Escrivás Briefe

Gervasio, 3. August 2011

 Eine umfassende Liste der Briefe Escrivás findet sich in der hier wiedergegebenen Bibliografie.

Ich möchte mich heute besonders mit den Schriften Escrivás beschäftigten, die er „Briefe“ nannte. Diese Briefe lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: die, die mit einem lateinischen „Incipit“ anfangen, und die „normalen“. Die Daten der letzteren sind vertrauenswürdig, was Motiv und Zweck des Briefs betrifft, die sehr konkret sind. Das betrifft beispielsweise die „Glockenschläge“, die Briefe, die Escrivá seine „Campanadas” genannt hat: vom 28. März 1973, vom Juni 1973 und vom 14. Februar 1974. Die Termine sind frisiert", denn 14. Februar ist das Gründungsdatum der weiblichen Abteilung, und der 28. März ist der Jahrestag von Escrivás Priesterweihe, etc.; aber sie sind nicht willkürlich, was Jahr und Monat betrifft. Es stimmt, dass er im März 1973 ein dringendes Rundschreiben ausschickt und drei Monate später ein anderes, in dem er sich darüber weiter auslässt.

Die Briefe, die ein lateinisches „Incipit” aufweisen, gehören eher in das literarische Genus der „Monografie“ als das des Briefes. Der so genannte Brief „Ad serviendum” — ich hoffe, ich verwechsle hier nichts, denn ich schrei­be das aus dem Gedächtnis — handelt von den Numerarierpriestern und stellt den Gedanken des Pries­ter­tums als eines Dienstes in den Mittelpunkt. Er datiert von 1956. Es gibt einen, der im Speziellen dem gewidmet ist, was er die „Transplantation“, die Verpflanzung nannte, dass man nämlich eine Reihe von Leuten – und Spa­ni­en pflegte das Personal zu stellen – in ein neues Land schickte, um zu „gründen“, wie man es nannte, „die Arbeit zu beginnen“. Auch wenn  man im Werk von persönlichem Apostolat spricht, gibt es so etwas gar nicht. Die Terminologie lautet, dass es dann Arbeit" in einem Land gibt, wenn eine Region mit einer bestimmten Hierarchie irgendwo errichtet wurde. Irgendein persönliches Apostolat, das vielleicht vorher dort geleistet wor­den sein mag, spielt hierbei keinerlei Rolle; es wird nicht erwähnt und existiert offiziell gar nicht. Das Apostolat wird ausschließlich als Aktivität der Institution verstanden. Deswegen erscheint das Werk auch so wenig laikal. Es kann von Laien realisiert werden, und das geschieht in der Regel auch so; aber die entsprechende Aufgabe wird nicht als Apostolat betrachtet, wenn ihr kein Auftrag von Seiten der Institution vorausgeht. Ich glaube mich erinnern zu können – es liegt weit zurück, und ich schreibe aus dem Gedächtnis —, dass der Brief mit der Ein­gangs­floskel „Mirabilis omnino“, der von 1953 datiert, davon handelt; aber ich bion mir nicht sicher. Auf jeden Fall enthält er Reflexionen, Erfahrungen und Kriterien, die erst später festgelegt wurden.

