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Hirtenbrief

 Bischof Javier Echevarría 

Prälat des Opus Dei

Rom, 2.10.2011

 

[Anmerkung: Der "Hirtenbrief", den Bischof Echevarría am 1. Oktober 2011 geschrieben hat, ist für die Mitglieder des Werkes bestimmt. Dieser, der die Datierung des Folgetags trägt, ist ausschließlich in Hinblick auf den Heiligen Vater und die Kurie verfasst, da die Praxis der Beichte und Aussprache im Opus Dei  dem gültigen Kirchenrecht widerspricht und dies auch Gegenstand einer Ermahnung durch den Heiligen Vater war; die Kapitel 14-16 enthalten die Unwahrheit, und es liegt nicht im Interesse der derzeitigen Nomenklatur, diese Diskrepanz den von ihnen abhängigen Gläubigen mitzuteilen. Wir werden den Brief vom 2. Oktober ausführlich kommentieren.

Das durchsichtige Manöver, durch zwei Briefe innerhalb von zwei Tagen (denn auch der Brief vom 1. Oktober ist zum 2. Oktober, dem Gründungstag, geschrieben worden), ist den Herren von der Sekte selbst nicht ganz geheuer gewesen; deswegen findet man den Brief vom 2. Oktober – wenn man sorgfältig sucht – unter dem 21. Oktober, und zwar als pdf-Datei, abgespeichert.

 

Entlarvend ist auch, dass hier, anders als bei allen anderen Texten, die Überschrift nicht "Brief des Prälaten lautet, sondern "Hirtenbrief" - es ist tatsächlich ein Brief an die Hirten.]

 

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INHALT

 

BILDUNG FÜR DIE NEUEVANGELISIERUNG

Wie die ersten Christen

Notwendigkeit und Bedeutung der Bildung

Freiheit, Fügsamkeit, Verantwortungsbewusstsein

 

MENSCHLICHE BILDUNG

Mäßigkeit

Starkmut

Menschlicher Umgangston

Der menschliche Umgangston der Priester

 

GEISTLICHE BILDUNG

Mit Christus eins werden

Die Mittel

Das Sakrament der Versöhnung

Eigeninitiative und Fügsamkeit

Demut und Klugheit beim Erteilen der geistlichen Leitung

Die liturgische Bildung

Die Liturgie des Wortes

Die eucharistische Liturgie

 

BILDUNG IN DER KATHOLISCHEN LEHRE

Treue zum Lehramt und Freiheit in den offenen Fragen

 

BILDUNG FÜR DAS APOSTOLAT

Persönliches Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens

Apostolat der Familie und Apostolat mit der Jugend

Apostolat und Kultur

 

BERUFLICHE BILDUNG

Arbeit und Einheit des Lebens

Lauterkeit der Absicht

Apostolische Spontaneität

 

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Meine lieben Töchter und Söhne, Jesus möge Euch beschützen!

1. Seit die Kirche vom Herrn den Missionsbefehl empfing (vgl. Mt 28,19-20), hat sie nicht aufgehört, das Evangelium zu verkünden. Im Laufe der Jahrhunderte sind daraus viele Früchte erwachsen: dank der Gnade Gottes auch das Werk und jeder einzelne seiner Gläubigen. Wie schon zu anderen Zeiten ist auch gegenwärtig in vielen Bereichen ein markanter Prozess der Entchristlichung im Gang, der sehr schwere Verluste für die Menschheit mit sich bringt. Gott aber hat der Kirche zu jeder Zeit Heilige gesandt, die es durch ihr Wort und ihr Beispiel verstanden haben, die Seelen zu Christus zurückzuführen. Wie Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika über die Hoffnung geschrieben hat, ist das Christentum »nicht nur ›gute Nachricht‹ – eine Mitteilung von bisher unbekannten Inhalten«, sondern »es ist Mitteilung, die Tatsachen wirkt und das Leben verändert«1. Ich möchte nun einige Aspekte dieser Bildung für unser geistliches Leben näher betrachten, um so mitzuwirken an dem, was der selige Papst Johannes Paul II. „Neuevangelisierung“ genannt hat. 1985 schrieb uns der erste Nachfolger unseres Vaters einen Hirtenbrief, in dem er dazu ermutigte, uns sehr aktiv an diesem apostolischen Unterfangen zu beteiligen. Dabei betonte er die Notwendigkeit, für unsere persönliche Bildung besonders Sorge zu tragen und diese Bildungsarbeit auf andere Seelen auszudehnen.

Auch Benedikt XVI. leitet nun die Christen auf denselben Wegen. Die jüngst erfolgte Einrichtung des Päpstlichen Rates für die Förderung der Neuevangelisierung2 belegt dieses Interesse. Wir alle fühlen uns von seinen Worten auf dem letzten Weltjugendtag angesprochen, mit denen er die Jugendlichen anspornte, »Zeugnis vom Glauben zu geben, einschließlich dort, wo Ablehnung oder Gleichgültigkeit herrschen. Es ist nicht möglich, Christus zu begegnen und ihn nicht den anderen bekannt zu machen. Bewahrt also Christus nicht für euch selbst. Teilt eure Glaubensfreude den anderen mit! Die Welt braucht das Zeugnis eures Glaubens, sie hat Gott gewiss nötig.«3

 

BILDUNG FÜR DIE NEUEVANGELISIERUNG

 

Wie die ersten Christen

 

2. Da das Werk in die Welt gekommen ist, um die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat in Erinnerung zu rufen, pflegte der heilige Josefmaria zu erklären, dass »das Opus Dei am ehesten zu verstehen ist, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jene Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren.  Äußerlich unterschieden sie sich nicht von den anderen Leuten.«4

Am Pfingstfest bewegte der Heilige Geist die Apostel und die übrigen Jünger, das Evangelium zu verkünden, und ließ in ihrem Inneren die Lehren Christi lebendig werden. Es genügt, die Schriften des Neuen Testaments zu lesen, um bestätigt zu finden, dass eine der vorrangigen Tätigkeiten der Zwölf darin bestand, den Samen des Glaubens auszusäen und ihn mit ihren Lehren - durch Wort und Brief - zu nähren. Die geduldige Arbeit der Bildung, die der Herr drei Jahre lang seinen Aposteln

 

1 Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 30.11.2007, Nr. 2.

2 Vgl. ders., Apostolisches Schreiben Ubicumque et semper, 21.9.2010.

3 Ders., Predigt bei der Abschlussmesse des Weltjugendtags, 21.8.2011.

4 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 24.

 

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erteilte und die dann von diesen und ihren Mitarbeitern unter dem Beistand des Heiligen Geistes

ohne Unterbrechung fortgeführt wurde, veränderte schließlich die antike Welt, bis sie christlich

wurde.

 

Notwendigkeit und Bedeutung der Bildung

 

 Der heilige Josefmaria spornte alle dazu an, christliche Bildung zu erwerben und sie beständig zu verbessern, denn darin liegt eine unabdingbare Voraussetzung dafür, um im vertrauten Umgang mit Jesus Christus zu wachsen und ihn anderen Seelen bekannt zu machen. Discite benefacere (Jes 1,17): Lernt, das Gute zu tun, wiederholte er mit den Worten des Propheten Jesaja. »Denn es nützt nichts, dass eine Lehre wunderbar und heilbringend ist, wenn es keine Menschen gibt, die fähig sind, sie in die Tat umzusetzen.«5 Seit seinen ersten Schritten als Priester verwendete er viel Kraft darauf, die Menschen, die ihn in seiner priesterlichen Arbeit aufsuchten, in der Glaubenslehre zu bilden. Später, im Laufe der Entwicklung des Opus Dei, verstärkte er diese

Anstrengungen und sah die notwendigen Mittel vor, um dieser Bildungsarbeit Dauer zu verleihen: in erster Linie für seine Kinder, dann aber auch für unzählige andere Menschen – Männer und Frauen, Junge und Alte, Gesunde und Kranke –, die sich bereit zeigten, diese Botschaft aufzunehmen.

