Die Normen des Opus Dei

Dietmar Scharmitzer

Unter den „Normen“, dem „Lebensplan“, versteht man im Opus Dei die vorgeschriebenen Frömmigkeitsübungen; man erfüllt sie im Idealfall mit Liebe, mit innerer Hingabe, sonst wird, wie ein spanisches Wortspiel sagt, das „cumplimiento“, die Erfüllung, zum „cumplo y miento“, ich erfülle und lüge. Daß man den Lebensplan nicht als Last empfinden, sondern lieben soll wie ein Adler seine schweren Flügel, unter­streicht folgende Anekdote. Eine Supernumerarierin hatte Probleme, ihre Gebete zu erfüllen und besprach dies mit ihrer Leiterin; diese hatte ihr empfohlen, sich eine Haushälterin zu nehmen. Da es offenbar nicht so einfach war, eine geeignete Hilfe zu finden, sollte sie sich im Gebet an den Gründer wenden. Die Dame habe den „Vater“, mit einem wenig feinfühligen Ausdruck, um die Lösung des Problems der „Normas“ gebetet; kurz nacheinander hätten sich dann drei Hausgehilfinnen gemeldet, die alle drei „Norma“ hießen…

Allen Mitgliedern des Werkes wird jede Woche im „Kreis“ der Lebensplan vorgelesen [1]: Lebensplan. Täglich: Aufopferung des Tagewerks. Gebet (eine halbe Stunde am Morgen und am Nachmittag). Heilige Messe. Heilige Kommunion. Besuch beim Allerheiligsten. Lesung des Evangeliums und eines anderen geistlichen Buches. Preces. Rosenkranz. Gewissenserforschungen. Gebet des "Angelus Dómini" oder "Regina Coeli".
Wöchentlich: Beichte. Körperliche Abtötung und Gebet des Salve Regina am Samstag.
Monatlich: Einkehrtag.
Jährlich: Besinnungstage.
Immer: Gegenwart Gottes. Betrachtung unserer Gotteskindschaft. Geistige Kommunionen. Danksagungen. Sühneakte. Stoßgebete. Abtötung. Studium. Arbeit. Ordnung. Freude.

Der Lebensplan beginnt mit der „Aufopferung des Tagwerks“. Mit dem ersten Läuten des Weckers springt der Gläubige aus dem Bett, küßt den Boden und betet „Serviam“ („Ich will dienen“). Immer wieder wird berichtet – und mir ist es selbst einmal in einer Dachkammer in Salzburg passiert –, daß der Sodale, wenn er einmal in einem anderen als dem gewohnten Bett liegt und reflexartig herausspringt, mit vollem Schwung gegen die Wand kracht. Hintergrund ist, abgesehen von dem asketischen Aspekt, die Angst vor sexuellen Anfechtungen im warmen Bett.

