Maria Luis: Die Kennzeichen einer Sekte

Definitionen aus der Medizin

Dr. Robert Lifton, Psychiater und Soziologe, hat in seinem klassischen Werk „Die Reform des Denkens und die Psychologie des Totalitarismus" acht Kriterien aufgelistet, anhand derer festzustellen ist, ob „Gehirnwäsche“ vorliegt. Er stützte seine Studie auf die Techniken, die während der Kulturrevolution in Maos China angewendet wurden (Lifton 1989).

Augenblicklich wenden viele Ärzte, klinische Psychologen und Soziologen diese Kriterien an, um festzustellen, ob eine religiöse oder anders ausgerichtete Gruppe die berüchtigte „Gehirnwäsche“ anwendet, um das Verhalten ihrer Anhänger zu manipulieren. Die Anwendung dieser Zwangsmechanismen ist für viele Ärzte nunmehr gültiges Kriterium, um eine Gruppe als Sekte zu klassifizieren...

Die acht Kriterien nach Lifton

1. Kontrolle des sozialen Umgangs und der Kommunikation. Das bedeutet, dass die Kommunikation unter Personen einer Kontrolle unterworfen wird, bis hin zu einer Kontrolle des Umgangs mit sich selbst (es wird keine freie Zeit und Möglichkeit gelassen, dass der „Kandidat“ über sich nachdenkt und mit sich klarkommt).

2. Mystische Manipulation. Es wird eine “Spiritualität” generiert, die angeblich spontanes Verhalten fördert, die aber auf einen bestimmten Effekt hin getrimmt ist, der als „geistliche Erfahrung“ erlebt werden soll, ohne dass die Betroffenen sich Rechenschaft darüber anlegen, dass diese Erfahrung vorbereitet war.

3. Neudefinition der Sprache. Die Worte werden neu kodifiziert; dies erleichtert die Kontrolle über das Denken der Personen. Die „Lehre“ bedient sich vereinfachender Konzepte, die das rationale Denken öfter ausschalten als fördern; die „Erleuchtung” hat Vorrang vor der persönlichen Überlegung, nur die „Erwählten“ können verstehen, was sich innerhalb der Gruppe abspielt.

4. Die Lehre von der Person. Die Erfahrung, die eine Person in der Realität macht, spielt keine Rolle; wichtig ist der Glaube an das Dogma. Die Überzeugung der Gruppe unterdrückt das Bewusstsein des Einzelnen; wenn etwa die Gruppe eine wunderbare Heilung proklamiert, wofür allerdings die wissenschaftliche Beglaubigung fehlt; eine Person, die schwer krank ist, kann sogar selbst versichern, sie sei geheilt. Es ist wichtiger, das Dogma aufrechtzuerhalten als das echte Wohlergehen der Person.

5. Die heilige Wissenschaft. Die Gruppe verfügt über ein absolutes, wissenschaftliches und moralisches Wissen, das nicht in Frage gestellt wird.

6. Ein Kult der Beichte. Das öffentliche Schuldbekenntnis dient der Manipulation der Person; persönliche Abgrenzungen müssen fallen, wie sie im kirchlichen wie im therapeutischen Bekenntnis üblich sind. Es handelt sich dabei um einen klaren Missbrauch, mit dessen Hilfe Menschen durch fehlgeleitete Information schlecht gemacht und kontrolliert werden können. Ziel ist, die Identität der Person zugunsten der Gruppenidentität auszulöschen.

7. Überzogene Forderungen nach Reinheit. Die Forderung nach unerreichbarer Vollkommenheit erzeugt Schuldbewusstsein und Scham; man erreicht dadurch die Bereitschaft, sich gering zu schätzen und selbst zu züchtigen, weil man das Ideal, nach dem man strebt, noch nicht erreicht hat.