Unser Vater unterschied fünf Aspekte der Bildung: den menschlichen, den geistlichen, den doktrinell-religiösen, den apostolischen und den beruflichen. »Ein Mensch«, so erklärte er, »entfaltet sich nach und nach, und nie ist er ganz vollendet. Nie erreicht er alle menschliche Vollkommenheit, der die Natur fähig ist. In einer bestimmten Hinsicht kann er sogar, verglichen mit allen anderen, der Beste werden, unübertrefflich vielleicht in dieser konkreten natürlichen Tätigkeit. Als Christ aber gibt es für sein Wachstum keine Grenzen.«6

Was den menschlichen Aspekt anbelangt, bemerken wir bei einer ehrlichen Selbstprüfung sofort, dass unser Charakter und unser Auftreten vervollkommnet werden kann. Wir müssen die menschlichen Tugenden erwerben und verbessern, die Grundlage der übernatürlichen sind. Das gleiche gilt für die geistliche Bildung, denn man kann immer in den christlichen Tugenden weiter voranschreiten, vor allem in der Liebe, die das Wesen der Vollkommenheit bildet.

In Bezug auf den doktrinell-religiösen Aspekt kann und soll unser Wissen über Gott und die geoffenbarte Glaubenslehre wachsen, damit unser Verstand, unser Wille und unser Herz besser mit den Glaubens­geheimnissen in Einklang stehen und diese tiefer erfassen. Das Apostolat wiederum ist »ein Meer ohne Ufer«, und es bedarf der Vorbereitung, um die Liebe Christi in weiteren Lebensbereichen und Ländern zu verkünden. Das war von Anfang an das Programm des heiligen Josefmaria, wie aus einer handschriftlichen Notiz aus den ersten Jahren des Werkes hervorgeht: »Christus kennenlernen. Ihn bekannt machen. Ihn überall hintragen.« Das berufliche Ansehen ist der »Angelhaken als Menschenfischer«7, um das Reich Christi - das in seiner Kirche schon gegenwärtig ist - in die Gesellschaft hinein auszubreiten. Das Panorama ist so weit, dass wir nie werden sagen können: Ich bin schon genug gebildet! »Wir sagen nie, es reicht. Unsere Bildung hört niemals auf: alles, was ihr bisher an Bildung erhalten habt«, erklärte unser Vater, »ist die Grundlage für das, was später kommen wird.«8

 

5 Ders., Brief 6.5.1945, Nr. 19.

6 Ders., Brief 24.3.1931, Nr. 9.

7 Ders., Der Weg, Nr. 372.

8 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, 18.6.1972.

 

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Freiheit, Fügsamkeit, Verantwortungsbewusstsein

 

4. Die Identifikation mit Jesus Christus erfordert die freie Mitwirkung des Menschen: »Er, der dich ohne dich geschaffen hat, wird dich nicht ohne dich erlösen«9. Diese persönliche Mitwirkung spielt eine unerlässliche Rolle, doch was das Geschöpf nicht erlangen kann, das vermag die Gnade Gottes. »Der Herr hat uns mit Freiheit ausgestattet, die ein sehr hohes Gut und der Ursprung von vielen Übeln ist. Sie ist aber auch der Ursprung der Heiligkeit und der Liebe.«10 Ursprung der Liebe: Nur freie Wesen sind in der Lage zu lieben und glücklich zu sein. Wo Zwang herrscht, kann die Liebe nur schwer wachsen. Und es gibt keine Treue ohne die frei getroffene und feste Entscheidung, mit dem Willen Gottes eins zu werden.

Die Kirche besitzt die Arznei, um die menschliche Schwäche zu heilen, die eine Folge der Sünde ist und unter anderem in der Verminderung der inneren Freiheit zum Ausdruck kommt. Diese Arznei, die Gnade Gottes, heilt nicht nur die natürliche Freiheit, sondern erhebt sich zu einer neuen und höheren Freiheit. Jesus Christus hat uns wirklich von der Sklaverei und Verlorenheit befreit zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,21). Bleibt daher fest, so mahnt der Apostel, und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen (Gal 5,1). »Frag dich jetzt (…)«, so lädt der heilige Josefmaria ein, »ob du fest und unerschütterlich an deinem Ja zum Leben festhältst; ob du auf die liebenswürdige Stimme Gottes hörst, die dich zur Heiligkeit ruft, und ihr in Freiheit folgst.«11 Die persönliche Entscheidung unserer Antwort auf den Ruf Gottes ist – in der Kirche wie im Werk – der Grund für unsere Beharrlichkeit. Mehr noch, diese Freiheit verwirklicht sich vollkommen und er­reicht ihren ganzen Sinn allein durch die liebende Hingabe an den Willen Gottes, wie es Jesus getan hat. »Die persönliche Freiheit, für die ich mich immer eingesetzt habe und mit allen meinen Kräften weiterhin einsetzen werde, drängt mich zu der Frage, die ich mir in sicherer Überzeugung, aber auch im Bewusstsein meiner Schwäche stellen muss: Was erwartest Du von mir, Herr, damit ich es in Freiheit erfülle?«12 Und unser Vater fügt hinzu: »Christus selbst antwortet uns: Veritas liberabit vos (Joh 8,32); die Wahrheit wird euch frei machen. Welche Wahrheit ist das, die unserem ganzen Leben den Weg der Freiheit eröffnet und vollendet? Mit der Freude und der Gewissheit, die aus der Verbindung zwischen Gott und seinen Geschöpfen hervorgehen, will ich sie euch nennen: zu wissen, dass wir aus Gott stammen, dass wir von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit geliebt werden, dass wir Kinder des erhabensten Vaters sind.«13

5. Bei der Eingliederung in das Opus Dei geht jeder frei die Verpflichtung ein, sich bilden zu lassen, um so die Sendung des Werkes im Schoß der Kirche zu verwirklichen. Aus diesem Grund nimmt er dankbar die spezifischen Bildungsmittel in Anspruch, die der heilige Josefmaria in Treue zum Willen Gottes festgelegt hat.

Erwägen wir ernsthaft und häufig die »Pflicht, uns die Glaubenslehre gut anzueignen; die Pflicht, uns so vorzubereiten, dass man uns versteht, damit außerdem unsere Zuhörer sich nachher auszudrücken wissen«14. Daher die Notwendigkeit, die Bildungsmittel in Anspruch zu nehmen und sie gründlich zu nützen. Wie Johannes Paul II. ausführte, sind »bestimmte Überzeugungen besonders notwendig und fruchtbar, vor allem die, dass eine wahre, effektive Erziehung und Ausbildung nur dann vermittelt

 

9 Hl. Augustinus, Sermo 169, 13 (PL 38, 923).

10 Hl. Josefmaria, Notizen aus einem familiären Beisammensein, 1963.

11 Ders., Freunde Gottes, Nr. 24.

12 Ebd., Nr. 26.

13 Ebd.

14 Hl. Josefmaria, Brief 9.1.1932, Nr. 28.

 

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werden kann, wenn jeder selbst die Verantwortung dafür übernimmt und vertieft. Denn Erziehung ist wesentlich ›Selbst-Erziehung‹. Ferner ist die Überzeugung wichtig, dass ein jeder von uns zugleich Ziel und Anfang der Erziehung und Ausbildung ist. Je mehr wir erzogen werden, um so mehr empfinden wir die Notwendigkeit, diese Erziehung fortzusetzen und zu vertiefen. Und je mehr wir erzogen und geformt sind, um so mehr werden wir fähig, andere zu formen.«15

 

MENSCHLICHE BILDUNG

 

6. In ihrem menschlichen Aspekt zielt die Bildung darauf ab, die Tugenden zu stärken. So trägt sie zur Ausformung des Charakters bei: Der Herr will uns sehr menschlich, aber auch sehr göttlich, die Augen auf ihn gerichtet, vollkommener Gott und vollkommener Mensch16. Das ›Gebäude‹ der Heiligkeit erhebt sich über menschlichen Fundamenten: Die Gnade setzt die Natur voraus. Daher empfiehlt das Zweite Vatikanische Konzil den gläubigen Laien, jene Tugenden hochzuschätzen, »die sich auf den mitmenschlichen Umgang beziehen, wie

Rechtschaffenheit, Sinn für Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Menschlichkeit, Starkmut, ohne die auch ein wahrhaft christliches Leben nicht bestehen kann«17.