In „Multum usum” ist besonders von den Assoziierten die Rede. Die Wahrheit ist, auch wenn sich die­ser Brief damit beschäftigt zu klären, worin die Berufung eines Assoziierten besteht, so wird das dort nicht klar. Vermutlich ist es das auch bis heute nicht. Der Brief „Res omnes”, datiert vom 9-I-1932, seinem dreißigsten Geburtstag, ist lang und dicht,  mit Nachdruck geschrieben, und zeigt am deut­lichs­ten Züge von Anachronismus. Weder ist er von 1932, noch kommt irgedn etwas darin vor, was auf die damalige Zeitsituation Bezug nimmt. Damals hatte der Gründer weder  den „Weg“ (von 1939) noch die „Geistlichen Betrachtungen“ (von 1934) veröffentlicht, nicht die „Instruktionen von St. Raphael“ (1935) noch die „Art, wie Proselytismus zu machen sei“ (1934) etc. In einem Punkt des „We­ges ist zu lesen: „Ohne das wäre Cisneros nicht Cisneros geworden, Theresia von Ahumada keine heilige There­si­a von Avila und Iñigo von Loyola nicht der heilige Ignatius...“. Und dieser ganze Punkt (es ist Nr. 11) besteht wie der ganze Weg aus Auslassungszeichen, Punkten Gedankenstrichen… Es­cri­vá pflegte damals eine übertriebene Interpunktion, voller Rufzeichen und Sonderzeichen. Bei „Res omnes” fehlt, so wie bei den meisten der Briefe mit lateinischer Einleitung, diese Besonderheit seiner ältesten Schrif­ten; an manchen Stellen weisen sie sogar gelehrte Zitate auf. Aber niemals wird etwas anderes als die Heilige Schrift zitiert, bestenfalls ein Kirchenvater. Er entschloss sich, die Schreibweise der Päpste in ihren Enzykliken zu übernehmen; zitiert werden hier nur die Heilige Schrift und Kirchenväter. Kein Gedanken, hier Ignatius oder einen anderen Jesuiten zu Wort kommen zu lassen, die ja schließlich im Werk Hausverbot bekommen hatten; auch Theresia von Avila wird nicht zitiert, denn es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass der Gründer ihr irgend einen Einfluss in seiner Spi­ri­tu­alität verdanken sollte. Alle Briefe mit einem lateinischen Incipit wurde Mitte der sechziger Jahre redigiert.

In dieser Zeit kommt er auf die Idee, seinen Briefen ein lateinisches „Incipit“ voranzustellen, als ob es sich um eine päpstliche Verfügung handelte, eine Enzyklika oder dergleichen. Die echten Briefe, so wie der vom 9. Januar 1939, über den Oráculo recherchiert hat, besitzen kein Incipit. Wem sollte es auch in den Sinn kommen, einen Brief, der auf Spanisch geschrieben wurde und veröffentlicht worden ist, mit einer lateinischen Einleitung zu versehen? Nur Escrivá. Ich kenne keinen anderen Fall. Ich denke, er wollte damit dem Geschriebenen eine gewisse Würde und Bedeutung geben. So konnte er ein wenig den Papst nachmachen. Auch wenn er ein wenig Latein konnte, war er dennoch unfähig, in dieser Sprache zu schreiben. Aber eine lateinische Einleitung gefiel ihm. Das klingt doch gut, oder?

— Haben Sie Cuncta nobis gelesen?

— Nein. Ich bevorzuge Nostris temporibus.

Bei bestimmten Gelegenheiten ließ er einen ganzen Brief ins Lateinische übersetzen, das Original vernichten und dann den Brief aus dem Lateinischen ins Spanische übersetzen. Vielleicht wollte er damit jemandem weismachen, die Briefe — oder zumindest ein Teil davon — seien ursprünglich in lateinischer Sprache verfasst worden oder so ähnlich. Ich erinnere mich daran, dass sich der Übersetzer beklagte, dass „Sauerteig“ im Lateinischen mit „fermentum” wiedergegeben und dann bei der Rückübersetzung zu „Ferment“ geworden war. Nach dem Urteil des Übersetzers hatte der Text dadurch verloren. In einem Fall dienten die Übersetzungen wenigstens zu etwas. Das Satz „wir sind wie die anderen Bürger“ wurde zu „quasi alii cives”. Dieses „wir sind gleichsam die anderen Bürger“ gefiel ihm nicht und wurde zu „gleich wie die anderen Bürger“.

Ich habe schon vorher angemerkt, dass die so genannten „Briefe“ mit einer lateinischen Einleitung eher dem Genus Monografie entsprechen. Ein anderer Gesichtspunkt ist der, dass es auch die so genannten „Pseudo-Memoiren“ gibt. Ich bezieh mich auf Bücher wie die „Kleine Chronik der Anna Magdalena Bach“. In diesem Buch nennt die Autorin ihren Namen nicht – es handelt sich um Esther Meynell —, sondern sie schreibt die Memoiren so, als wäre sie selbst die zweite Ehefrau von Johann Sebastian Bach. Der Autorin gelingt es dabei, die Fakten, die wir aus dem Leben Bachs kennen, so in Erscheinung treten zu lassen, als hätte sie sie in ihrem eigenen Leben so erfahren; sie erzählt mit Anmut, bringt vermutlich erfundene Dialoge, und all das können wir als eine gelungene Inszenierung ansehen.

