb mehrere Blankoseiten, wie es vorgeschrieben war.

Die drei Tage bis zu meiner Abfahrt verbrachte ich damit, meine Papiere  in Ordnung zu bringen, ein Visum für Italien einzuholen und mir Winterkleidung zu kaufen. Am wenigsten war mir jetzt nach Ein­kaufen zumute. Ich war traurig, klammerte mich aber dennoch an die Hoffnung, der Consiliarius sage die Wahrheit, so wie sich eine Ertrin­kende an einen Strohhalm klammert. Aber mein sechster Sinn sagte mir, daß alles nicht stimmte. Natürlich hörte die Delegierte gar nicht auf, Monseñor Escrivás Güte zu preisen, daß er mich zur Erholung nach Rom kommen ließ. Sonderbarerweise bestätigten mir alle Asesoras, wie seltsam ihnen meine Reise erschien und wie erschrocken sie darüber waren. Uns allen war klar, daß ich nicht würde schreiben dürfen, aber ich versprach ihnen, sie in irgendeiner Weise über die Geschehnisse zu informieren. Ich bat sie, für mich zu beten.

Eines Morgens, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen, begab ich mich ins Zentrum von Caracas, zur Plaza Bolívar, betrachtete die Rei­terstatue des Libertador und mußte lächeln beim Gedanken daran, daß ich bei meiner Ankunft den Vergleich mit Monseñor Escrivá als eine Beleidigung angesehen hatte. Ohne mir dessen bewußt gewesen zu sein, hatte ich in den vergangenen zehn Jahren gelernt, die Vorkämpfer der südamerikanischen Befreiung zu bewundern, und war zu der Ansicht gelangt, daß kein Land das Recht hatte, sich als Besitzer eines anderen anzusehen. Instinktiv übertrug ich diese Idee auf die Tatsache, daß die Leiter des Opus Dei in den meisten Ländern Spanier sind, ebenso in Rom in der zentralen Leitung. Am Nachmittag vor meiner Abreise aus Caracas suchte ich die Kirche La Pastora im Stadtzentrum auf. Ich weiß nicht mehr, welches Fest gefeiert wurde, ich erinnere mich nur noch daran, daß es sehr geräuschvoll zuging. Ich betrachtete die Statue der Jungfrau, dargestellt als Schäferin, und bat sie um Vergebung für all die Fehler, die ich begangen hatte. Zudem bat ich sie inständig, sie möge die junge „Schar“, die ich zurückließ, behüten.

Es schmerzte mich, dieses Land zu verlassen. Ich hatte ihm all meine Mühe und Kraft gegeben; hatte mich völlig mit ihm identifiziert und stets versucht, den Geist des Opus Dei zu übermitteln.

Zudem kostete es mich große Anstrengung, Eva Josefina nicht eine Heuchlerin zu nennen. Ich war im tiefsten Inneren davon überzeugt, dass sie es war, die alles angezettelt hatte. An meinem Amt selbst hing ich nicht besonders. Dreimal war es verlängert worden. Ich wollte bloß in diesem Land arbeiten. Die Ämter an sich bedeuteten nichts anderes, als dass man sie auszuführen hatte. Den Reisesegen erteilten mir der Consiliarius von Venezuela und der von Kolumbien, der mich anwies, in Rom nichts von seiner Anwesenheit in Venezuela verlauten zu lassen, da nur der Padre und Don Alvaro in der Lage seien, diese Reise zu verstehen. Der Consiliarius Venezuelas sagte: „Wir erteilen dir beide den Segen. Einer für die Hinfahrt; der andere für die Rückkehr.“

Als man von meiner Abreise nach Rom erfuhr, sagte Lilia Negrón, eine Ärztin und bereits verheiratet, die ich seit fünfzehn Jahren kannte, in sehr ernstem Ton zu mir: „Du kommst nicht zurück. Dich behalten sie da.“ Lilia war eine meiner treuesten Freundinnen. Wir kannten uns von der Schule her. Lilia gehörte zu den Personen, von denen das Opus Dei sagte, ich solle ihnen nicht so viel Zeit widmen, da sie als Numera­rierinnen nicht in Frage kämen. Ich habe diese Anweisung nie weiter beachtet. Ich habe meine Zeit immer denen gewidmet, die mich darum baten oder sie benötigten, aus dem einfachen Grund, weil ich niemals glaubte, daß „meine Zeit“ mein Eigentum sei, sondern überzeugt war, daß Gott sie mir nur überlassen hatte, um sie zu verwalten. Und daran glaube ich noch immer.

Cecilia und Héctor Font, beide Supernumerarier, die mich sehr gerne hatten, brachten mich zum Flughafen, zusammen mit meiner Leiterin Ana María Gibert. Das Warten auf dem Flughafen Maitequía war sehr traurig. Es war ein schwieriger Moment für alle, ganz besonders aber für mich, da ich eine Reise mit „Kurs ins Unbekannte“ antrat. Wo würde der Weg enden?

 

Die andere Seite der Medaille

 

Wieder ein Sprung über den Atlantik. Als wir am nächsten Tag in Rom landeten, war es bereits dunkel. Am Busterminal standen die beiden Numerarierinnen Marga Barturen und Maribé Urrutia. Beide gehörten zu den Älteren im Werk und kannten mich. Sie freuten sich, daß ich gekommen war und fragten mich zu meiner großen Überraschung: „Warum kommst du eigentlich?“

Aufrichtig antwortete ich: „Ich weiß es nicht.“

Dann fuhren wir in die Villa Sacchetti 36. Im September 1956 hatte ich dieses Haus verlassen.

Wir standen noch in der Eingangshalle, als die zentrale Leiterin Mercedes Morado zusammen  mit Marlies Kücking, der Studienpräfektin, die Treppe hinunterkam. Nachdem wir uns überschwenglich begrüßt hatten, fragteMercedes:

„Wo sind deine Koffer?“

„Meine Koffer?“ fragte ich. „Ich habe bloß ein kleines Handgepäck für vierzehn Tage mitgebracht.“

Ich sah, wie Mercedes Marlies einen Blick zuwarf und lächelte. Dann sagte sie schnell:

„Sie sollen dir dein Zimmer zeigen.“

Lourdes Toranzo begleitete mich auf mein Zimmer.

Das Zimmer war schön hergerichtet worden: Blumen, Zimmer mit Dusche und Bad. Mich überraschte, daß mein Bett mit einer dicken Matratze ausgestattet war, wie man sie nur Kranken unterlegte, da die Numerarierinnen gewöhnlich auf der nackten Holzunterlage schliefen. Als ich die Türen des Waschkabinetts öffnete, entdeckte ich auf dem Fußboden einen Nachttopf. Befremdet fragte ich: „Was macht dieser Nachttopf hier?“

Mir wurde erwidert, der Padre habe angeordnet, daß den Numera­rierinnen ab deren 40. Lebensjahr ein Nachttopf ins Zimmer gestellt werden sollte. Seit einigen Monaten hatte ich mein 40. Lebensjahr voll­endet.

Ich hatte meine Reisetasche noch nicht ganz ausgepackt, als man mir über das Haustelefon, das im Flur hing, mitteilte, ich solle unver­züglich ins Eßzimmer der Villa Vecchia kommen, wo mich der Padre erwarte.

Zusammentreffen mit dem Padre

 Rosalia, die Sirvienta, sagte mir, man würde mich erwarten und ich solle eintreten, ohne anzuklopfen. Ich betrat den Eßsaal der Villa, wo Mon­señor Escrivá und Don Alvaro del Portillo gerade das Abendessen beendet hatten. Mon­señor Escrivá saß am Kopfende des Tisches, Don Alvaro zu seiner Linken, die zentrale Leiterin zu seiner Rechten, und die Präfektin der Sirvientas, die Ärztin María Jesús de Mer, war ebenfalls anwesend. Ich trat an Mon­señor Escrivás Stuhl und küßte ihm die Hand, ein Knie auf dem Boden, wie es im Opus Dei angeordnet ist.

„Wie war deine Reise?“

„Sehr gut, Padre, vielen Dank.“

Wie geht´s den anderen da unten? Er meinte die Numerarierinnen in Venezuela.

„Gut, Padre. Nur Begoña (Begoña Elejalde war gerade operiert wor­den, sie litt an der Hodgkinschen Krankheit) macht mir große Sorgen ihrer unglücklichen Lage.“

„Unglückliche Lage nennst du den Umstand, daß sie bald bei Gott sein wird? Ein Segen ist das! Was für ein Glück sie hat! Wie glücklich kann sie hei dem Gedanken daran sein, bald zu sterben! Und wer ist Begoña überhaupt? Seit wann hat sie das?“ Die zentrale Leiterin hatte Mon­señor Escrivá etwas zugeflüstert. Mir fiel auf, daß der Padre eine asociacia inscrita, Gründerin der Region Venezuela und Mitglied der Asesoría Regional (mit zwei Ämtern) nicht kannte. Natürlich wußte er auch nicht, daß sie krank und gerade operiert worden war, was mich verwunderte, denn wir hatten zu gegebener Zeit sofort die Asesoría  Central davon in Kenntnis gesetzt. Aber ich erklärte es mir damit, daß man den Padre damit nicht weiter behelligen wollte.