Zu einer gefestigten Persönlichkeit reift man heran in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, durch die Freund­schaften, in den verschiedensten Situationen des Lebens. Außerdem muss man lernen, sich lauter und rechtschaffen zu verhalten. So wird der Charakter verbessert und dient als Grundlage für die Stärkung des Glaubens angesichts innerer oder äußerer Schwierigkeiten. Es fehlt nicht an Männern und Frauen, »die vielleicht niemals Gelegenheit hatten, das Wort Gottes zu hören oder die es vergessen haben, die aber, menschlich gesehen, aufrichtig, verlässlich, mitfühlend, anständig sind. Ich bin davon überzeugt, dass ein Mensch mit solchen Voraussetzungen nahe daran ist, sich Gott zu öffnen, denn die natürlichen Tugenden bilden das Fundament der übernatürlichen.«18

Gegenwärtig ist es besonders wichtig, den Wert und die Notwendigkeit der menschlichen Tugenden wiederzuentdecken, da manche der Ansicht sind, sie stünden im Gegensatz zur Freiheit, zur Spontaneität und zu dem, was sie irrtümlich für »authentisch« am Menschen halten. Vielleicht vergessen sie dabei, dass diese habituellen Vollkommenheiten des Verstandes und des Willens das gute und rechtschaffene Handeln erleichtern und das Zusammenleben in der Gesellschaft gerecht, friedvoll und liebenswert machen.

Auch wenn das mancherorts herrschende Milieu es erschwert, dass diese Werte erfasst werden, verlieren die menschlichen Tugenden nicht an Attraktivität. Angesichts der vielfältigen Verlockungen, die das Herz nicht zu sättigen vermögen, sucht der Mensch schließlich etwas, das sich wirklich lohnt. Daher stellt sich uns Christen die große Aufgabe, die Schönheit eines tugendhaften Lebens, eines wahrhaft menschlichen, glücklichen Lebens aufzuzeigen – und zwar in erster Linie durch das eigene Beispiel.

Gegenwärtig erscheinen uns vor allem Mäßigkeit und Starkmut von Bedeutung zu sein.

 

15 Sel. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 30.12.1988, Nr. 63.

16 Athanasianisches Glaubensbekenntnis.

17 II. Vatikanisches Konzil, Dekret Apostolicam Actuositatem, Nr. 4.

18 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 74.

 

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Mäßigkeit

 

7. »Maßhalten heißt Herr über sich selbst sein.« Diese Herrschaft über sich selbst erlangt man, wenn man sich bewusst wird, »dass nicht alles, was wir leibhaft oder seelisch empfinden, uns in einem ungezügelten Strom fortreißen darf. Ich muss wissen, dass ich nicht alles darf, was ich kann. Wohl ist es bequemer, sich von den sogenannten natürlichen Trieben fortschwemmen zu lassen, aber am Ende des Weges steht nur das traurige Alleinsein mit dem eigenen Elend.«19

Diese Tugend ordnet und regelt das Begehren, sichert die feste und ausgewogene Kontrolle des Verstandes über die Leidenschaften. Mäßigkeit ist nicht bloße Verneinung. Das wäre eine Karikatur dieser Tugend. Vielmehr geht es darum, dass sich das verlockende Gut und die von ihm ausgehende Anziehung harmonisch in die umfassende Reife der Person und in die Gesundheit der Seele einfügen. »Maßhalten bedeutet nicht Einengung, sondern Weite. Die Einengung liegt vielmehr in der Maßlosigkeit, denn da wirft sich das Herz selbst weg, jämmerlich verführt vom erstbesten blechernen Lärm.«20

Die Erfahrung zeigt, dass die Unmäßigkeit das rechte Urteil darüber erschwert, worin das wirklich Gute besteht. Wie bejammernswert sind die Menschen, bei denen die Lust das Kriterium ihrer Entscheidungen ist! Eine Person ohne Maß lässt sich von den vielfältigen Eindrücken leiten, welche die Umgebung in ihr weckt. Da so die Wahrheit der Dinge beiseite geschoben und das Glück in flüchtigen Erfahrungen gesucht wird - gerade weil sie flüchtig und rein sinnlich sind, befriedigen sie niemals ganz, sondern schaffen Unruhe und stören das Gleichgewicht -, gerät das Geschöpf in eine Spirale der Selbstzerstörung. Im Gegensatz dazu vermittelt Maßhaltung Gelassenheit und Ruhe. Sie unterdrückt und verleugnet die guten Wünsche und edlen Leidenschaften nicht, sondern macht den Menschen zum Herrn über sich selbst.

In diesem Bereich kommt den Supernumerariern in ihrem Benühen, ein christliches Zuhause zu schaffen, eine besondere Verantwortung zu. Der heilige Josefmaria bemerkte, die Eltern müssten ihre Kinder lehren, »bescheiden zu leben (…). Es ist schwierig, aber man muss es wagen. Habt den Mut, zur Genügsamkeit zu erziehen.«21 Die wirksamste Weise, diese Haltung zu vermitteln, ist das Beispiel, vor allem bei kleinen Kindern. Sie werden die Schönheit der Tugend nämlich nur dann verstehen, wenn sie miterleben, wie Ihr Euch ihnen zuliebe etwas versagt oder Eure eigene Erholung hintanstellt, um Euch ihnen zu widmen, um mit ihnen zusammenzusein, um Eure elterliche Sendung zu erfüllen. Helft ihnen, mit den Dingen, die sie benutzen, gut umzugehen. Damit erweist Ihr ihnen einen großen Dienst. Noch einmal: Wenn Ihr bei Euch zu Hause für Mäßigkeit sorgt, wird der Herr Euren Verzicht und Euer Opfer als Mütter und Väter belohnen, und es werden aus Euren Familien Berufungen hervorgehen, die sich Gott widmen.

 

Starkmut

 

8. Gelegentlich verspüren wir in uns einen gewissen Widerstand gegenüber der Anstrengung, gegenüber dem, was Mühe, Opfer und Entsagung mit sich bringt. Der Starkmut »ist jene sittliche Tugend, die in Schwierigkeiten standhalten und im Erstreben des Guten durchhalten lässt. Sie festigt die Entschlossenheit, Versuchungen zu widerstehen und im sittlichen Leben Hindernisse zu überwinden. Die Tugend der Tapferkeit befähigt, die Angst, selbst die vor dem Tod, zu besiegen und allen Prüfungen und Verfolgungen die Stirn zu bieten.«22

 

19 Ebd., Nr. 84.

20 Ebd.

21 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, 28.11.1972.

22 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1808.