8. Die Auslöschung der eigenen Existenz. Die Gruppe ist es, die die Daseinsberechtigung vergibt. Es gibt keine gerechtfertigte Alternative zur Gruppenzugehörigkeit. In totalitären Regimes rechtfertigt dies die Hinrichtung politischer Dissidenten. Die genannten Mechanismen der Einflussnahme haben psychologische und physiologische Folgen, die genau studiert sind; sie hemmen die Überlegung und schaffen eine hohe Beeinflussbarkeit, die das Verhalten der Gruppe leichter kontrollierbar macht.

Eine andere medizinische Definition: Die Parameter von Dr. Hockman

Dr. John Hockman, Professor für Psychiatrie n der Universität von Kalifornien, veröffentlichte 1990 seine Forschungsergebnisse und schlug, in Anlehnung an die Kriterien Liftons, die folgende Definition vor: „Sekten sind Gruppierungen, die Methoden der Gehirnwäsche anwenden, um Mitglieder anzuwerben und zu kontrollieren; als Hilfsmittel bedienen sie sich dabei einer Triade.“ (Hockman 1990:180).

Die drei Punkte, die nach Hockman eine Sekte definieren, sind:

Das Wunder. Hinsichtlich des Anführers oder seines Wirkens herrschen magische Vorstellungen.

Das Geheimnis. Hinsichtlich der Praxis und der tatsächlichen Glaubensinhalte der Gemeinschaft herrscht strengstes Stillschweigen. So hat beispielsweise Shoko Asahara, der Guru der “Oberste Wahrheit” in Japan, Jogakurse angeboten, um neue Mitglieder anzuwerben, hat sie aber im Unklare drüber gelassen, dass er sie zu „religiösen“ Kämpfern ausbilden will, die terroristische Anschläge durchführen sollen. Um das zu erreichen, wandte er einige psycho-physiologische Kontrollmechanismen bei diesen Menschen an, ohne dass diese sich dessen bewusst wurden.

Die Autorität. Die Leitung ist autoritär und absolut; sie benützt die Personen, um die Bedürfnisse der Gruppe zu befriedigen.

Die Elemente dieser Trias schaukeln sich wechselseitig auf; sie sind die eigentlichen Kennzeichen einer Sekte.

Wenn diese drei Elemente in einer religiösen oder anders gearteten Gruppe auftreten, üben sie einen synergetischen Effekt aus; das heißt, sie verstärken einander und schaffen eine gefährliche Atmosphäre, die den betroffenen Personen mentalen Schaden zufügen kann. Dr. Hockman hält diese drei Punkte für entscheidend, um eine Gruppe als Sekte zu klassifizieren. Eine der signifikantesten Merkmale bildet dabei die Wichtigkeit, die der Geheimhaltung beigemessen wird; auf diese Weise wird die kollektive Psyche manipuliert.

In der Geheimhaltung des Mysteriums gibt es eine gewollte Zurückhaltung von Information, die denen gerechterweise zusteht, die den Beitritt zu einer Gruppierung überlegen. Solange es allerdings Geheimhaltung gibt, ist die Wahrnehmung der Realität und der wahren Natur der Gruppe durch die indoktrinierten Gefolgsleute beeinträchtigt und macht sie verletzlich. In diesem Fall geben die Betroffenen ihre Zustimmung nicht mit vollem Bewusstsein, sondern sie fallen einem Täuschungsmanöver zum Opfer, in dem sie zum Gegenstand psycho-physiologischer Techniken werden, die der Ausschaltung des kritischen Verstandes dienen und ihn passiv und empfänglich dafür machen, sich ausbeuten und schädigen zu lassen.

Schließlich darf man den Beitrag Hockmans auch in dem Sinn nicht unterschätzen, dass die destruktiven Sekten aufgrund der sozialen Auswirkungen auch das Gemeinwohl beeinträchtigen. Die Kriterien Hockman über das Wesen einer Sekte haben auch ihre medizinische Implikation und betreffen darüber hinaus auch die juridische Ethik, denn wenn man die Formel „Zustimmung in voller Kenntnis“ näher betrachtet, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass hier, durch die Verletzung eines wesentlichen Rechtsgrundsatzes, durchaus das Verbrechen des Betrugs vorliegt.

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