Mon­señor Escrivá fuhr fort:

„Und wie steht es mit deiner Gesundheit?“

„Sehr gut, Padre“, antwortete ich ihm.

„Weshalb hat dich kein Arzt untersucht?“

„Doch, Padre, jedes Jahr wird eine gründliche ärztliche Untersu­chung durchgeführt.“

„Wie auch immer! Chus“, er wandte sich an die Ärztin, „sieh sie dir an! Sie soll essen, schlafen und ausruhen. Wir haben hier viel Arbeit für dich. Darüber sprechen wir noch. Jetzt ruh' dich aus, iß und schlaf'.“

Und mit diesen Worten verließ er mit Don Alvaro del Portillo das Eßzimmer.

Da ich Mon­señor Escrivá kannte, hatte ich bemerkt, daß in seiner Stimme etwas lag, das seinen Ärger verriet, obwohl er sich große Mühe gab, höflich zu sein. Ich wies den Gedanken wieder von mir und glaubte erneut, meine Phantasie spiele mir einen Streich.

Als ich aus dem Eßzimmer ging, fragte ich Mercedes im Vertrauen: „Sag mir nur eines, Mercedes. Warum sollte ich nach Rom kommen? Ich fahre doch wieder zurück nach Venezuela, oder?“

„Was hat man dir gesagt?“

„Nur daß der Padre will, daß ich mich hier ein paar Tage erholen soll.“

„Den 18., 19. und 20. Oktober verbrachte ich in meinem Zimmer - ohne geringste Tätigkeit. Ich durfte nur zu den für die Gemeinschafts­tätigkeiten angegebenen Zeiten das Zimmer verlassen und mußte die restliche Zeit mit der Asesoría  Central verbringen. Jedesmal, wenn ich einen Versuch unternahm, mein Zimmer zu verlassen, etwa uni in den Garten zu gehen, stieß ich auf Lourdes Toranzo, deren Zimmer neben meinem lag und die mich fragte, wohin ich gehen wollte. Ich sagte ihr einfach, zum Beten des Rosenkranzes oder in den Garten. Sie fand dann immer einen anderen Vorwand, wie etwa: in dem Teil des Hauses befin­de sich gerade Besuch, oder die Handwerker seien dabei, etwas zu re­parieren, und riet mir, wieder in mein Zimmer zurückzugehen. Mir war es jedoch gestattet, am regelmäßig stattfindenden Gottesdienst teilzu­nehmen.

Im Vergleich zu den meisten anderen genoß ich eine bevorzugte Be­handlung, da ich an den Gemeinschaftstätigkeiten der zentralen Lei­tung teilnehmen durfte; nach all der Zeit, die ich dem Opus Dei ange­hörte, war mir bewußt, daß ich unter strikter Überwachung stand. De facto fühlte ich mich überwacht, seit ich nach Rom gekommen war.

Einige Tage später wies mich eine der Asesoras an, das vertrauliche Gespräch mit Marlies Kücking zu führen, einer Deutschen, die Studien­präfektin in der Leitung der Asesoría  Central war und heute zentrale Leiterin der Frauenabteilung des Opus Dei ist.

Marlies war die einzige in der Asesoría  Central, die ich noch nicht kannte. Mir wurde klar, daß sie im Familienleben der Satellit der zen­tralen Leiterin war und dem Padre außerordentlich gut gefiel.

Mir wurde deutlich, daß man Mary Carmen Sánchez-Merino, die Sekretärin der Asesoría  Central, beiseite gedrängt hatte, um Marlies Kücking Platz zu verschaffen.

Nachdem ich vier Tage lang absolut nichts getan hatte und auch nur zur Erfüllung der Gemeinschaftstätigkeiten mit der Asesoría  Central aus meinem Zimmer herausgekommen war, bat ich Mercedes Morado, man möge mir irgendeine Arbeit übertragen. Sie beauftragten mich da­mit, eine Kartei des gesamten Büchermagazins, das man nicht Biblio­thek nannte, anzulegen, sowohl von der Männer- als auch von der Frauenabteilung. Und zwar sowohl in alphabetischer Ordnung als auch nach thematischen Einheiten.

Mir war klar, daß dies            Knochenarbeit bedeutete, zudem Monate in Anspruch nehmen würde. Trotz allem arbeitete ich eifrig daran, war jedoch im Haus völlig isoliert.

 

 

Unbekannte Gründe 

Zwei Wochen vergingen, ohne daß mir jemand den Grund für meinen Aufenthalt in Rom. nannte. Ich sprach darüber mit Marlies Kücking und erzählte ihr, meine Abreise aus Venezuela sei so überstürzt gewesen, daß mir der Consiliarius geraten habe, meinen Eltern nach meiner An­kunft aus Rom zu schreiben. Marlies sagte, ich solle ihnen schreiben, aber sie würden den Brief nach Venezuela schicken, damit man ihn dann von dort meinen Eltern nach Spanien senden konnte. Es erschien mir eine Farce, den Brief von Rom aus erst nach Venezuela und dann von dort aus nach Spanien zu schicken. Ich erfuhr nie, warum.

Aus Venezuela besuchte uns das Ehepaar Betancourt, die die Nieder­lassung des Opus Dei in Maracaibo ermöglicht hatten.

Die Besuche, die Mon­señor aus dem einen oder anderen Land erhielt, wurden sorgfältig vorbereitet und protokolliert, denn das zentrale Haus hatte mit Billigung des Padre festgelegt, daß 1) die Leiter des jeweiligen Landes eine Erklärung abgeben mußten, warum bestimmte Personen von Mon­señor Escrivá empfangen werden wollten; 2) man in diesen Ländern demjenigen, der den Padre in Rom zu besuchen wünschte, von den „notwendigen Dingen“, derer Mon­señor Escrivá be­durfte, Mitteilung machte. Das hatte nichts anderes zu bedeuten, als daß ein Geschenk „in bar“, also Geld, mitzubringen war, neben anderen „Kleinigkeiten“. Viele Leute sandten lange im voraus einen Scheck, bzw. übergaben ihn bei ihrer Ankunft, keiner der Besucher kam mit leeren Händen.

Im Familienleben der Asesoría  Central fühlte ich mich total über­wacht. Die brüderlichen Tadel, die man mir erteilte, waren absurd. Bei­spielsweise, daß mein Akzent venezolanisch geworden sei. Aber zu­sammen mit dem brüderlichen Tadel warf man mir immer wieder das­selbe vor: daß ich mich ungeheuer selbstsüchtig zeige und versuche, andere in den Schatten zu stellen. Wenn ich sagte, sie sollten mir ein Beispiel           nennen, damit mir mein Vergehen klar würde, wußten sie keine Antwort. Infolgedessen beschränkte ich mich darauf, im Familienleben nur noch wenige Antworten zu geben.

Zu alledem gab mir niemand Auskunft darüber, ob ich meine Eltern in Spanien würde besuchen können, oder ob ich gar nach Venezuela zurückkehren könnte. Nichts von alldem verlautete. Es zeichnete sich nur schemenhaft ab, daß man Pläne mit mir hatte, über die mir Mon­señor Escrivá Näheres mitteilen würde. Man versuchte mich wie ein Kind abzulenken. ich spürte den Boden nicht mehr unter meinen Füß­en. Dennoch ging ich eines Tages mit einer der Asesoras aus, um ein paar Dinge einzukaufen. Wenn die Leiterin eines Landes nach Rom kommt, geht man gewöhnlich mit ihr aus, um ein paar Kleinigkeiten, die in der jeweiligen Region gebraucht werden, einzukaufen. Aber mir wurde deutlich, daß alles nur ein Schwindel war. Sie machten sich über mich lustig.

Ich legte die Beichte bei Don Carlos Cardona, dem ordentlichen Beichtvater des Hauses, ab, der zuvor, soviel ich weiß, Seelsorger der zentralen Leitung gewesen war. Bei meiner ersten Beichte berichtete ich ihm in meiner großen Angst von der seltsamen Art, mit der mich die Superioren behandelten, die völlig im Gegensatz zu der Erklärung stand, die mir der Consiliarius für meine Reise nach Rom gegeben hatte. Zudem hatte ich den Padre seit dem Abend meiner Ankunft nicht wie­dergesehen. Während der ersten beiden Beichten zeigte sich Don Car­los Cardona liebenswürdig und verständnisvoll, aber nach ein paar Ta­gen wandelte sich seine Art. Er sagte mir immer wieder, meine Abreise aus Venezuela sei von der göttlichen Vorsehung bestimmt worden, da mein Seelenheil in Gefahr gewesen sei, und zwar aufgrund eines feinen Hochmuts, den er als Beichtvater im Namen Gottes verstünde, zu dem er mir aber weiter nichts Konkretes sagen konnte, als ich ihn darum bat. Er wiederholte immer wieder, er sehe mein Seelenheil gefährdet. Mir war klar, daß er entweder vom Padre oder von den Oberinnen, auf Anordnung des Padre, Anweisungen erhalten hatte, wie mit mir zu ver­fahren sei. Meine Beklemmungen wurden immer schrecklicher.