In anderen Fällen verbirgt der Autor wiederum seinen Namen nicht. Antonio Gala dachte sich etwa aus, dass es Fragmente von Memoiren Isabella der Katholischen gäbe; den Text hat er aber unter seinem Namen herausgebracht: Antonio Gala. Esther Meynell präsentierte ihre „Kleine Chronik der Anna Magdalena”, ohne ihren eigenen Namen aufscheinen zu lassen, sondern der Text firmiert unter Anna Magdalena. Das hatte zur Folge, dass viele Leser, darunter auch ein Musikwissenschaftler, die Memoiren für echt hielten. Allerdings sollte aufgrund dem aufmerksamen Leser aufgrund einer Reihe von Hinweisen aus dem Text klar werden, dass er ganz unmöglich von Anna Magdalena Bach geschrieben worden sein konnte.

Bei Escrivá ist es ein besonderer Fall, und es passt gut zu ihm. Wir sehen hier jemanden, der sein in­times Tagebuch neu redigiert. Er gibt vor, diese Briefe zu einer Zeit geschrieben zu haben, in denen er sie jedenfalls nicht geschrieben hat. Es sind zwar „seine“ Briefe, aber sie sind nachträglich und mit fremder Hilfe verfasst.

Ich habe schon in einem früheren Beitrag („Die hohen Direktoren des Opus Dei“, „Los directores mayores del Opus Dei” angedeutet, dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass die „Instruktion für die Direktoren“ („Instrucción para los directores”, datiert vom Mai 1936) zu diesem Zeitpunkt verfasst worden sein soll, denn hier ist von örtlichen und zentralen Räten und Regionalkommissionen die Re­de, und zwar in einer Zeit, als das Opus Dei aus einem Dutzend Numerarier in einem Haus in Madrid bestand. Mehr gab es damals nicht.

Es ist auch unwahrscheinlich, dass ein Brief wie „Res omnes” 1932 geschrieben worden sein soll, denn 1932 gab es unseres Wissens noch keine Mitglieder im Werk, und es macht wenig Sinn, einen „internen“ Brief zu schreiben, für den es noch keinen Adressaten gibt. [Eine „herrliche, heilige Don­quichotterie“ nennt das Peter Berglar sehr beschönigend]. Hat ihn Escrivá an sich selbst geschrieben? Damals machte es jedenfalls nur Sinn, Texte für „Draußen“ zu schreiben, wie den „Weg“, oder  wie er anfänglich hieß, die „Geistlichen Betrachtungen“.

Der konfuse Stil, die Inkonzinnität, wie sie für Escrivá eigentümlich sind, und zwar bei seiner schriftlichen ebenso wie bei seiner mündlichen Ausdrucksweise, lässt sich nun bei einem Brief, der ja verschiedene Themen berührt, doch einigermaßen rechtfertigen. Man muss den Text aber ein wenig würdiger machen, und dazu verhelfen eine lateinische Eingangsfloskel und ein Schluss, der an Paulus erinnert. Escrivá gibt sich aber nicht leicht zufrieden.  So wie es biblische Studien von hoher Qualität gibt, hoffte auch er, dass sich dereinst Expertenteams mit der Analyse und theoretischen Ausdeutung seiner Schriften befassen würden. Ich denke, nach seinem Tod haben seine geistlichen Söhne einiges in dieser Richtung bewegt.

Mein Beitrag ist nicht zuletzt auch eine Hommage an die Schiften Escrivás. Er liefert, wenn auch in bescheidenem Umfang, Informationen zu Genese und Chronologie dieser Schriften; sein Manko besteht darin, dass er nicht von einem befugten Mitglied der Hierarchie des Opus Dei, sondern von einem Ex verfasst wurde. Aber dieses unangenehme Faktum verbürgt in gewisser Weise doch auch die Authentizität des Gesagten. Das, was offiziell oder offiziös über Escrivá geschrieben wurde, leidet in der Regel an einem Mangel an historischer Stringenz, wenn nicht an Objektivität.

Gervasio