 

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Kämpfen wir um den Habitus, uns in Kleinigkeiten zu besiegen: die zeitlichen Abläufe einzuhalten, für Ordnung im Umgang mit den Dingen zu sorgen, nicht jeder Laune nachzugeben, Anflüge von Ärger zu beherrschen, Begonnenes zu Ende zu führen usw. So können wir bereitwilliger den Anforderungen unserer christlichen Berufung entsprechen. Außerdem wird uns der Starkmut zur recht verstandenen Geduld verhelfen - zu leiden, ohne den anderen zur Last zu fallen, oder die Widerwärtigkeiten zu ertragen, die von unseren eigenen Begrenztheiten und Fehlern, von der Müdigkeit, den charakterlichen Eigenheiten anderer, den Ungerechtigkeiten und dem Mangel an notwendigen Mitteln herrühren. »Stark ist, wer beharrlich nach seinem Gewissen handelt; wer den Wert einer Handlung nicht auschließlich nach dem eigenen Vorteil, sondern nach dem Dienst für andere bemisst. Der Starke wird manchmal leiden, aber durchhalten, er wird vielleicht weinen, aber sich von seinen Tränen nicht umstimmen lassen, er mag heftigen Widerspruch erfahren, aber er beugt sich nicht.«23

Sicherlich bedarf es des Starkmuts, um täglich die Aufgabe der eigenen Heiligung und des Apostolats inmitten der Welt anzugehen. Es mögen sich vielleicht Hindernisse in den Weg stellen, doch ein Mensch, den die Stärke Gottes antreibt - quoniam tu es fortitudo mea (Ps 30[31],5), denn Du, Herr bist meine Stärke -, hat keine Furcht, seinen Glauben in Taten umzusetzen, ihn zu bekennen und zu verteidigen, auch wenn das bedeuten mag, gegen den Strom zu schwimmen.

Blicken wir noch einmal auf die ersten Christen: Sie begegnen zahlreichen Schwierigkeiten, denn die Lehre Christi erschien - damals wie heute - als Zeichen des Widerspruchs (Lk 2,34). Die Welt von heute braucht Frauen und Männer, die in ihrem täglichen Verhalten »das stille und heldenhafte Zeugnis so vieler Christen [anbieten], die das Evangelium kompromisslos leben, indem sie ihre Pflicht tun«24.

 

Menschlicher Umgangston

 

9. Der Eifer, die menschlichen Tugenden zu pflegen, wird dazu beitragen, dass man den bonus odor Christi (vgl. 2 Kor 2,15) atmet, den Wohlgeruch Christi. In diesem Zusammenhang erweist sich der Umgangston als besonders wichtig, also das herzliche und respektvolle Verhalten im Verkehr mit den anderen. Bemühen wir uns darum im Kreis der Familie, am Arbeitsplatz, bei der Unterhaltung, bei Sport und Erholung, auch wenn das nicht selten bedeutet, dass man gegen den Strom schwimmen muss. Haben wir keine Angst, wenn gelegentlich unsere christliche Natürlichkeit mit dem Milieu zusammenstößt, denn genau das - so lehrte uns der heilige Josefmaria - ist dann die Natürlichkeit, die der Herr von uns erwartet25.

Es ist heute dringend notwendig, diese guten Umgangsformen zu pflegen und unter unseren Mitmenschen zu verbreiten. Häufig werden in den Familien und in der Gesellschaft diese Ausdrucksformen eines gepflegten Umgangsstils zugunsten einer falsch verstandenen Natürlichkeit vernachlässigt. Auf vielfältige Weise lässt sich ein Beitrag zur Bildung auf diesem Gebiet leisten. An erster Stelle steht, wie immer, das Beispiel, wenngleich es zudem angebracht ist, diesen Aspekt mittels persönlicher Gespräche und Vorträgen vor kleineren Gruppen zu vertiefen. Das respektvolle Verhalten im zwischenmenschlichen Umgang zeigt sich in passender und anständiger Kleidung, in den Themen, die man im Gespräch und im Beisammensein anschneidet, in der Förderung der freu­digen Dienstbereitschaft zu Hause, in der Schule, in den Vergnügungs- und Erholungsstätten, sowie in der materiellen Pflege der Wohnung und in der Beachtung der kleinen Dinge.

 

23 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 77.

24 Benedikt XVI., Ansprache beim Angelus, 28.10.2007.

25 Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 380.

 

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Von besonderer Bedeutung ist das Interesse, eine solide Allgemeinbildung zu erlangen und zu verbreiten, die den Umständen eines jeden angemessen ist und seiner Ausbildung, dem sozialen Umfeld und den persönlichen Neigungen entspricht. Ich will mich darauf beschränken, Euch daran zu erinnern, dass dabei die Lektüre eine ebenso wichtige Rolle spielt wie das Bemühen, die der Erholung gewidmete Zeit sinnvoll zu nützen.

 

10. In den Zentren des Opus Dei und in den apostolischen Initiativen der Gläubigen der Prälatur achtet man darauf, dass die jungen Menschen es sich zur Gewohnheit machen, großzügig an die anderen zu denken, um ihnen mit Freude zu dienen. Ermutigen wir sie positiv dazu, eine Vorstellung vom Leben zu entwickeln, die sie nicht innerhalb der engen Grenzen des Kleinlichen, der Bequemlichkeit oder des Egoismus festhält. Denken wir daran, wie der heilige Josefmaria stets alle großen Ideale der jungen Menschen gefördert und wie er ihnen geholfen hat, sie auf die übernatürliche Ebene zu erheben.

Werden diese edlen Wünsche in einer Haltung der Großzügigkeit und des Opfergeistes gepflegt, dann leuchten Bedeutung und übernatürlicher Wert dieser Anstrengungen leichter ein, und es ist einfacher, diesen jungen Menschen zu helfen, im inneren Leben voranzukommen und zu tauglichen Werkzeugen in den Händen Christi zu werden, um der Kirche und der Gesellschaft zu dienen.

Wie Johannes Paul II. einmal sagte, sind viele junge Menschen »anspruchsvoll im Hinblick auf den Sinn und die Form ihres Lebens. Sie wollen aus ihrer religiösen und moralischen Verworrenheit befreit werden. Helft ihnen dabei! Denn die junge Generation ist für religiöse Werte offen und ansprechbar. Sie hat ein – wenn auch mitunter unbewusstes – Gespür dafür, dass religiöser und moralischer Relativismus nicht glücklich macht, und dass Freiheit ohne Wahrheit eine trügerische Illusion ist«26. Jemand, der sich mit einem beschränkten Horizont zufrieden gibt, wird nur schwerlich eine wahre menschliche und christliche Bildung erlangen. Lassen wir nicht darin nach, die jungen Menschen zu ermutigen, sich den Problemen dieser Welt zu stellen.

 

Der menschliche Umgangston der Priester

 

11. Auch für die Priester erweist sich wegen der ureigenen Natur des priesterlichen Dienstes die Übung der menschlichen Tugenden als unverzichtbar. Die Priester entfalten ihre Arbeit inmitten der Welt, in unmittelbarem Kontakt zu jeder Art von Menschen. Und diese sind gewöhnlich - wie es Don Álvaro auf den Punkt brachte - »unerbittliche Richter des Priesters, und sie achten vor allem darauf, wie er sich als Mensch verhält«27.

 

Ein liebenswürdiger und kultivierter Priester, der bereit ist, seine Zeit den anderen zu widmen, versteht es, in rechter Weise aufzutreten und den anderen den christlichen Kampf angenehm zu machen. Kein Umstand brachte den heiligen Josefmaria von der erhabenen Vorstellung ab, die er vom Priester hatte. Der Priester hat einerseits allen alles zu werden, um alle zu erreichen (vgl. 1 Kor 9,19), darf aber andererseits nicht vergessen, dass er Jesus Christus unter den Menschen vertritt. Er muss sich deshalb - im Rahmen seiner persönlichen Begrenztheiten - darum bemühen, dass die anderen Gläubigen in seinem persönlichen Verhalten das Antlitz des Herrn entdecken können. Nach wie vor sind die Ratschläge aktuell, die unser Gründer an die Kleriker richtete, indem er eindringlich darauf bestand, sie sollten sich so kleiden, dass die Leute sie als Diener Christi erkennen können, als Verwalter der Geheimnisse Gottes (vgl. 1 Kor 4,1).