In den vertraulichen Gesprächen und bei der Beichte ließ man durch­blicken, daß ich in Venezuela furchtbare Dinge getan hätte, die sich, wie man mir zu verstehen gab, gegen den Padre und den Geist des Werkes richteten. Als ich jedoch darum bat, man möge mir deutlich sagen, wo­von die Rede sei, damit ich mich korrigieren und Reue zeigen könnte, erhielt ish als einzige Antwort, es sei ja kaum möglich, dass ich von nichts wüßte. Und diesen Standpunkt vertraten alle.

Meine Beklemmungen waren inzwischen so fürchterlich geworden, daß ich eines Abends nach dem Abendessen beschloß, mit Mercedes Morado, der zentralen Leiterin, zu sprechen. Ganz offen sagte ich ihr, daß ich eine große Anspannung um mich herum verspürte und daß sie mir doch sagen solle, was man mit mir zu tun gedenke, da jetzt ein Monat seit meiner Ankunft aus Venezuela vergangen sei und ich immer noch nicht wüßte, warum ich nach Rom hatte kommen sollen. Dann fing ich an zu weinen. Sie reagierte äußerst kühl, und als wollte sie das Gespräch damit beenden, sagte sie:

„Glaub mir, ich weiß nichts.“

Woraufhin ich antwortete, daß es mich Mühe koste, zu glauben, daß sie, die zentrale Leiterin, nicht wüßte, warum ich in Rom sei. Aber schließlich sagte ich:

„Doch, ich glaube dir. Ebenso wie ich auch an die Mitteilung des Padre glaube, in der er bestimmte, ich solle für ein paar Tage lang hier­her kommen, um mich auszuruhen.“

Im vertraulichen Gespräch gab ich verschiedene Punkte an, die mir im zentralen Haus sehr aufge­fallen waren: Mangel an Universalität; eine von spanischer Lebens- und Denkungsart außer­ordentlich beherrschte Atmosphäre. Man sprach kein Italienisch, und das Land, um das sich alles drehte, war Spanien. Es herrschte ein ungemütliches Klima, und die Leiterinnen verhielten sich unpersönlich und verbreiteten so eine Aura völliger Gefühlskälte; dem Padre wurde eher Servili­tät entgegen­gebracht als Liebe, zudem wurde ein exzessiver Kult um seine Person betrieben. Im Familienleben gab es keine Unbefangenheit, dazu konnte niemand von uns entscheiden, wann er kommen oder gehen wollte. Und vor allem, betonte ich während dieses vertraulichen Gesprächs, herrsche eine Art von Diskretion, die ich eher als mysteriös bezeichnen würde, aber auch zu­gleich als ziemlich dumm. Beispielsweise wurde mir nie gesagt, daß und wann eine Numerarierin aus einem anderen Land kam, und ich stellte dies erst dann fest, wenn wir uns zufällig auf dem Flur oder in der Kapelle begegneten.

Natürlich sagten mir sowohl Marlies Kücking während des vertrau­lichen Gesprächs als auch Don Carlos Cardona bei der Beichte, daß dies meinem kritischen Geist entspringe. Und dafür, daß ich über irgendeine dieser Anmerkungen flüchtig mit einer Numerarierin oder Sirvienta gesprochen hatte, wurde mir ein scharfer Tadel erteilt; wobei man mir sagte, ich verhielte mich skandalös, sei verleumderisch und ein schlechtes Beispiel. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr wußte, was ich sagen sollte.

Nicht ein einziges Mal sprachen die Oberinnen mit mir über Venezuela. Ich hatte beinahe das Gefühl, ein außerirdischer Eindringling zu sein.

Eines Abends sagte Rosalía López, die Sirvienta des Padre, zu mir:

„Der Padre hat mich gefragt. wie es Ihnen geht.“

Ich hatte den Padre seit dem Abend meiner Ankunft nicht mehr ge­sehen.

„Und was haben Sie ihm gesagt?“ fragte ich sie.

„Na ja, daß Sie sehr venezolanisch sind und auch so sprechen.“

Ich gab acht, daß ich in ihrem Beisein nichts Unbedachtes sagte, da ich genau wußte, daß sie sofort dem Padre darüber berichten würde.

Die Stimmung in der Villa Sacchetti und im zentralen Haus erinner­te mich lebhaft an eine Szene aus dem Film Geschichte einer Nonne, nach dein Roman von Catherine Hulme, in der die Titelfigur das zen­trale Haus des Ordens in Belgien streichen muß und ihre Oberinnen „wandelnde Regeln“ nennt. Genau dasselbe Gefühl hatte ich auch: ich hatte es mit „wandelnden Regeln“ zu tun, und nicht mit menschlichen Wesen.

Die Atmosphäre im Haus in Rom ähnelte der in einem Kriminalro­man: die Kälte der Oberinnen, das Eingesperrtsein, die Gesetzestafeln und das Leben der Schrift des Geistes, anstatt den Geist der Schrift zu leben, eingehüllt in diese „mysteriöse Diskretion“ und das ewige „der Padre sagt“, „der Padre mag es, wenn...“, „der Padre hat gesagt,...“, „der Padre ist hier entlang gegangen“, etc., etc.

Meine Gedanken waren zwiespältig: Einerseits dachte ich, Rom, wie ich es in den Jahren 1952 bis 1956 erlebt hatte, war nicht offener gewe­sen als jetzt. Wir hatten damals wie die Verrückten geschuftet, aber in meiner Erinnerung war der Umgang miteinander menschlicher gewe­sen. Andererseits hatte mich der offene und aufrichtige Charakter Ve­nezuelas verändert, und ich fühlte mich jetzt, da ich in das Haus der zentralen Leitung zurückgekehrt war, dem Ersticken nahe. Über die Kirche wurde nicht gesprochen, ebensowenig über das Apostolat, le­diglich über die Bekehrung. Gott wurde nicht annähernd so oft er­wähnt wie der Padre. Das Vatikanische Konzil wurde gefeiert, aber nicht während eines einzigen Beisammenseins erwähnt. Ich fühlte mich zermalmt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Rosalía López, das Dienstmädchen von Mon­señor Escrivá, zu mir sagte:

„Señorita, Sie können sich von Ihrer Heimat gleich verabschieden, denn Sie werden nicht nach Venezuela zurückkehren.

Als Antwort darauf erinnerte ich sie daran, daß sie die Dinge, die sie in der Verwaltung hörte, niemals weitersagen durfte. Jedenfalls wieder­holte ich ihre Worte der zentralen Leiterin, die mir erwiderte: „Und wem, schenkst du mehr Gehör; dem, was ich dir sage oder dem Gerede einer Sirvienta?“

„Natürlich dem, was du mir sagst“, gab ich zur Antwort.

„Dann achte dicht weiter auf das Geschwätz der Sirvienta.“

So begab ich mich in gewisser Weise etwas beruhigter zur Wache vor das Allerheiligste.

 

Enttäuschung

 

Im November wurde mir gesagt, der Padre verlange nach mir. Ich ging hinüber in den Versammlungsraum der Asesoría  Central. Der Raum ist nicht sehr groß; um dorthin zu gelangen, muß man die Kapelle der Asesoría  durchqueren. Die Wände und Sitzgelegenheiten in der Kapelle sind mit rotem Stoff bezogen, in der Mitte steht ein Refektoriumstisch. In einer der Wände ist eine bogenförmige Nische eingelassen, in der eine Skulptur der Jungfrau Maria steht.

Es war zwölf Uhr mittags. Ich betrat den Raum. Mon­señor Escrivá saß am Kopfende des Tisches. Don Alvaro del Portillo war nicht anwe­send, doch zu seiner Linken saß Don Javier de Echeverría, der zu dem Zeitpunkt nicht das Geringste mit der Frauenabteilung zu tun hatte. Rechts neben Mon­señor Escrivá saß die zentrale Leiterin Mercedes Morado und neben ihr die Studienpräfektin Marlies Kücking. Mon­señor Escrivá befahl mir, neben Marlies Platz zu nehmen.