Escrivá hat immer wieder bei Zusammenkünften mit seinen „Kindern“ davon gesprochen, daß er unausgeschlafen sei, daß er sich dadurch abtöte, daß er zur festgesetzten Zeit aufstehe, auch wenn er wenig oder nichts geschlafen habe und daß er nicht so wie jeder andere Siebzigjährige Siesta halten könne. An dieser Stelle zeigt sich besonders klar ein Konflikt, den der „Heilige“ offenbar nicht durchdacht, sondern mit seinem aragonesischen Sturschädel durchgezogen hat – das Erfüllen einer Pflicht widerspricht hier dem schlichten Gebot der Demut, daß man sich Anordnungen der Vernunft oder um einer höheren Ordnung willen fügt. Abgesehen davon, daß es wohl niemanden interessiert, ob Vater Escrivá ausgeschlafen war oder nicht, wäre ihm vermutlich kein Stein aus der Krone gefallen, seinen Beichtvater um eine Weile der Ruhe zu bitten, und wenn ihm das nicht gewährt worden wäre, hätte er sicher darüber geschwiegen. So aber hat die Story vom heroischen „Gehorsam“ des Opus-Dei-Gründers den Charakter eines sado-masochistischen Rollenspieles; seine beiden „Kustoden“, ihm unbedingt ergebene [2] Priester, die er sich als Beichtvater ausgesucht hatte und die das Recht hatten, ihn zurechtzuweisen, verlangten von ihm doch wohl nur das, was vorher ausgemacht worden war. Wie mir selber von einem Numerarier erzählt wurde, der den „Vater“ noch gekannt hat, habe er diesen in Spanien an einem Nachmittag gesehen, vollkommen erschöpft, die Augen seien ihm zugefallen, und eine ganze Gruppe junger Männer seien um ihn bemüht gewesen, um dem „Vater“ starken Kaffee einzuflößen; aber nicht einmal den habe er halten können, und der Kaffee sei ihm aus den Mundwinkeln über die Soutane heruntergeronnen. Die erste Priestergeneration, die in Rom ausgebildet wurde, habe übrigens tagsüber ihr Zivilstudium absolviert und in der Nacht Theologievorlesungen gehört; die morgendliche Messe musste prinzipiell stehend absolviert werden, wobei die Männer wie Bäume im Wind schwankten, weil sie im Stehen immer wieder einschliefen. Ich selber erinnere mich daran, daß ich im August 1991, als ich, von einer vierwöchigen „Dienstreise“ nach Spanien zurückgekehrt und mit der Pflege meiner Wäsche und der Wohnung bereits überstrapaziert, zwei Tage später das Wiener Kommissionsmitglied Enrique Prat de la Riba als Beifahrer auf einer Reise nach Polen begleiten mußte und von ihm mit einem Faustschlag geweckt wurde, als ich eingeschlafen war; entsprechend „human“ sind da noch die Weckmethoden, die etwa beim Nachmittagsgebet in einer sommerlich heißen Kapelle üblich sind: Der einnickende Nachbar wird mit dem Finger am Ellbogen oder an die Rippen getippt. Ältere Numerarier, die nach dem Willen des „Gründers“ als „ausgepresste Zitronen“ in den Tod gehen sollen, schlafen dem Vernehmen nach überhaupt sehr gerne in der Kapelle ein, denn ich hörte einen Priester sich darüber beklagen, wie frustrierend es sei, vor älteren Brüdern zu predigen.

Das Gebet nimmt die erste Stelle im Lebensplan ein, die Berufung zum Opus Dei ist eine beschauliche Berufung. Gedanken werden „mit dem Herrn besprochen“, manchmal in Form einer vom Priester gehaltenen Betrachtung, im Normalfall mit Hilfe eines geistlichen Buches. Meist ist dies ein Text von Escrivá, ein Brief des Vaters oder der Leitartikel aus einer internen Zeitschrift. Da alles im Werk geregelt ist, kommt Spontaneität auch Gott gegenüber kaum auf; als Betroffener nimmt man dies aber nicht als Fehler des Systems wahr, sondern sucht die Schuld bei sich, in der eigenen „Lauheit“. Während Escrivá in seinen Schriften erwähnt, wie inbrünstig er in der Straßenbahn, vor seinem Bett kniend oder „in der Nähe einer spanischen Stadt“ betete, sollen sich seine Nachfolger darauf beschränken, in der Kapelle zu beten – so ist die Einhaltung dieser Norm leichter zu überwachen, vor allem, weil man sich die „Lektüre“ beim Leiter des Zentrums abholen muß. Ich persönlich erinnere mich gerne an eine einsame Gebetsstunde an der Donau bei Carnuntum. Als ich einmal im Sommer, als es kaum anders möglich war und ich eine weite Strecke durch den Wald gehen mußte, um die Messe besuchen zu können, um die Erlaubnis bat, diesen ohnehin halbstündigen Weg für das Gebet zu nützen, wurde mir dies schroff untersagt. Das Gebet kann im Lebensplan des Opus Dei übrigens gar nicht zum Ausdruck eines lebendigen Umgangs mit Gott werden: Wer eine Anregung im Gebet empfangen sollte, muss diese erst in der geistlichen Leitung approbieren lassen, und „Selbstständigkeit“, auch persönlicher, lebendiger Umgang mit Gott, der vielleicht sogar zu Konsequenzen bereit ist, sind nicht gefragt, lediglich die lähmende, dreißigminütige Unterwerfung in der Kapelle.