 

26 Sel. Johannes Paul II., Ansprache an eine Gruppe von Bischöfen bei einem ad limina-Besuch, 18.11.1999.

27 Álvaro del Portillo, Escritos sobre el sacerdocio, Madrid 19906, S. 24.

 

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Priestersein umfasst die ganze Existenz. Und eben weil die reale und ständige Verfügbarkeit des Priesters zu Tage treten soll, muss er leicht erkennbar sein, und das geistliche Gewand - die Soutane oder der Clergyman - kennzeichnet ihn eindeutig. In der gegenwärtigen Gesellschaft - die stark vom Eindruck der Bilder lebt und gleichzeitig oft von Gott weit entfernt ist - bleibt die Priesterkleidung nicht unbemerkt. Daher tragen die Priester der Prälatur, die in einer Kirche ihren Dienst versehen, im Gotteshaus gewöhnlich die Soutane, und ebenso in unseren Zentren. »Über die Länder, in denen es andere Gepflogenheiten gibt«, bemerkte unser Vater, »sage ich nichts. Wir werden immer das tun, was die Kirche vorschreibt. Gleichwohl werden wir zu Hause die Soutane

tragen. Diejenigen, die von Freiheit reden, müssen wenigstens unsere Freiheit respektieren, uns zu Hause zu kleiden, wie wir wollen.«28

 

GEISTLICHE BILDUNG

 

12. Dieser Facette muss »im Leben eines jeden ein privilegierter Stellenwert zukommen. Denn jeder ist berufen, ständig zu wachsen in der Intimität mit Jesus Christus, im Einvernehmen mit dem Willen des Vaters, in der Hingabe an die Brüder in der Liebe und der Gerechtigkeit«29.

Papst Benedikt XVI. hat daran erinnert, dass »in der ältesten Tradition der Kirche der Weg der christlichen Einführung, auch wenn er die systematische Einsicht in die Glaubensinhalte nicht vernachlässigte, doch immer den Erfahrungscharakter [hatte], in dem die lebendige und überzeugende Begegnung mit Christus  ausschlag­gebend war, die durch authentische Zeugen vermittelt wurde.«30 Das Leben in Einheit mit Christus, das Streben nach Heiligkeit, nährt sich aus geistlichen Hilfsmitteln: Kenntnis der katholischen Glaubenslehre, liturgisches und sakramentales Leben, geistliche Begleitung.

 

Mit Christus eins werden

 

13. Dank des Wirkens des Heiligen Geistes gibt es unzählige Weisen, innerhalb der Kirche Jesus Christus nachzufolgen. So hatte unser Vater schon festgehalten: »Ihr müsst so verschieden sein, wie die Heiligen im Himmel verschieden sind, denn jeder von ihnen hat seine besondere persönliche Note. Darüber hinaus aber müsst ihr euch gleichen wie die Heiligen, die keine Heiligen wären, wäre nicht jeder von ihnen zu einem anderen Christus geworden.«31

Abgesehen von den in der Kirche üblichen Frömmigkeitsübungen, die das Opus Dei seinen Gläubigen und den Personen empfiehlt, die sich seiner apostolischen Arbeit nähern, vermittelt es ihnen eine Haltung dem Leben gegenüber, die auf der Gotteskindschaft in Christus gründet. Die ›Achse‹ oder die ›Türangel‹, um die sich das gesamte Mühen um die eigene Heiligung und die der anderen dreht, ist die berufliche Arbeit, die in Verbun­den­heit mit Jesus Christus bestmöglich zu verrichten ist, vom Wunsch getragen, den anderen zu dienen. Diese geistliche Hilfe erleichtert die Einheit des Lebens, da die Gläubigen der Prälatur und die Mitglieder der Priestergesellschaft vom Heiligen Kreuz lernen, die konkreten Situationen ihres Alltags in Gelegenheiten und Mittel der Heiligkeit und des Apostolats zu verwandeln. Dabei handeln sie in beruflichen, familiären, sozialen, politischen und anderen Fragen, die die Kirche der persönlichen Entscheidung der Katholiken überlässt, immer in vollkommener persönlicher Freiheit.

 

28 Hl. Josefmaria, Brief vom 8.8.1956, Nr. 47.

29 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 30.12.1988, Nr. 60.

30 Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis, 22.2.2007, Nr. 64.

31 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 947.

 

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In diesem Sinne erklärte der heilige Josefmaria, dass ein Augenblick kommt, in »dem es unmöglich ist, zwischen Arbeit und Kontemplation eine Unterscheidung zu treffen. Man kann nicht sagen: So weit geht das Gebet, und so weit geht die Arbeit. Man betet immer weiter und betrachtet in der Gegenwart Gottes. Obwohl wir dem Anschein nach Menschen der Aktion sind, wollen wir dorthin gelangen, wohin die größten Mystiker gelangt sind: So hoch, so hoch ich flog, / dass keine Beute sich mir entzog – bis zum Herzen Gottes.«32 Wie könnte man nicht ein Echo dieser Lehre in den Worten entdecken, die Papst Johannes Paul II. an Gläubige des Opus Dei in Castelgandolfo richtete? »Vereint mit Gott inmitten der Welt leben, in jeder beliebigen Situation, und dabei

versuchen, sich selbst mit Hilfe der Gnade zu verbessern und Christus durch das Zeugnis des eigenen Lebens bekannt zu machen. Was gibt es Schöneres und Begeisternderes als dieses Ideal? Ihr, die ihr in diese freudige und zugleich schmerzvolle Menschheit eingefügt und mit ihr durchmischt seid, wollt diese Menschheit lieben, erleuchten, retten«.33

 

Die Mittel

 

14. Die Verbindung der Arbeit mit dem asketischen Kampf, der Kontemplation und der Aus­übung der apostolischen Sendung erfordert eine gründliche Vorbereitung. Daher bietet uns das Opus Dei eine breite Palette an persönlichen und kollektiven Bildungsmitteln. Eines der persönlichen Bildungsmittel hat besondere Bedeutung: das brüderliches Gespräch, das wir aufgrund seines zwischenmenschlichen und vertrauensvollen Charakters auch ›Aussprache‹ nennen.

Es handelt sich um ein Gespräch der geistlichen Leitung, das im Kontext des brüderlichen Dienstes steht und dazu verhelfen will, die tägliche Begegnung mit Christus inmitten der Welt frei und verantwortlich in ihrer ganzen Tiefe zu leben. Schon im Neuen Testament sehen wir, wie sich der Herr der Vermittlung von Menschen bedienen wollte, um den Seelen den Weg zum Ziel der Heiligkeit zu erschließen. Als er den heiligen Paulus auf dem Weg nach Damaskus beruft, fordert er ihn auf, zu einem anderen Menschen - Hananias - zu gehen, damit dieser ihm eröffne, was er über den neuen Weg wissen muss, den einzuschlagen er im Begriff ist (vgl. Apg 9,6-18, 22,10-15). Später wird er nach Jerusalem gehen, videre Petrum, um Petrus zu treffen und von ihm viele Aspekte der Lehre und des christlichen Lebens zu lernen (vgl. Gal 1,18). In der Tat ist die geistliche Leitung eine Tradition, deren Ursprung auf die Anfänge der Kirche zurückgeht.