„Schau Carmen, ich werde dich nicht Maria del Carmen nennen, wie du es gern hast», sagte er, wobei er seinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ, als suchte er Bestätigung. «Ich habe dich rufen lassen, um dir etwas zu sagen. Ich möchte, daß du hier in Rom arbeitest. Du fährst nicht zurück nach Venezuela! Wir haben dich mit Schwindeleien hierhergeholt“, sagte er mit einem amüsierten Lächeln, „denn andernfalls wärest du mit deiner Wesensart zu wer weiß  was imstande gewesen. Damit du es also weißt: Du kehrst nicht nach Venezuela zurück. Dort braucht man dich nicht, du wirst also nie wieder dorthin fahren. Ich hatte dich für eine Zeitlang dort gewähren lassen, damit du die heißen Kastanien aus dem Feuer holst, und das hast du ganz gut gemacht. Doch jetzt genug mit deinen ruchlosen Über­tretungen! Es ist besser, wenn du nicht wieder zurückfährst.“ Meine Stimme erklang voll­kommen unerwartet in dieser Versammlung, und alle Blicke richteten sich erstaunt und abweisend auf mich, als ich mit allem gebotenem Respekt sagte: „Padre, ich möchte gern in Venezuela leben und sterben.“ Monseñor Escrivá erhob sich von seinem Stuhl und schrie mich in völlig verbittertem Ton an:

„Nein, nein und nochmals nein!! Hast du gehört? Du fährst nicht zurück, weil ich es nicht will, und ich habe die Macht dazu, dich hier­hin zu schicken und einen anderen dorthin und so weiter, du hochmü­tiges Geschöpf! « Stehend deutete er mit dem Finger auf jeden der Anwesenden. „Du bleibst hier!!“

Mir war, als fiele es mir wie Schuppen von den Augen.

Betrübt erwiderte ich:

„Padre, das ist sehr schwierig für mich.“

„Wenn es schon schwierig für dich ist, dann ist es für mich“, schrie er, wobei er sich einen Schlag auf die Brust versetzte, „noch viel schwieriger, nicht nach Spanien zurückzukehren. Und hier bin ich: in Rom, angeekelt! Und wenn du Venezuela so sehr liebst, dann liebe ich Spanien noch viel mehr! Mit anderen Worten: Du hast es gefälligst hinzunehmen!“

Monseñor Escrivá stand auf und wir alle mit ihm. Und während er auf die Reliquienkapelle zuging, wandte er sich keuchend um und sagte zu mir:

„Außerdem ist es Hochmut! Ich werde jetzt die Messe abhalten und für dich beten. Bleib gefälligst eine Weile in der Hauskapelle.“ Und er ging hinüber in die Reliquienkapelle.

Ich blieb eine Weile in der Hauskapelle und sagte der zentralen Lei­terin, ich würde sie gern sprechen. Ich begleitete sie in ihr Arbeitszim­mer und konnte gar nicht wieder aufhören zu weinen. Unter Schluch­zen brachte ich hervor, daß es mich am meisten schmerze, daß man mich betrogen hatte, daß mich der Padre belogen und andere dazu ge­bracht hatte, zu lügen, und das wollte mir einfach nicht in den Kopf. Zudem sagte ich ihr, es erschiene mir verlogen, daß der Padre einen Brief hatte drucken lassen, in dem er behauptete, man würde jeden befragen, ob er in ein Land gehen wolle oder nicht. Mich hatte man nicht nur nicht gefragt, sondern sogar noch die ganze Zeit über belo­gen. Und ich schluchzte immer wieder, wie sehr es mir das Herz bre­che, daß mich der Padre belogen hatte. Ich ging zurück in mein Zimmer und wollte nichts essen. Ich verbrachte dort den ganzen Nachmittag. Die Ärztin Maria Jesús de Mer kam zu mir und zwang mich, gegen meinen Willen einige Tabletten zu schlucken, ohne mir zu sagen, was sie bewirkten. Es handelte sich um Schlaftabletten.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr ließ mich Mercedes Morado, die zentrale Leiterin, in den soggiorno von „La Montagnola“ (das Haus der Asesoria Central) rufen. Bei ihr waren Mary Carmen Sán­chez Merino, die Sekretärin der Asesoria, und Carmen Puente, die Geschäftsträgerin. Die zentrale Leiterin fragte mich, ob ich mich be­ruhigt hätte. Ich erwiderte ihr, ja, zuckte dabei aber mit den Schul­tern, um anzuzeigen, daß mir nichts anderes übrigbliebe. Sie fragte mich auch, ob ich immer noch glaubte, daß man mich belogen und daß der Padre mich betrogen hätte. Ich sagte:

„Ja. Selbstverständlich glaube ich das immer noch.“

Als mir bewußt wurde, daß sie mir diese Fragen vor den asesoras, die am Vortage nicht an der Versammlung teilgenommen hatten, ge­stellt hatte, fügte ich hinzu:

„Und was ist dies hier? Ein Verweis?“

Woraufhin Mercedes sagte:

„Aber nein. Wir sind besorgt und wollten sehen, wie es dir geht Genug jetzt. Geh in dein Zimmer.“

Ich trat ein. Monseñor Escrivá stand da, und man konnte den Zorn von seinem Gesicht ablesen. Zu seiner Linken saßen Don Javier Echeverría  (heute Monseñor Echeverría ) und Don Francisco Vives, beide mit bedeutungsvollen Mienen. Zur Rechten des Padre saßen die zentrale Leiterin Mercedes Morado, die Ärztin María Jesús de Mer und die Studienpräfektin Marlies Kücking. Alle blickten sehr böse drein. Bei diesem Anblick fühlte ich mich völlig niedergeschmettert.
Die Zusammenkunft verlief folgendermaßen: „Diese hier haben mir mitgeteilt», begann Monseñor Escrivá und zeigte mit dem Finger auf die zentrale Leiterin und die beiden anderen anwesenden asesoras, «du hättest die Nachricht, dass du nicht nach Venezuela zurückkehrst, mit Hysterie und Geschluchze aufgenommen.» Außer sich vor Wut schrie er mich an: «Was für ein schlechter Geist!!! Du wirst nicht nach Venezuela zurückkehren, weil du dort ein selbstsüchtiges Werk verrichtet hast, und schlecht dazu! Außerdem hast du Dokumente von mir verfälscht und verleumdet! Dokumente von mir!!! Einfach verfälscht!!“ All das schrie er mir keuchend entgegen, während er mit der geballten Faust vor meinem Gesicht herum­fuchtelte. Dann fuhr er fort:
„Und das ist schwerwiegend! Sehr schwerwiegend!!! Ich erteile dir einen kanonischen Verweis! Und zwar aktenkundig!» Mit diesen Worten wandte er sich Javier Echeverría  zu, der, wie gesagt, keinerlei Amt in der Asesoría Central bekleidete. «Beim nächsten Mal landest du auf der Straße! Immer wieder diese Techtelmechtel, seit 1948! Du und der andere! Und jetzt kommst du mir damit! Und hör auf zu heulen, was dir hier widerfährt, liegt an deinem Hochmut, einzig an deinem Hochmut.. .» Und während er diese Worte dauernd wiederholte, ging er durch den Raum auf die Sakristei zu.
Ich war wie versteinert. Zu keiner Bewegung imstande. Schäumend vor Wut befahl mir die zentrale Leiterin: «Verschwinde, bei all dem Verdruss, den du dem Padre bereitest!»
An dieser Stelle möchte ich eine Begebenheit einfügen, auf die sich Monseñor Escrivá zweifellos bezogen hat: Als ich mir im Jahre 1948 die Frage stellte, ob es mir mit meiner Berufung ernst war, unternahm ich eine Reise nach Valladolid, um an einer Versammlung ehemaliger Schülerinnen der Schule der Französischen Dominikaner teilzunehmen. Ich sprach darüber flüchtig mit Mère Marie de la Soledad, die, wie bereits erwähnt, meine Berufung zum Opus Dei nicht ganz verstand. Dennoch war ich zu der Schlussfolgerung gelangt, ich durfte, wenn Gott es so befahl, nicht länger zweifeln und musste ein für allemal meinen Verlobten vergessen. Ich sprach erneut darüber mit jener Nonne, die mir den Rat gab, meinen endgültigen Entschluss so schnell wie möglich Pater Panikkar mitzuteilen. Und mir kam nichts anderes in den Sinn, als ihm ein Telegramm nach „Molinoviejos“, wo er ein paar Tage verbrachte, zu schicken. Der Text des Telegramms lautete ungefähr so: „Ich habe alles für meine Mission geopfert, obwohl meine Liebe größer ist als je zuvor.“ (Dabei bezog ich mich selbstverständlich auf meinen Verlobten.) Dann unterschrieb ich. Natürlich verstand mein Beichtvater den Text, aber nicht der Leiter jenes Hauses, der das Telegramm zur Durchsicht öffnete und für einen Superior des Opus Dei mit einer Bemerkung versah, wie man mir später berichtete. Mehrere Monate vergingen, und während einer meiner Reisen nach Madrid rief mich Encarnita Ortega (die bereits in Rom lebte) in „Zurbarn“ an, um mir in der gröbsten Art und Weise mitzuteilen, (ich habe einem Priester des Opus Dei per Telegramm meine Liebe erklärt“. Ich war wie versteinert. Nichts hatte mir ferner gelegen. Und das sagte ich ihr. Ich traute meinen Ohren kaum, als sie mir sagte, sie und der Padre glaubten dies aber. Ich erklärte ihr die ganzen Zusammenhänge, aber sie wollte nicht verstehen. Schließlich erwiderte ich, es täte mir sehr leid, dass die Geschichte so verdreht ausgelegt worden sei, dass ich sie aufrichtig bedauere und meinen Beichtvater und Monseñor Escrivá um Verzeihung bitten würde. Ich fügte noch hinzu, nichts liege mir ferner, als einen der Priester des Padre zu beleidigen, der zudem noch mein Beichtvater sei. Danach fuhr ich eine Zeitlang seltener nach „Zurbarán“. Bei der Erteilung seines Verweises hatte mich Monseñor Escrivá wieder an jenen unseligen Zwischenfall, der jeder Grundlage entbehrte, erinnert.
Alle asesoras verließen den Raum und ließen mich in meinem angst- erfüllten Elend allein. Nur eine Anweisung war mir erteilt worden:
«Komm pünktlich zum Mittagessen.»
Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da gehört und gesehen hatte: Jener gutherzige, liebevolle Padre, dem ich alle Liebe entgegengebracht und für den ich seit meinem Beitritt zum Opus Dei mein ganzes Leben geweiht hatte, hatte mir einen Verweis erteilt und gedroht, mich aus dem Opus Dei zu werfen. In der Verworrenheit, die in meinem Kopf herrschte, schienen mir alle Dinge aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich konnte es einfach nicht hinnehmen, dass Monseñor Escrivá so hart mit mir verfuhr, ohne mir Gelegenheit zu geben, mit ihm unter vier Augen zu sprechen, damit ich ihm meine Version darlegen konnte, bevor er mich verurteilte, noch dazu in aller Öffentlichkeit. Ich hatte den Eindruck, einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, bei der es keinen Verteidiger, nur den Staatsanwalt gab. Ich besaß kein Recht, das Ganze zu erklären. Vor allem aber hatten mich die Art und Weise des Padre verletzt, dieser völlige Mangel an Barmherzigkeit und Verständnis.
Monseñor Escrivás Worte „das nächste Mal landest du auf der Straße: wirbelten mir im Kopf umher, und ich war fassungslos.
Ich nehme an, wenn Monseñor Escrivá von „verfälschtem Dokumenten spricht, meint er folgende a) meine zwar offenen, aber nicht gerad verfälschend und verleumderisch zu nen­nenden Bemerkungen gegenüber dem Consiliarius und dem Priester des regionalen Sekre­ta­riats in Venezuela. Sie hatten sich darauf bezogen, dass man den Assoziierter des Opus Dei nicht freistellte, bei wem sie beichten wollten, ohne in ihnen ein Schuldgefühl zu erzeu­gen, wenn sie bei irgendeinem amtlichen Priester beichteten. In den Dokumenten des Opus Dei wird da dann als „schlechter Geist“ bezeichnet. b) Ich erachtete dies als eine Einschränkung der echten Freiheit, die im Gegensatz zu der Art von Freiheit stand, als deren Pioniere wir uns innerhalb des Opus Dei ansahen. c) Meine ebenfalls offenen Kommentare gegenüber den Oberinnen der Asesoría Regional in Venezuela zu schriftlichen Anweisungen, wie beispiels­weise diese: „unsere Frauen unternehmen monatlich einen Ausflug aufs Land“. Da es in Venezuela kein „Land“ in dem Sinne gibt, sondern nur Urwald, legten wir diese Anweisung in der Form aus, dass wir uns an einen stillen Privatstrand begaben und ein Ap­parte­ment, das uns von einer Freundin oder Kooperateurin zur Verfügung gestellt wurde benutzten. Außerdem war uns aus Rom befohlen worden, Abonnenten für die frisch heraus­ge­gebene Opus Dei-Zeit­schrift Actualidad Española zu gewinnen, aber weil diese Zeitschrift nicht sonderlich qualitätvoll war und zudem nicht pünktlich zugestellt wurde, interessierte sich in Venezuela niemand für sie.