Die heilige Messe ist eine tägliche Norm; die Mitglieder des Werkes geben sich die größte Mühe, sie auch unter schwierigen Umständen zu erfüllen. Ricardo Estarriol besuchte in den siebziger Jahren den isoliert lebenden katholischen Bischof von Peking; er interviewte ihn in lateinischer Sprache und fragte ihn anschließend, wann es eine Messe gäbe. „Quandocumque quis venit“, war die Antwort des Hirten – „immer, wenn jemand kommt“ – und der Journalist diente dem greisen Bischof am Altar. Selbstverständlich waren all diese Anekdoten beeindruckend, seien es jetzt Geschichten von einer christlichen Gemeinde im Libanon oder die Erfahrungen eines Priester aus Yauyós in den peruanischen Anden, der als erster Geistlicher nach sechzig Jahren in ein Hochgebirgsdorf kam und dort erfuhr, daß hier eben seit so und so vielen Jahren der Dorfälteste die Fronleichnamsprozession leitete.[3]
Im Alltag ist die tägliche Messe das „Schibboleth“, das Erkennungszeichen für den Escrivaner: korrekte Kleidung, Sakko und geschlossenes Hemd auch im Hochsommer, pünktliches, wenn auch manchmal atemlos knappes Eintreffen, stramme Haltung, meist mit vor der Brust verschränkten Armen, zackige, oft am Kirchenboden detonierende Kniebeugen, Reminiszenzen an die vorkonziliare Liturgie wie die Verneigung beim Credo an der Stelle „geboren von der Jungfrau Maria“, das beharrliche Übergehen des Friedensgrußes und das Übersehen des Kollektenkorbes, die selbstverständlich kniend empfangene Mundkommunion, auch wenn dies in der betreffenden Gemeinde nicht üblich sein sollte, und die exakt zehn Minuten dauernde Danksagung nach der Messe. Auf viele Menschen wirkt eine solide Gebetshaltung allerdings, zumal in Zeiten liturgischer Beliebigkeit, faszinierend. Als im September 1983, während der Papstmesse im Wiener Donaupark, die Gemeinde Wien auf Initiative des Werkes zwölf Citybusse als Beichtstühle und Tabernakel zur Verfügung stellte, erinnere ich mich, wie ein junger Buschauffeur fasziniert die vielen und jedes Mal mit ganzem Ernst vollzogenen Kniebeugen beobachtete, die Priester und Ministrant jedes Mal vollführten, wenn ein Ciborium mit dem Allerheiligsten abgegeben wurde; am Ende, als alles vorbei war, nahm er den Priester beiseite und bat ihn, ihm die Beichte abzunehmen.

Auch die Kommunion ist eine tägliche „Norm“; da es für einen Katholiken erforderlich ist, „im Stande der Gnade“, also ohne schwere Sünde zu sein, wenn man an den Altar tritt, um den Leib des Herrn zu empfangen, setzt diese Gewohnheit voraus, daß sich tatsächlich alle Mitglieder des Werkes jeden Tag im Stand der heiligmachenden Gnade befinden. In den Zentren des Opus Dei wird zudem, häufig nach dem Mittagessen, das Allerheiligste aufgesucht. Das führte einmal zu einem freundlichen Mißverständnis; ein kanadischer Freund, der sich für das Werk interessierte und einige Male im Studentenheim zu Gast war, fragte: „Why must Opus Dei members always have coffee after having visited the holy sacrament?“
Die „Preces“ („Gebet“) sind das Tagesgebet innerhalb des Opus Dei; „er betet die Preces“ ist ein Synonym für „er ist Mitglied des Werkes“. Sie werden kniend verrichtet und beginnen, so wie die „Aufopferung des Tagewerks“, mit dem Kuß des Fußbodens und dem Stoßgebet „Serviam!“ Bei festlichen Messen, die „in der Familie“ begangen werden, singt die Gemeinde diese Bitten zu gregorianischen Melodien. Selbstverständlich verführt das gemeinsame Niederbücken einer Gruppe von Männern oder Frauen zu schalkhaften Nebengedanken; der langjährige Pfarrer der Wiener Peterskirche, DDr. Torelló, pflegte zu Beginn der „Preces“ regelmäßig zu murmeln „Gemma schwimmen!“; Bob Biddle brachte eine ganze Gebetsrunde zum Lachen, als er in einem Raum, in dem unter dem Tisch in der Mitte zur Dekoration ein Ziegenfell lag, zu dem sich alle kußbereit hinunterbeugten, äußerte: „Wir lieben diese Ziege!“