Im Opus Dei soll diese geistliche Hilfe es den Menschen erleichtern, sich treu den Geist anzueignen, den unser Gründer von Gott empfangen und an uns weitergegeben hat und den die Kirche als einen Weg zur Heiligkeit bezeichnet hat34.

 

15. Der heilige Josefmaria erklärte stets, dass im Opus Dei die persönliche geistliche Leitung in actu erteilt wird, das heißt in dem Augenblick, in dem dieses Gespräch stattfindet. Dabei geht es darum, Rat und Hilfe zu erhalten, um im christlichen Leben voranzukommen. Unser Vater verglich die geistliche Leitung bisweilen mit der Aufgabe eines Bruders, der sich um das Wohl seiner jüngeren Geschwister kümmert, oder eines treuen Freundes bzw. einer Freundin, die sich vom Wunsch leiten lassen, andere einzuladen, bessere Christen zu werden35. Die Aussprache ist ein Zwiegespräch von Bruder zu Bruder, nicht eine Unterredung des Untergebenen mit seinem

Vorgesetzten. Diejenigen, die diese Aussprachen entgegennehmen, handeln mit außergewöhnlichem

 

32 Hl. Josefmaria, Notizen aus einem familiären Beisammensein, 30.10.1964.

33 Sel. Johannes Paul II., Predigt, 19.8.1979.

34 Vgl. sel. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Ut sit, 28.11.1982.

35 Vgl. hl. Josefmaria, La Abadesa de las Huelgas. Estudio teológico jurídico, Madrid 19743, S. 153. Jüngst hat die Kongregation für den Klerus das Dokument Der Priester, Beichtvater und geistlicher Leiter, Diener der göttlichen Barmherzigkeit veröffentlicht (9.3.2011). Dort wird ausdrücklich festgehalten (Nr. 65), dass auch »die gut ausgebildeten Laien (…) diesen Dienst, auf dem Weg der Heiligkeit Rat zu erteilen, verwirklichen«.

 

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Takt, der die Frucht ihrer ausschließlichen Sorge um das innere Leben und um das apostolische Wirken ihrer Geschwister ist. Niemals werden sie versuchen, auf andere als geistliche Angelegenheiten - etwa solche beruflichen, sozialen, kulturellen oder politischen Charakters - Einfluss zu nehmen. Im Werk wird die Trennung zwischen Ausübung der Jurisdiktionsgewalt und geistlicher Leitung praktisch unter anderem dadurch  sicher­gestellt, dass diejenigen, die Aussprachen der geistlichen Leitung entgegennehmen - die lokalen Leiter und einige andere, entsprechend vorbereitete Gläubige sowie die Priester bei der Feier des Bußsakraments - keinerlei Lei­tungsgewalt über die betreffenden Personen besitzen. Die örtliche Leitung bezieht sich, soweit sie juridische Befugnisse mit sich bringt, nicht auf Personen, sondern allein auf die Organisation der Zentren und der apostolischen Aktivitäten. Die Aufgabe der lokalen Leiter im Hinblick auf ihre Geschwister besteht darin, ihnen brüderlichen Rat zu erteilen. Daher fallen die Aufgaben der Jurisdiktion und der geistlichen Hilfe nicht in ein und derselben Person zusammen. In der Prälatur ist Grundlage der Leitungsgewalt über Personen einzig und allein die Jurisdiktion, die dem Prälaten und seinen Vikaren zukommt.

Was hat also das Opus Dei anzubieten? Im Wesentlichen geistliche Leitung für seine Gläubigen und andere Personen, die darum bitten. Da wir als Gläubige der Prälatur danach streben, uns persönlich zu heiligen und die Sendung des Opus Dei in der Kirche zu verwirklichen, haben wir normalerweise nichts dagegen, mit denjenigen zu sprechen, die von den Leitern benannt werden - auch wenn es sich um jemand Jüngeren handelt –, wobei wir stets in voller Freiheit und im Glauben an die Gnade Gottes handeln, die sich menschlicher Werkzeuge bedient. Das brüderliche Gespräch ist keine Offenlegung des Gewissens. Wenn man uns im Rahmen dieser geistlichen Leitung nach etwas fragt - und es kann manchmal gut oder sogar notwendig sein, dass man uns fragt -, wird dies mit großem Takt geschehen, denn niemand ist dazu verpflichtet, in der Aussprache etwas zu sagen, was Gegenstand der Beichte ist.

Alles, was ich hier schreibe, wird Euch, meine Töchter und Söhne, selbstverständlich erscheinen. Gleichwohl wollte ich es vor dem Hintergrund einer Gesellschaft in Erinnerung rufen, die sich heute, was den Respekt der Intimsphäre der Menschen betrifft, besonders sensibel zeigt, auch wenn auf der anderen Seite in bestimmten Kreisen ein großer Mangel an Scham und an Achtung vor dem Privatleben anderer herrscht. Uns allen hat man schon bei den ersten Kontakten mit dem Werk erklärt, dass wir nicht auf die Idee kommen sollten - und das tun wir auch nicht -, die Person, die unsere Aussprache entgegennimmt, ›meinen geistlichen Leiter‹ zu nennen. Der Grund dafür liegt schlicht und einfach darin – ich sage es nochmals –, dass es im Werk einen solchen Perso­na­lismus nicht gibt und auch nie gegeben hat. Wer eine Aussprache entgegennimmt, vermittelt den Geist des Opus Dei ohne Zusätze; wer den Auftrag hat, diese Hilfe anzubieten, tritt in den Hintergrund, um die Seelen – im Rahmen der Merkmale unseres Weges – vor den Herrn zu stellen.

Und dieser Weg des Werkes ist, wie unser Vater sagte, »sehr breit. Man kann auf ihm rechts oder links gehen; auf dem Pferd reiten oder mit dem Fahrrad fahren; auf den Knien rutschen oder auf allen Vieren krabbeln wie in eurer Kinderzeit; man kann auch den Straßengraben entlang gehen, immer vorausgesetzt, dass man vom Weg nicht abkommt.«36

 

Das Sakrament der Versöhnung

 

16. Zusätzlich zum brüderlichen Gespräch suchen wir - normalerweise wöchentlich - einen Priester auf, um die mit der sakramentalen Beichte verbundene geistliche Hilfe zu erhalten. Es ist naheliegend, dass uns die Beichtväter helfen, die für die einzelnen Zentren bestimmt werden. Sie

 

36 Hl. Josefmaria, Mitschrift einer Betrachtung, 31.12.1970.

 

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sind geweiht worden, um an erster Stelle ihren Schwestern und Brüdern in voller Verfügbarkeit zu dienen, und sie sind - weil sie denselben Geist kennen und leben - dafür gerüstet, uns zu orientieren, niemals um zu befehlen. Ähnlich verhält sich, wer seinen Hausarzt – falls er einen hat – aufsucht, statt zu einem unbekannten Arzt zu gehen.

Zugeich genießen die Gläubigen der Prälatur – das hat der heilige Josefmaria stets klar betont – wie alle Katholiken volle Freiheit, bei jedem beliebigen Priester, der Beichtbefugnis hat, zu beichten oder mit ihm zu sprechen. Ihr werdet überrascht sein, dass ich euch an diese so klare Wahrheit erinnere. Ich möchte sie eigens erwähnen, weil sie vielleicht manchen Personen weniger bekannt ist, die vom Opus Dei und vom Geist der Freiheit nichts wissen, der den Jüngern Jesu Christi eigen ist. Außerdem hat unser Vater verfügt, dass es gewöhnlich verschiedene Personen sind, die unsere Aussprache entgegennehmen und unsere Beichte hören.