Einzelhaft

Aber zurück zu jenem Nachmittag, an dem mir der erste Verweis erteil wurde. Marlies Kü­cking kam in mein Zimmer und sagte mir, der Padre habe folgendes bestimmt: a) ich dürfe nicht mehr nach Venezuela schreiben; b) man würde mir keinen Brief mehr, der von dort für mich ankommen sollte, aushändigen; c) man würde Besuchern aus Venezuela, die nach mir fragten, erklären, ich sei „krank oder zur Zeit nicht in Rom“; d) ich hätte mit meinem Leben den Schaden, den ich in Venezuela angerichtet hätte, wiedergutzumachen; e) man würde dafür sorgen, dass mich alle in Venezuela vergäßen, und alles Erdenkliche tun, damit mein „schlechter Geist“ für alle sichtbar würde; f) ich hätte den Geist des Werkes deformiert; g) einzig Gebete und blinder Gehorsam würden meine Seele retten; h) niemand im Haus dürfe von meiner „traurigen Lage“ wissen. Man wolle versuchen, mir aus meinem „Tiefpunkt“, in den ich mich durch Hochmut gebracht hätte, wieder herauszuhelfen. Ich schwieg. Ich nahm hin, was mir Marlies sagte und bat nur darum, man möge mir mitteilen, wie es um das Befinden von Begoña Elejalde stünde, da sie vor kurzem operiert worden war. Tage später wurde mir auf diese Frage durch Mercedes Morado mitgeteilt, ich dürfe nicht nach Begoña fragen, auch wenn mir der Gedanke käme, aber der Wille müsse vom Verstand fordern, nicht danach zu fragen. Das hieß, dass man den Willen über den Verstand setzte.
Nachdem Marlies gegangen war, wurde ich in ein anderes Zimmer verlegt und damit beauftragt, für alle Kapellen im Haus Sorge zu tragen. Im zentralen Haus in Rom gab es vierzehn oder fünfzehn Kapellen, darunter mehrere kleinere, die den größeren angeschlossen waren. In den größeren wurde der Kirchenschmuck für die kleineren Kapellen aufbewahrt. Meine Aufgabe war es, den Kirchenschmuck für jede Messe vorzubereiten, die Leinentücher zu bügeln, die Kerzen in allen Leuchtern auszuwechseln und die Hostien auszulegen. Es war eine Arbeit zum Verrücktwerden, da die Kapellen ziemlich weit auseinander lagen, in jeder einzelnen mehrere Messen gelesen wurden und am Nachmittag die Zeit für diese Arbeit äußerst knapp war. Morgens hatte ich den während der Messen gebrauchten Kirchenschmuck einzusammeln und die schmutzigen Leinentücher mitzunehmen.
Niemand half mir bei dieser Arbeit, außer an Feiertagen, wenn die reich verzierten Kelche benutzt wurden, die gewöhnlich im sogenannten „Kelchsaal“ aufbewahrt wurden. Jeder Kelch hatte sein eigenes Futteral, in dem er auch transportiert werden musste. Im zentralen Haus des Opus Dei gibt es eine reichhaltige Kelchsammlung. Jede Region hat dem Padre entweder einen Kelch geschickt oder zur Herstellung eines solchen beigetragen. De facto übergibt eine Numerarierin bei ihrem Beitritt dem Opus Dei ihren gesamten Schmuck, der durch einen „sicheren Handkurier“ nach Rom gebracht wird. Ich kann gar nicht abschätzen, wie viel Schmuck, kostbare Perlen und Edelsteine wir nach Rom versandt hatten, der Wert war unschätzbar. Eine Numerarierin, die viele Jahre in Venezuela verbracht hatte, erinnerte mich eines Tages daran, dass ich ihr befohlen hatte, den Edelstein aus ihrem Ring, einen großen Brillanten, herauszunehmen, damit wir ihn nach Rom schicken konnten, und an seine Stelle einen falschen Stein einsetzen zu lassen. Als sie mir daraufhin sagte, ihre Mutter könnte es bemerken, hatte ich ihr geantwortet, sie solle ihrer Mutter sagen, der Stein würde gerade gereinigt. Auch ich verstrickte mich in Lügen, in meinem Eifer, dem Padre in Rom zu helfen.
Des öfteren sprach Monseñor Escriva davon, dass er einen Kelch wolle, dessen Klemmschraube den Fuß einziehen könne und dessen Schale aus einem „riesigen Brillanten“ bestehe. Dabei betonte er immer wieder, er wolle dies nicht zur Schau, sondern für Unseren Herrn...