Die Lesung des Evangeliums und eines geistlichen Buches nimmt eine Viertelstunde ein; das Evangelium wird stehend gelesen, das Lesungsbuch wird in der Aussprache festgelegt. Die Mitglieder des „Werkes“ beten, wie es für traditionelle Katholiken selbstverständlich ist, täglich den Rosenkranz; vor dem Konzil zur Gänze, mit allen 150 Avemarias, nach der Liturgiereform, als auch die Ordensleute nicht mehr täglich auf den ganzen Psalter ver­pflichtet waren, nur mehr einen verpflichtend, und zwar montags und donnerstags die Freudenreichen, dienstags und freitags die Schmerzhaften und mittwochs, samstags und sonntags die Glorreichen Geheimnisse. Die beiden anderen konnten auch weiterhin gebetet werden, sollen aber auf jeden Fall betrachtet werden; der „Rosenkranz vom Tag“ ist die einzige Norm, von der nicht dispensiert wird, wenn es sich bei der abendlichen Gewissenserforschung ergibt, daß man Teile des Lebensplanes noch nicht erfüllt hat. Es mag dem postmodernen Menschen befremdend erscheinen, wie sich im Leben stehende Laien, noch dazu oft Akademiker in Führungspositionen, zu einer solchen atavistisch anmutenden Übung „herablassen“, die auch von wohlwollenden Betrachtern gelegentlich mit einer tibetischen Gebetsmühle verglichen werden. Nun, der Mensch, mag er noch so intellektuell sein, besteht nicht nur aus seinem Kopf; und eine Gebetsübung, die sich auch „nebenbei“, etwa auf der Straße, beim Autofahren verrichten lässt, was durchaus gestattet ist, und die, angesichts des Todes, der ja in jedem einzelnen Gebetsteil erwähnt wird, den Gedanken an eine liebende Mutter evoziert, die für uns einsteht und die als Mutter Gottes die unvergängliche „fürbittende Allmacht“, bildet eine wunderbare Grundlage für ein inneres, kontemplatives Leben und für die persönliche Meditation. Als „Füllstoff“ dient das Rosenkranzgebet vielen Mitgliedern, wenn sie auf die Straßenbahn warten, abends nicht einschlafen können oder in einem langweiligen – selbstverständlich einem externen! – Vortrag sitzen; in der ersten Zeit des Opus Dei in Spanien pflegten die „Burschen von St. Raphael“, die also vom Gründer ausgebildet wurden, dem „Werk“ aber noch nicht beigetreten waren, den Rosenkranz zu beten, wenn sie es nicht vermeiden hatten können, ihre Eltern ins Kino zu begleiten.

Im Opus Dei pflegt man täglich drei Gewissenserforschungen. Beim Aufstehen vergegen­wärtigt man sich das „Partikularexamen“, jenen Punkt des persönlichen Kampfes, den man im Gespräch mit seinem Leiter in der Aussprache festgelegt hat. Zu Mittag zieht man kurz Bilanz über den bisherigen Verlauf des Tages; ausführlicher ist dann die Prüfung am Abend. Fast jeder sitzt dann mit seinem „Success“-Kalender, einer Ringmappe mit austauschbaren Einlageblättern,[4] und notiert die Vorsätze bzw. die Punkte, die er im Gebet oder beim wöchentlichen „brüderlichen Gespräch“ zur Sprache bringen will.