 

Eigeninitiative und Fügsamkeit

 

17. Die geistliche Leitung erfordert bei den Menschen, die sie empfangen, den Wunsch, in der Nachfolge Christi voranzukommen. Sie sind in erster Linie selbst daran interessiert, mit der angemessenen Häufigkeit diesen Impuls zu suchen, indem sie ehrlich ihr Herz öffnen, so dass man ihnen Ziele vorschlagen und mögliche Abwege aufzeigen, sie in schwierigen Momenten ermutigen und ihnen Trost und Verständnis zusprechen kann. Deshalb handeln sie mit Eigeninitiative und Verantwortlichkeit. »Der Rat eines anderen Christen und besonders – was die Fragen der Moral und des Glaubens angeht – der Rat eines Priesters ist sicherlich eine wesentliche Hilfe, um zu erkennen, was Gott in einer bestimmten Situation von uns will. Aber ein Ratschlag schaltet niemals die persönliche Verantwortung aus; die Entscheidung liegt letztlich bei jedem Einzelnen von uns, und wir selbst haben sie persönlich vor Gott zu verantworten.«37

In der geistlichen Leitung müssen wir, um dem Wirken des Heiligen Geistes zu entsprechen, um geistlich zu wachsen und mit Christus eins zu werden, die Tugenden der Aufrichtigkeit und der Fügsamkeit pflegen, die die Haltung der gläubigen Seele gegenüber dem Heiligen Geist kennzeichnen. Das war die Empfehlung, die der heilige Josefmaria allen Gläubigen gab, ob sie nun dem Werk angehören oder nicht: »Ihr kennt eure Pflichten als Christen gut genug, um den Weg zur Heiligkeit ruhig und beständig gehen zu können; ebenso seid ihr vor den meisten Schwierigkeiten schon auf der Hut, denn sie werden bereits am Anfang des Weges erkennbar. Nun möchte ich euch ans Herz legen, dass ihr die Hilfe und Anleitung durch einen Seelenführer sucht und ihm alles an­vertraut: den Wunsch nach Heiligkeit, die alltäglichen Fragen eures inneren Lebens, die Siege und die Niederlagen.

Bei der geistlichen Leitung sollt ihr immer sehr aufrichtig sein: Sagt alles, öffnet die Seele ganz, unumwunden und ohne Angst. Sonst wird der anfangs ebene und gerade Weg immer verschlungener, und was erst nur eine Kleinigkeit war, wird schließlich zu einem erstickenden Brocken.«38

Und im Einklang mit den Lehren der Kirchenväter und geistlichen Schriftsteller sowie gestützt auf die Erfahrung vieler Jahre pastoraler Tätigkeit, sagte er mit Nachdruck: »Wenn der stumme Teufel sich in eine Seele einschleicht, dann verdirbt er alles. Wirft man ihn hingegen sofort hinaus, dann ist alles gewonnen; wir sind glücklich, und unser Leben verläuft in geordneten Bahnen. Seien wird immer geradezu wild aufrichtig, freilich dabei auch klug und taktvoll.«39

 

37 Ders., Gespräche, Nr. 93.

38 Ders., Freunde Gottes, Nr. 15.

39 Ebd., Nr. 188.

 

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Der Herr gießt seine Gnade in reichem Maß über die Demut derjenigen aus, die mit übernatürlichem Blick die Ratschläge der geistlichen Leitung empfangen und in dieser Hilfe die Stimme des Heiligen Geistes sehen. Nur wahre Fügsamkeit von Herz und Verstand ermöglichen den Fortschritt auf dem Weg der Heiligkeit. Denn der Paraklet will mit seinen Eingebungen und den Ratschlägen unserer Begleiter »unseren Gedanken, Werken und Wünschen einen übernatürlichen Ton verleihen. Er treibt uns dazu an, die Lehre Christi zu bejahen und uns zutiefst anzueignen, Er erleuchtet uns, damit wir uns unserer persönlichen Berufung bewusst werden, und stärkt uns, damit wir tun, was Gott von uns erwartet. Wenn wir dem Heiligen Geist gegenüber fügsam sind, wird das Bild Christi in uns immer deutlicher Gestalt annehmen, und dann werden wir Gott dem Vater jeden Tag näher kommen. Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, die sind Söhne Gottes (Röm 8,14).«40

 

Demut und Klugheit beim Erteilen der geistlichen Leitung

 

18. Ich möchte nun auf die Eigenschaften dessen eingehen, der anderen durch die geistliche Leitung beisteht. In erster Linie muss er die anderen lieben, so wie sie sind, und ausschließlich ihr Wohl suchen. Dann wird seine Haltung immer positiv, optimistisch und ermutigend sein. Außerdem muss er sich selbst um die Tugend der Demut bemühen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass er nur Werkzeug ist (vgl. Apg 9,15), dessen sich der Herr für die Heiligung der Seelen bedienen will.

Andererseits muss er sich sorgfältig und auf die bestmögliche Weise darauf vorbereiten, den Dienst der geistlichen Leitung auszuüben. Er hat die Grundprinzipien des geistlichen Lebens, das die Seelen gewöhnlich durchlaufen, zu kennen und er muss auf kluge Weise zweifeln - das heißt, er darf sich nicht allein auf sein eigenes Urteil verlassen -, wenn besondere Situationen auftreten. In solchen Fällen wird er nicht nur mehr beten, sondern darüber hinaus vom Heiligen Geist mehr Licht erbitten, um die Angelegenheit zu studieren und ihr auf den Grund zu gehen. Wenn es notwendig ist, können, im Einklang mit den Grundsätzen der Moral, erfahrenere Personen um Rat gefragt werden. Man stellt dann die Anfrage als hypothetischen Fall dar und wandelt die Umstände so ab, dass - um die Verschwiegenheit streng [zu – hier ist dem diensthabenden Numerarier, der diese Lüge übersetzen musste, die Grammatik hinuntergerutscht] wahren - die Identität des Betreffenden in keiner Weise geoffenbart wird. Stets ist mit der gebotenen Klugheit vorzugehen. Im Werk haben wir schon immer gewusst und waren damit ausdrücklich einverstanden, dass die Person, mit der man das brüderliche Gespräch führt, den jeweiligen Leiter, wenn es angebracht scheint, um Rat fragen kann, um dem Betreffenden besser helfen zu können. Damit in solchen Situationen - die weder laufend noch häufig vorkommen werden - der Geist der Freiheit und des Vertrauens noch besser zum Ausdruck kommt, fragt die Person, die die Aus­sprache hört, den Betreffenden, ob er selbst bei einem Leiter Rat suchen möchte oder ob es ihm lieber ist, dass dies derjenige tut, der die Aussprache entgegennimmt. Diese Vorgehensweise vertieft noch mehr die Fein­fühligkeit und Klugheit, die von Anfang an gelebt wurden.

Außerdem haben alle die Freiheit, sich direkt an den Vater oder einen Leiter der Region bzw. der Delegation zu wenden, um über ihr inneres Leben zu sprechen. Damit ist die Garantie gegeben, dass wir, wen immer wir im Opus Dei aufsuchen, um geistliche Leitung zu erhalten, das bekommen werden, was wir brauchen und was wir wollen: den Geist, den uns der heilige Josefmaria vermittelt hat, ohne Zusätze oder Abwandlungen. Gleichzeitig wird die Pflicht zur Wahrung eines Geheimnisses nicht im Entferntesten verletzt, vielmehr wird es mit größter Sorgfalt und Strenge gehütet. Wäre jemand in diesem Punkt nicht beispielhaft, so würde ihm eine Grund­voraus­setzung fehlen, geistliche Leitung zu erteilen.