Als nächstes erhielt ich die Anweisung, mich auch um die Säuberung des verwalteten Hauses zu kümmern. Möglicherweise würde ich meine inneren Ängste mit Hilfe der Arbeit zum Erlöschen bringen.
Ich wollte meine Leiterin und die anderen aus der Asesoría in Venezuela über meine Lage in Rom, und dass ich nicht mehr zurückkehren würde, in Kenntnis setzen. Da dies nach den Bestimmungen des Opus Dei „über legale Kanäle“ unmöglich war, gelang es mir eines Tages, mit einer anderen asesora, die kein Italienisch sprach, auszugehen. Unter dem Vorwand, ich müsste nachsehen, ob das Ehepaar Betancourt etwas für den Padre hinterlassen habe, begab ich mich zu dem Hotel, in dem die Betancouns seinerzeit übernachtet hatten. Ich hatte eine Nachricht bei mir, die ich dem Manager mit der Bitte zusteckte, er möge sie weiterleiten, während ich ihn fragte, ob die Betancourts etwas für mich geschickt hätten. Dieser Angestellte war ziemlich intelligent. Da er mich in Begleitung einer Unbekannten sah und sich daran erinnerte, was ihm die Betancourts aufgetragen hatten, bat er mich höflich, einen Moment zu warten. Er verschwand. Zwei Minuten später war er wieder da, ohne Zettel, und erklärte mir in aller Liebenswürdigkeit und Diskretion, er würde mich sofort davon unterrichten, wenn etwas für mich käme, während er hinzufügte: «Tutto a posto, signorina» (Es ist alles geregelt). Und ich nehme an, dass das Telegramm Venezuela erreichte, in dem lediglich stand, dass ich auf endgültigen Befehl des Padre in Rom zu bleiben hatte.

Von dem Tag an, im November 1965, bis zum März 1966 hielt man mich völlig abgeschnitten von jedem Kontakt zur Außenwelt; ich wurde mit dem absoluten Verbot belegt, unter keinen Umständen auf die Straße zu gehen, keinerlei Telefongespräche zu führen oder zu empfangen und keine Briefe zu schreiben oder zu empfangen. Ich nahm auch nicht am sogenannten „wöchentlichen Ausgang“ oder dem „monatlichen Ausflug“ teil. Ich war eine Gefangene.

Mein Verstand arbeitete wie der eines Sträflings: Ich erkannte die Menschen an ihrem Schritt und rekonstruierte die Uhrzeit aus der jeweiligen Arbeit einer jeden. Ich fragte nichts. Julia, die Hauptsirvienta, die mich noch aus der Zeit vor vielen Jahren kannte, sagte eines Tages in der Bügelstube zu mir: «Señorita, vergessen Sie nicht, dass Gott alles sieht und Sie nicht verlassen wird», wobei sie ihren Kopf verdrießlich schüttelte: «Also wirklich, also wirklich.» Obgleich ich den Mund nicht aufmachte und nicht die geringste Klage über meine Lippen kam, war allen im Haus klar, dass ich mich nicht frei bewegen durfte; ebenso wusste man um die völlig respektlose Art, in der mich Marlies behandelte.

Fast zwei Wochen nach meinem Verweis wurde ich in den Versammlungssaal der Asesoría Central gerufen. Beim Betreten des Raumes begann ich zu zittern.

Es waren versammelt: Don Francisco Vives, zentraler Sekretär für die Frauenabteilung weltweit, Don Javier Echeverría , der keinerlei Amt in Bezug auf die Frauenabteilung bekleidete, die zentrale Leiterin Mercedes Morado und die Studienpräfektin Marlies Kücking, die auch das vertrauliche Gespräch mit mir führte.
Don Francisco Vives sagte, ich solle mich setzen, da er mir den Verweis, den mir der Padre erteilt hatte, detaillierter ausführen wolle. Die Ausführung beinhaltete folgendes:

a) „Ich hätte Schriften des Padre verfälscht und beabsichtigt, die vom Padre an die Regionen verschickten Schriften der internen Zensur grundlos zur Revision vorzulegen, sowie die Dreistigkeit besessen, Schriften des Padre nicht zu beachten.“
b) „Ich würde mit ganzem Herzen an Venezuela hängen, und das sei fatal.“
c) „Ich besäße satanischen Hochmut, da die Leute in Venezuela begonnen hätten, mich so sehr zu mögen, dass sie lieber bei mir verweilten als für das Werk zu arbeiten.“
d) „Ich hätte persönlich dem Werk Schaden und Makel zugefügt.“
e) „Ich hätte jede Verbindung mit Venezuela abzubrechen und keinerlei Beziehung mehr zu jemandem zu unterhalten.“
f) „Man habe erfahren, dass ich in meinem vertraulichen Gespräch darum gebeten hätte, von Rom nach Spanien fahren zu dürfen; dabei dürfte ich doch nicht aus den Augen verlieren, dass ich mein Problem in Rom würde lösen müssen, so dass der Padre aus besonderer Liebe zu mir veranlaßt habe, dass ich in Rom bliebe.“
g) „Ich würde meinen Tagesablauf intensiv mit Arbeit ausfüllen müssen.“
h) „Ich müsse wieder ganz von unten, und noch weiter darunter, anfangen. Ich müsse alles, was ich wüsste oder getan hätte, vergessen und wie ein Kind absolut alles bei meiner Leiterin erfragen: angefangen von der Art, die Unterhosen zu tragen, bis hin zum Zuhaken des Büstenhalters.“
i) „Ich solle meine Erfahrung und mein bisheriges Leben vergessen und Gott bitten, mir die Demut eines Kindes zu schenken.“
j) „Das würde mir aufgrund meines schrecklichen, satanischen Hochmuts sehr schwerfallen, aber alle würden für mich beten, damit ich aus diesem Tiefpunkt, in den ich gefallen sei, wieder herausfände.“
k) „Ich solle nicht daran denken, Rom zu verlassen, oder dass mein Aufenthalt in Rom etwa nur vorübergehend sei. Die Art und Weise meines Aufenthalts würde mir vom Padre gewiesen werden.“
1) „Niemand im Haus dürfe von meiner traurigen Lage Kenntnis erhalten.“
m) „Meine Worte, ich wolle «in Venezuela leben und sterben», würden als ungehört gelten, da noch niemals jemand im Werk dem Padre auf dessen Worte etwas erwidert habe.“

Zu alledem fügte er noch hinzu, „ich sei nichts und niemand innerhalb des Werkes“. Ich höre noch genau den abschätzigen Ton, sehe noch den abwertenden Gesichtsausdruck, der seine Worte während dieses „Gesprächs“ begleitete.

Von Don Francisco Vives stammte die Idee, ich solle mich unverzüglich zur Beichte begeben.

Während ich mir das alles anhörte, hatte ich den Eindruck, einen Alptraum zu durchleben, wenn es auch praktisch eine genaue ‘Wiederholung dessen war, was mir Marlies Kücking bereits vor Tagen gesagt hatte.

Mir war klargeworden, dass meine vertraulichen Gespräche und Beichten offen ausgebreitet wurden, und unter dem Vorwand, mir aus meinem „Tiefpunkt heraushelfen zu wollen“, wurde meine Seele öffentlich zur Schau gestellt.

Selbstverständlich darf man nicht vergessen, dass, wenn mir ein Priester wie Don Francisco Vives eine derartige „Andacht“ zu den vergangenen Geschehnissen erteilen konnte, er zuerst darüber mit Monseñor Escrivá gesprochen haben musste. Daran gab es für mich nicht den geringsten Zweifel.

Über Monate war die Anspannung grausam und die vertraulichen Gespräche mit Marlies Kücking eine wahre Folter.

Für diese vertraulichen Gespräche musste ich ganz protokollarisch vorgehen: Ich musste sie anrufen, sie daran erinnern, dass dies der Tag meines vertraulichen Gesprächs sei, und sie fragen, zu welcher Zeit es ihr recht wäre. Während ich pünktlich im Besucherzimmer von „La Montagnola“ erschien, ließ sie mich manchmal länger als eineinhalb Stunden warten. Eines Tages sagte ich zu ihr, es sei möglicherweise ein „Vergehen am Geist“, aber ich würde mir große Gedanken um den Zustand von Begoña machen. Sie antwortete darauf, dass dies sehr wohl von schlechtem Geist zeuge, denn ich hätte an nichts und niemanden, der in irgendeiner Beziehung zu meinem Aufenthalt in Venezuela stünde, zu denken.

Mehrere Numerarierinnen aus Venezuela studierten in der „Villa delle Rose“, dem Sitz des Colegio Romano de Santa Maria. Sie hatten das Land einen Monat vor mir verlassen. Es handelte sich um Mirentxu Landaluce, Mercedes Mújica und Adeltina Mayorca. Sie alle hatten ein Amt in den consejos locales in verschiedenen Häusern in Caracas gehabt, bevor sie nach Rom gereist waren.

Selbstverständlich hatte ich noch keine von ihnen gesehen. Als ich gerade in Rom angekommen war, hatte mir die zentrale Leiterin gesagt, ich solle das Haus zusammen mit der katalanischen asesora Montse Amat aufsuchen. Als wir dort ankamen, stellte sich — welche Überraschung! — heraus, dass sich alle Schülerinnen auf einem Ausflug befanden. Lediglich Adeltina Mayorca und Blanca Nieto, eine andere aus dem consejo local, die Vizeleiterin der Druckerei wurde, als ich Rom zum ersten Mal verlassen hatte, waren da. Vielleicht hätte ich das Märchen eher geschluckt, wenn Montse Amat, die, wie gesagt, der zentralen Leitung angehörte, mir gegenüber nicht beteuert hätte, sie habe keine Ahnung davon gehabt, dass dies der Tag für den Ausflug sei. Mir wurde völlig klar, dass man mich in Rom nicht mit den anderen Schülerinnen bekanntmachen wollte. Mir fiel ein venezolanisches Sprich­wort ein: „Was macht einem Tiger ein Streifen mehr aus?“, und nahm es bin.