Für diejenigen, die zusammenleben, gibt es die Gewohnheit des abendlichen Evangelien­kommentars. Dabei kann es zu vergnüglichen Abschweifungen kommen, die mehr oder weniger gewollt die strenge Atmosphäre auflockern, bevor sich alle in das „Große Stillschweigen“ zurückziehen. „Neuen Wein füllt man in neue Schläuche“, zitierte ein Bruder in der Kapelle das Evangelium des Tages, und er fügte hinzu: „Bitten wir Gott, daß er uns auf diesen Besinnungstagen erneuert, damit wir viel neuen Wein in uns aufnehmen können.“ Zu Mittag um zwölf, wenn überall in der katholischen Welt die Glocken läuten, wird schließlich der „Angelus“ („Der Engel des Herrn“) gebetet. Man kommt also, wenn man diese 16 Gebetsnormen zusammenzählt, auf täglich gut drei Stunden religiöser Andacht.

Eine wöchentliche Norm ist die Beichte; während Frauen unbedingt den Beichtstuhl benützen müssen, knien die Männer vor dem Priester nieder, nehmen seine Belehrung entgegen und küssen dann, was sonst in unseren Breiten nicht üblich ist, seine Stola. Die körperliche Abtötung und das Gebet des Salve Regina sind eine Norm, die samstags gepflegt wird. Obwohl stereotyp behauptet wird, „einzelne Mitglieder dürften dies mit Erlaubnis ihres Beichtvaters tun“, gilt die „körperliche Abtötung“ doch als Norm, die verpflichtend ist und in der Regel so aussieht, daß man sich mit einer geflochtenen Schnur selbst das entblößte Gesäß geißelt. Für Mitglieder, die noch bei den Eltern wohnen, sind Ersatzhandlungen vorgesehen; etwa Sitzen ohne Benützen der Rückenlehne. Das Bußband (Bußgürtel, Cilicium) wird werktags für zwei Stunden getragen, ein Metallstraps, der am Oberschenkel getragen wird, vorzüglich im Sitzen während des Studiums, sodaß sich die zwei Millimeter langen Dornen ins Fleisch bohren und rote Punkte hinterlassen.

An monatlichen Einkehrtagen, in jährlichen Besinnungstagen wird der gutwillige Gläubige an die immer gleichen Themen erinnert; wenn man Glück hat, predigt ein Priester mit Bildung und Humor. „Normen von immer“ sind die „Gegenwart Gottes“, die „Betrachtung unserer Gotteskindschaft“, „Geistige Kommunionen“, also der explizit ausgesprochene Wunsch, daß man gerne kommunizieren möchte, wenn das möglich wäre, „Danksagungen“, „Sühneakte“ und Stoßgebete. Alle diese Normen, die man naturgemäß nicht immer verrichten kann, wenn man etwa einer intellektuellen Arbeit nachgeht, die man aber verrichten könnte, bewirken eine innere Anspannung und eine gewisse Grunddepression, da man zwangsläufig hinter den Erwartungen zurückbleibt. Die Stoßgebete müssen explizit formuliert werden, sie sind mit dem Leiter abzusprechen und sollen gezählt werden; so wird das Mitglied einer ständigen (Selbst-)Kontrolle unterworfen, es konditioniert sich wie durch ein Mantra, vor allem während des „Großen Stillschweigens“, in der Nachtzeit, zwischen der Gewissenserforschung am Abend und der Danksagung nach der Messe des nächsten Morgens; hier darf weder gesprochen, gelesen, gearbeitet noch gar ferngesehen werden; diese Zeit ist ausschließlich dem Gebet gewidmet.