So weit, so gut. Diese Schülerinnen kamen fast jede Woche nach Rom und aßen dann im zentralen Haus entweder zu Mittag oder nahmen einen Nachmittags­imbiss ein. Marlies Kücking befahl mir, nicht mit ihnen zu sprechen, besonders dann nicht, wenn sie aus Venezuela kamen. Als man mich eines Tages dabei sah, wie ich mit einer von ihnen auf der Treppe sprach, wurde ich einem höchst intensiven Verhör unterzogen, und, wie ich erfuhr, die andere auch.

Marlies fragte mich, über welche Themen wir gesprochen hätten, ob über Venezuela und über wen und über was. Dieses Verhör wurde dauernd wiederholt, wobei die Reihenfolge der Fragen wechselte. Sie erwies sich als eine wahre „Tscheka“. Die gewöhnlichsten Dinge wurden zu „Staatsverbrechen“ erklärt. Zu der Zeit war mir noch nicht bewusst, dass diese Methode, tausendmal immer wieder die gleichen Fragen zu stellen, keine andere ist als die, die in allen repressiven Systemen angewandt wird. Doch ich kann einfach nicht akzeptieren, dass das Opus Dci sich dieser Methode im Namen Gottes und der Kirche bedient, um „Informationen einzuholen“. Und wieder einmal ist das Opus Dei mit dem System jeder x-beliebigen Sekte gleichzusetzen. Überdies ist die Inquisition schließlich seit Jahrhunderten abgeschafft.

Wenige Tage nachdem mir Monseñor Escrivá den ersten Verweis erteilt hatte, rief mich Marlies Kücking in den soggiorno der Asesoría Central. Sie erklärte mir, wie ich mir sicherlich vorstellen könne, sei ich nicht mehr Leiterin der Region Venezuela, und übergab mir eine Kopie der Verfügung Nr. 215, damit ich darüber nachsinnen konnte, wie sie der Padre angewiesen hatte. Diese eher umfangreiche, vom Padre verfasste Schrift besagt, dass „die Ämter eine Pflicht sind, von denen man sich mit der gleichen Freude wieder trennen sollte, mit der man sie in Empfang genommen hat“. Ich erklärte Marlies, ich hätte mein Nachmittagsgebet bereits verrichtet, würde diese Meditation aber am nächsten Tag vornehmen. In aller Unbefangenheit fragte ich sie:

„Wer wird denn jetzt regionale Leiterin?“

Eine Frage, die sie außerordentlich irritierte. Sie entgegnete:
„Wie du vielleicht verstehen wirst, bedeutet es einen Mangel an Takt und Diskretion, dass du mir in deiner Lage eine solche Frage stellst. Du interessierst dich doch nicht wirklich dafür. Wie ist es dir bloß in den Sinn gekommen, so etwas zu fragen? Verstehst du denn überhaupt nichts?»

Meine Antwort lautete:

«Nein, das kann ich nicht verstehen. Aber es macht nichts, ich nehme es einfach so hin.»

Angesichts der Isolation, der ich ausgesetzt war, fragte ich Marlies während eines meiner vertraulichen Gespräche, ob ein kanonischer Verweis weitere Strafen nach sich zöge, was sie verneinte.

Die gleiche Frage stellte ich auch der zentralen Leiterin Mercedes Morado, die mir die gleiche Antwort gab. Sowohl Marlies als auch Mercedes behaupteten, ich würde von niemandem „unterdrückt“, das geschehe nur in „meiner Phantasie“. Zudem fügten sie hinzu, alles, was sie täten, geschehe auf Anweisung des Padre, um mir den inneren Wiederaufbau zu erleichtern. Ich bat bei verschiedenen Gelegenheiten um Ausgang, die Antwort lautete jedesmal „nein.
 

Besuch von Señora de Sosa

Im Dezember kam Señora Ana Teresa Rodríguez de Sosa, meine alte Freundin aus Venezuela, nach Rom.

Das Telefon klingelte, und aus irgendwelchen Gründen war ich zufällig allein. Angesichts der Tatsache, dass ich als einzige Italienisch sprach, nahm ich den Hörer ab. Sie verlangte nach mir, aber natürlich richtete ich mich nach den „Regeln“ und gab mich nicht zu erkennen, sondern meldete der zentralen Leiterin über das Haustelefon, dass Señora de Sosa am Telefon sei, sodass man sie zum Apparat in ihrem Arbeitszimmer durchstellen konnte. Sie erwiderte mir, man würde sich um sie kümmern.

An jenem Tag betete ich aus tiefster Seele und bat Gott inständig, man möge sie zu mir lassen. Am Abend sagte mir Marlies, ich solle Señora de Sosa in ihrem Hotel anrufen und mich entschuldigen, dass ich zum Zeitpunkt ihres Anrufs gerade abwesend gewesen sei (wieder eine Lüge), und dass sie mich am nächsten Tag nachmittags besuchen dürfe.

Als ich Señora de Sosa in ihrem Hotel anrief, sagte sie mir in ihrer direkten Art unumwunden, es sei ihr schon sehr merkwürdig vorgekommen, dass ich bislang nicht zurückgerufen hätte, nach all ihren Versuchen, mich telefonisch zu erreichen.

«Kindchen, mir erscheint überhaupt alles merkwürdig. Ich habe c mehrmals angerufen, und nie hast du zurückgerufen. Halten sie dich gefangen oder darfst du nicht telephonieren?» Sie hatte dies halb im Scherz gesagt, und da ich nicht wusste, ob man mein Gespräch von der Asesoría aus abhörte, antwortete ich auf Französisch, dass es genau so sei, und sie solle alles Erdenkliche tun, um mit mir unter vier Augen sprechen zu können, wenn sie mich am nächsten Tag besuchen würde.


Bei den vorausgegangenen Besuchen in Rom hatte sich immer wie Lourdes Toranzo um Señora de Sosa gekümmert. Es irritierte mich über alle Maßen, wenn sie die Señora als „die, um die man sich gut kümmern muss, weil sie dem Werk so viel gegeben hat“, bezeichnete. Nicht ein Fünkchen Zuneigung lag in diesen Worten. Lourdes machte mir gegenüber die Bemerkung, dass Señora de Sosa morgens vorbeikommen wolle, um ein paar Blumen für die Kapelle zu bringen. Wie es der Zufall wollte, zeigte mir just an dem Morgen eine Numerarierin aus Peru, die für die Kapelle zuständig war, wie die Lichtschalter funktionierten, die direkt neben dem Lieferanteneingang angebracht waren. Diese Tür war offen, da die Pförtnerin saubermachte. Ich hörte plötzlich ganz deutlich die Stimme von Señora de Sosa, die beim Anblick der geöffneten Tür der Sirvienta einen Strauß Orchideen für die Kapelle in die Hand drückte. Spontan lief ich hinterher, um zu sehen, ob ich sie noch erwischen könne, denn ich befürchtete, man würde mich am Nachmittag nicht allein ihr sprechen lassen. Aber Señora de Sosa war bereits wieder in ihr Taxi gestiegen. Sie hatte mich nicht gesehen. Niedergeschlagen kehrte ich Haus zurück. Inzwischen hatte die Pförtnerin unverzüglich die Asesoría per Haustelefon davon unterrichtet, dass ich einen Fuß auf die Straße gesetzt hätte.

Ich ging zurück zum Lichtschalterbrett und sagte zu der Peruanerin «Ich fürchte, man wird mir die Leviten lesen, weil ich versucht habe Señora de Sosa zu begrüßen.» Die junge Frau entgegnete mir: «Was man mit dir macht, ist absurd, aber ich glaube nicht, dass sie das tun werden.» In genau dem Moment erschien Marlies mit dem für sie charakteristischen Gesichtsausdruck, wenn sie wütend ist (bei alledem hat mir Gott meinen Sinn für Humor bewahrt, und sie und Mercedes erinnerten mich immer, wenn sie wütend waren, an die Dachse in den Trickfilmen von Walt Disney, wenn sie die Zähne zeigen). Sie fragte mich:


«Was ist hier mit Señora de Sosa vorgefallen?»

Ich sagte ihr, dass ich ihre Stimme gehört und versucht hatte, sie zu begrüßen. Daraufhin fauchte Marlies schäumend vor Wut:

«Da du so weitermachst, muss ich anscheinend energischere und strengere Maßnahmen gegen dich ergreifen. Was du getan hast, ist unentschuldbar! Du hast gegen das kategorische Verbot, das Haus zu verlassen, verstoßen.»

Ich entschuldigte mich bei ihr, aber zweifellos würde ich Repressalien zu erwarten haben.