Die Abtötung, ebenfalls eine „Norm von immer“, wird durch einzelne Gewohnheiten, etwa das sogenannte „Sleeping“, das Schlafen auf einem Holzfußboden konkretisiert; wer mit Nichtmitgliedern zusammenlebt, kann es durch Schlafen ohne Polster ersetzen, um nicht aufzufallen, allerdings hat in Deutschland auch schon einmal ein übereifriges junges Mitglied mit einem quer gelegten Besenstiel im Bett geschlafen. Die zölibatären Frauen im Werk schlafen prinzipiell ohne Matratze. Ab einem gewissen Alter brauchen diese Bußübungen nicht mehr ausgeübt zu werden bzw. sind zu unterlassen – das Sleeping ist ab dem 40. Lebensjahr optional, ab dem 45. soll es im Interesse der Gesundheit unterbleiben. Außer Gebrauch gekommen sind das Zurückhalten des Harns während des „Kleinen Stillschweigens“, der Studierzeit am Nachmittag, weil es sich als gesundheitsschädlich erwiesen hat; Steinchen im Schuh wiederum zerreißen die Socken.

Studium, Arbeit und Ordnung sind ebenfalls „Normen von immer“; die zuletzt genannte kommt den Perfektionswahn des Gründers entgegen, der einmal einen Kandelaber im Zorn aus der Wand riß und einen frisch verlegten Marmorboden wieder herausstemmen ließ, weil sie seinen Qualitätsvorstellungen nicht genügten. Von Prälat Ungar, dem langjährigen Leiter der österreichischen „Caritas“, wird jedenfalls der launige Ausspruch über das Werk zitiert: „Wenn es aus Spanien kommt und von der Heiligung der Arbeit spricht, dann muß es von Gott sein.“ Daß es schließlich auch eine „Norm der Freude“ gibt, gehört in die Reihe der blanken Zynismen, die von den Mitgliedern gar nicht mehr bewußt wahrgenommen werden.
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[1] Bei Zentren von St. Michael, bei denen alle schon die Oblation abgelegt haben, in lateinischer Sprache: Normae vitae:
Quotídie: Operum oblátio. Orátio mentalis (per dimídiam horam mane, per álteran dimídiam véspere). Sancta Missa. Communio. Visitátio Sanctíssimi Sacramenti. Léctio Novi Testamenti et alicuius libri espiritualis. Preces. Sanctum Rosárium. Exámina consciéntiae, "Angelus Dómini" vel "Regina Coeli".
Síngulis hebdómadis: Conféssio sacramentalis. Corporalis mortificátio et cantus aut recitátio antíphonae Beatae Mariae Virginis, sábbatis.
Síngulis ménsibus: Dies recessus spiritualis.
Síngulis annis: Cursus recessus spiritualis.
Semper: Praeséntia Dei. Considerátio nostrae filiationis divinae. Communiones spirituales. Actiones gratiarum. Actus reparationis.
Orationes iaculatóriae
Mortificátio. Stúdium. Labor. Ordo. Gáudium.
[2] Mit Alvaro de Portillo unterhielt sich Escrivá, wie allgemein berichtet wird, vor allem schreiend; von seinem zweiten Custoden und Nachfolger, Javier de Echevarría, wird folgende Anekdote unbedingter Hingabe an den „Vater“ kolportiert: Als junger Priester in Begleitung des Gründers in Rom, kurz nachdem man in die noch nicht adaptierte „Villa Tevere“ eingezogen war, noch alles Baustelle war, die Heizung noch nicht funktionierte und kein Geld da war, habe Echevarría bei einem Beisammensein nach Tisch so erkennbar gefroren, daß der „Vater“ ihm geraten habe, er solle die Hand in den heißen Kaffee stecken, und er habe dies auch unverzüglich getan.
[3] Allerdings befand sich in der Monstranz gar keine Hostie, sondern ein rundes Stück Pappendeckel – wie der Hochwürden erleichtert feststellte, der sich schon darauf eingestellt hatte, eine sechzig Jahre alte Oblate konsumieren zu müssen.
[4] Ich kannte einen Numerarier mit internationalem Renommée – nennen wir ihn Santi - , der als Zeichen seiner persönlichen Loslösung Eintragungen in seinem Kalender nur mit einem weichen Bleistift vornahm, die er am Jahresende ausradierte; je nach Konstellation benutzte er dann einen seiner sieben alten Kalender, und in einem Schaltjahr wechselte er Ende Februar nochmals das Exemplar.