An dem Nachmittag wartete ich darauf, dass man mir die Ankunft von Señora de Sosa mitteilen würde, und genau in dem Augenblick, als das geschah, verkündete mir Marlies, dass auch Lourdes Toranzo bei ihrem Besuch zugegen sein würde, und ich solle Señora de Sosa in den soggiorno der Villa Sacchetti führen. Es blieb mir nichts anderes übrig, und so gehorchte ich. Als ich in den Saal für Besucher kam, fand ich Señora de Sosa allein vor. Ich übergab ihr einen Brief, den ich für sie vorbereitet hatte, und ging hinaus, um über das Haustelefon Marlies davon zu unterrichten, dass Lourdes nicht gekommen sei.

Als ich in den Raum zurückkam, erzählte mir Señora de Sosa, Lourdes Toranzo sei gekommen, um mit uns zusammenzusein, aber sie habe ihr klar und deutlich gesagt, dass sie sie bereits am Vortage getroffen habe und jetzt gekommen sei, um mich zu besuchen und sich mit mir zu unterhalten.

Wir gingen hinauf in den soggiorno, und mit einer Handbewegung deutete ich ihr außerhalb der Reichweite des Mikrophons, das in diesem Raum installiert war, Platz zu nehmen. Monseñor Escriv hatte veranlaßt, dass man an verschiedenen Stellen des Hauses Verbindungen zu seinem Arbeitszimmer anbrachte: im soggiorno, im Aufenthaltsraum, in der Kapelle, in der Bügelstube und in den camarillas der Sirvientas, zudem an verschiedenen Stellen in „La Montagnola“, dem Haus der Asesoría.

 

Ich erklärte Señora de Sosa in aller Kürze meine Lage und schrieb ihr auf ein Stückchen Papier, das ich ihr zusteckte, dass die einzige Möglichkeit, mit mir zu Mittag zu essen, darin bestünde, dem Werk eine Spende zukommen zu lassen, die sie an eine solche Einladung knüpfen würde.

Und das tat sie auch. Sie sandte dem Werk einen Scheck über tausend Dollar, der auf meinen Namen ausgestellt war. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mich allein zum Mittagessen ausgehen zu lassen, wobei ich angewiesen wurde, um 13.00 Uhr zu gehen und um 15.00 Uhr wieder zurück zu sein. Ich schüttete ihr mein ganzes Herz aus und erzählte ihr alles, was vorgefallen war. Sie reagierte darauf mit den Worten, „der Padre muss völlig senil geworden sein, denn was man mit dir gemacht hat, ist eine Ungerechtigkeit". Sie kaufte mir einen Haufen Briefmarken, damit ich ihr schreiben könnte, und sagte mir, sie würde mir postlagernd nach Rom schreiben. Diese Dame verhielt sich mir gegenüber wie eine gute Freundin. Es war ihr Wunsch, dass ich nicht in die Villa Sacchetti zurückkehren, sondern bei ihr bleiben sollte. Ich schlug das aus. Man plane einen Generalkongress der Frauenabteilung des Opus Dei, und ich sei davon überzeugt, dass sich die Dinge ändern würden.

Als ich glaubte, für einen kurzen Zeitraum unbemerkt telephonieren zu können, rief ich Señora de Sosas am Tage vor ihrer Rückfahrt nach Venezuela an. Ich teilte ihr mit, dass ich beabsichtigte, das Opus Dei zu verlassen, da mein Kopf und meine körperlichen Kräfte nicht mehr standhielten. Ich hatte von Mitte Oktober bis Mitte Dezember neun Kilo abgenommen, und mein Haar war völlig weiß geworden: Sie hatten es geschafft, mich zu brechen. Señora de Sosa versuchte mich zu trösten, so gut sie konnte. Als sie fort war, fühlte ich mich sehr, sehr einsam.


Abgefangener Briefwechsel

Aus Gründen der Ehrlichkeit war es mir ein Bedürfnis, meiner Leiterin in Venezuela die Wahrheit über alle Begebenheiten mitzuteilen; aber ich befürchtete, dass jemand die Briefe abholen könnte, wenn sie mir postlagernd antworten würde. Señora de Sosa schrieb mir postlagernd ein paar Briefe. Auch gelang es mir, den Briefkasten in Rom zu öffnen und ich gelangte so in den Besitz einiger weniger Scheiben der asesoras aus der regionalen Leitung in Venezuela. Es waren kurze Mitteilungen. Einmal war sogar eine Meditation beigefügt, die einer der venezolanischen Opus Dei-Priester verfasst hatte. Darin versuchte er, mich aufzumuntern, indem er mich aufforderte, den Willen Gottes zu leben; schließlich würde alles einmal vorübergehen, da die Superioren auch nur Menschen seien und irren könnten, Gott aber über allem und allen stehe. Das machte mir wieder Mut. Natürlich verbrannte ich alles, nachdem ich es gelesen hatte.

Anscheinend war eine weitere Meditation von demselben Priester abgeschickt worden, dann aber verlorengegangen. Eine dritte, die ich in kleine Schnipsel zerrissen hatte, wollte ich gera­de in meinem Waschbecken verbrennen, als zwei aus der Asesoría in mein Zimmer kamen und es von oben bis unten auf den Kopf stellten. Schließlich nahmen sie die kleinen Schnipsel mit, die ich noch am Vortage in einer Ecke des Wandschranks hatte verstecken können. Ich hatte den schwerwiegenden Fehler begangen, zwei Schülerinnen aus dem Colegio Romano de Santa María einen dieser Briefe zu zeigen. Nach allem, was darauf erfolgte, bin ich so gut wie sicher, dass sie darüber ihren Oberinnen Bericht erstattet hatten.

Wie ich bereits in meiner Einführung sagte, nenne ich in diesem Buch alle wirklichen Namen von Personen, die eine Rolle spielen, ausgenommen sind diejenigen, denen ich Repressalien seitens der Superioren ersparen will, da sie immer noch dieser sogenannten Prälatur, bei der es sich in Wirklichkeit um eine Sekte handelt, angehören. Dank der Hilfe einer Person, deren Namen ich hier nicht nennen werde, war es mir möglich gewesen, den Briefkasten in Rom zu öffnen und so vereinzelt Kontakt mit Venezuela zu halten. Ich erfuhr also damals in knapper, später in detaillierter Version aus verlässlicher Quelle, was in Caracas geschah.

Jeder einzelnen Numerarierin war mein Verbleib in Rom in folgender Form mitgeteilt worden: „Maria del Carmen kommt nicht wieder. Zu niemandem darüber den kleinsten Kommentar.“ Selbstverständlich schuf dies ein angespanntes Klima in Bezug auf meine Situation in Rom. Ana Maria Gibert hatte mir zwei oder drei Briefe nach Rom geschrieben. Dies war der Grund dafür, dass man sie aus „Casavieja“ abzog und in völliger Abgeschiedenheit allein in einem Schlafsaal der „Escuela de Arte y Hogar“ Etame einsperrte. Sie durfte nicht telephonieren, keine Briefe erhalten, noch Besuch empfangen, und hatte keinerlei Kontakt zu den anderen Numerarierinnen, die im Haus wohnten. Und das über einen Zeitraum von zehn, zwölf Tagen. Ana María war sechsundvierzig Jahre alt. Die Leiterin von "Etame" war damals Lucía Cabral. Aus Angst und Feigheit machte sie mit und fungierte als Ana María Giberts Gefängniswärterin. Der Arrest von Ana María Gibert zählte für mich zu den größten Ungerechtigkeiten, von denen ich damals gehört habe. Ana María war bei allen Numerarioerinnen aufgrund ihrer gütigen, mütterlichen Art und ihrer Geisteshaltung sehr beliebt.  Sie war eine Frau von hohem intellektuellen Ansehen, die ihre Karriere dem Opus Dei geopfert hatte. Nach diesem Arrest wurde Ana María in das Studentenwohnheim "Dairén" geschickt, das das Opus Dei in Caracas unterhielt. Von dort aus wurde sie nach Spanien geschickt.

Ich persönlich war erschöpft durch die angespannte Lage. Ich fand, daß man mich ungerecht behandelte, denn wenn ich wirklich "so schlecht" gewesen war, hätte man mir meine Vergehen und Sünden genau benennen müssen, damit ich reue üben konnte. Aber alles hing in der Luft, und das war eine wahre Folter. Ein ums andere Mal bat ich darum, man möge mir ein konkretes Beispiel nennen, aber nie erhielt ich darauf eine Antwort. Man brachte mir schwerwiegende Klagen vor, aber diese waren allgemein gehalten. Ich mußte auch daran denken, daß man Leute durch Barmherzigkeit gewinnt, nicht indem man über sie Urteile fällt, ohne daß sie sich verteidigen können. Häufig ging mir der Spruch von Franz von Sales durch den Kopf, der lautete: "mit einem Löffelchen Honig lassen sich mehr Fliegen fangen, als mit einer ganzen Flasche Essig."

Ich konnte die Ansicht der Superioren nicht teilen, die das, was ich als konstruktive Kritik empfand, "Verleumdung" nannten; schließlich war ich nicht durch die Straßen von Caracas gelaufen und hatte überall meine Meinung über die Verfügungen von Monsenor Escrivá herumposaunt.

 

[Fortsetzung folgt]