 

40 Ders., Christus begegnen, Nr. 135.

 

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Wer andere anleitet, bemüht sich in jedem Augenblick darum, die innere Freiheit dieser Seelen zu fördern, damit sie bereitwillig auf das antworten, was die Liebe Gottes von ihnen verlangt. Die geistliche Leitung wird daher so erteilt, dass die Gläubigen des Opus Dei nicht über einen Kamm geschoren werden, denn das wäre widersinnig und unnatürlich. Das Werk »will uns vollkommen frei und verschieden. Aber es will, dass wir verantwortliche und konsequent handelnde katholische Bürger sind. Bei keinem von uns dürfen Hirn und Herz auseinanderfallen und verschiedene Wege gehen; sie müssen zusammenwirken und stark sein, um in jedem Augenblick das zu tun, was klar als notwendig erkannt wird, ohne sich – aus Mangel an Persönlichkeit und Loyalität dem Gewissen ge­genüber – von flüchtigen Strömungen und Moden mitreißen zu lassen.«41 Natürlich müssen jene, die geistlich leiten, mit dem nötigen Starkmut sprechen, um die Gläubigen anzuspornen, auf den von Gott gewiesenen Wegen zu gehen. Sie müssen dies aber mit äußerster Behutsamkeit tun, denn sie sind weder Eigentümer der Seelen, noch sollen sie sich als solche fühlen, sondern sie sind ihre Diener: fortiter in re, suaviter in modo. In der Tat »ist es ein Gebot der Klugheit, dass man, wenn die Situation es erfordert, die Medizin sofort und vollständig anwendet, nachdem die Wunde freigelegt ist (…). Das gilt in erster Linie für uns selbst, und dann für alle, denen wir um der Gerechtigkeit oder der Liebe willen Hilfe schulden.«42

Bei diesem Auftrag darf die Überlegung, dass man sich selbst in diesem konkreten Punkt noch verbessern muss, keine Rolle spielen. »Kann etwa ein kranker Arzt nicht heilen? Kann er nicht die richtige Medizin verschreiben, selbst wenn seine eigene Krankheit chronisch ist? Natürlich kann er das, es genügt schon, dass er das nötige Wis­sen besitzt und es mit dem gleichen Einsatz nutzt, mit dem er seine eigene Krankheit bekämpft.«43

 

Die liturgische Bildung

 

19. Zur geistlichen Bildung gehört, in engem Zusammenhang mit der doktrinell-religiösen Bildung, die Liebe zur heiligen Liturgie der Kirche, in der sich – auf erhabene Weise in der Heiligen Messe – das Werk unserer Erlösung vollzieht44. »Die heilige Messe führt uns (…) zu den grundlegenden Geheimnissen des Glaubens, denn sie ist das Geschenk der Dreifaltigkeit an die Kirche. Daher leuchtet es ein, dass sie Mitte und Wurzel des geistlichen Lebens des Christen ist.«45

Die christliche Botschaft ist performativ. Das Evangelium – und die Liturgie, die es unserem Leben nahebringt – ist nämlich nicht nur die Mitteilung von Wissbarem, sondern sie schafft Tatsachen und verändert das Leben46. Niemand, der gesunden Menschenverstand und übernatürlichen Sinn besitzt, wird denken, die Liturgie sei ›Sache des Klerus‹; oder der Klerus ›feiere‹ die Liturgie, während das Volk ihr lediglich ›beiwohnt‹. Weit enfernt von einer derartigen Auffassung hat der heilige Josefmaria immer die Teilnahme aller gefördert, ange­fangen beim Verständnis für den inneren Zusammenhang zwischen Liturgie des Wortes und eucharistischer Liturgie bzw. der wesentlichen Dimension der Anbetung bei der liturgischen Feier bis zu konkreten Einzelheiten wie den Gebrauch des Messbuchs seitens der Gläubigen, das die Mitfeier erleichtert – zuerst im Herzen und dann mittels der vorgesehenen Worte und Gesten. Wie ich von anderen weiß, wollte er, um diese Lehre zu unterstreichen, schon in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass in der Messe laut auf die vom Priester gesprochenen

 

41 Hl. Josefmaria, Brief 6.5.1945, Nr. 35.

42 Ders., Freunde Gottes, Nr. 157.

43 Ebd., Nr. 161.

44 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Sacrosanctum Concilium, Nr. 2.

45 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 87.

46 Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 30.11.2007, Nr. 2.

 

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Worte geantwortet wird. Damals war dies keineswegs üblich, sollten doch noch dreißig Jahre bis zum II. Vatikanischen Konzil vergehen.

 

Die Liturgie des Wortes

 

20. Die ganze Heilsgeschichte und die Liturgie, die sie feiert und vergegenwärtigt, ist durch die Initiative Gottes geprägt, der uns zusammenruft und von jedem Einzelnen erwartet, dass er mit einer Liebe antwortet, die dann den ganzen Tag durchformt, um so das Opfer des Altares vierundzwanzig Stunden fortdauern zu lassen. Der Wortgottesdienst der Heiligen Messe ist wahrhaft ein Dialog, der eine feinfühlige Antwort fordert. Gott spricht zu seinem Volk, und dieses macht sich das göttliche Wort durch das Schweigen und den Gesang zu eigen. Es stimmt dieser Verkündigung zu, indem es seinen Glauben im Credo bekennt und sich voll Vertrauen mit seinen Bitten an den Herrn wendet47. Wir hören die Lesungen, »die Licht des Heiligen Geistes sind, der zu uns in menschlichen Worten spricht, damit unser Verstand erkenne und betrachte, unser Wille sich festige und unser Tun gelinge«48. Dass sie Wirklichkeit werden in unserem Leben, hängt von der göttlichen Gnade ab, aber auch von der Vorbereitung und inneren Anteilnahme dessen, der sie liest und betrachtet, der sie hört. »Durch die heiligen Schriften werden wir in der Tat zu tugendhaftem Handeln und zur reinen Beschauung geführt«49.

Hier stoßen wir auf einen ganz konkreten Punkt, um uns zu erforschen und zu bessern. Welche Frucht schöpfen wir jeden Tag aus den Lesungen der Heiligen Messe? Kosten wir die Augenblicke der Stille aus, die nach dem Evangelium vorgesehen sind, um die Worte des Herrn auf uns selbst anzuwenden? Ich habe daran erinnert, »dass viele von uns Zeugen dafür gewesen sind, wie der heilige Josefmaria tief in die Lesungen der Messe eingedrun­gen ist. Man hat es sogar am Ton seiner Stimme merken können. Sehr häufig wiederholte sich derselbe Vorgang: nach der Feier des heiligen Opfers notierte er die Worte, die ihn am tiefsten berührt hatten, um sie in sein per­sön­liches Gebet zu nehmen. So wurde seine Seele und wurde seine Predigt von Mal zu Mal reicher. Versuchen wir, diesen guten Lehrer nachzuahmen. Gott hat sich uns geoffenbart, damit wir ihn mehr und besser kennen und damit wir ihn mit Natürlichkeit, ohne Menschenfurcht bekannt machen.«50

 

Die eucharistische Liturgie

 

21. In diesem Teil der Heiligen Messe wendet sich der Priester nicht in erster Linie an die versammelten Gläubigen. Geistlich und innerlich orientieren sich alle, der Priester wie die Gläubigen, versus Deum per Iesum Christum, auf Gott hin durch Jesus Christus. Für die eucharistische Liturgie gilt offensichtlich: »Priester und Volk beten ja nicht zueinander, sondern zum einen Herrn hin. Deshalb schauen sie beim Gebet in dieselbe Richtung: (…) auf ein Apsisbild Christi, auf ein Kreuz oder einfach entweder nach Osten als kosmisches Symbol für den kommenden Herrn oder einfach gemeinsam nach oben, wie der Herr das beim hohepriesterlichen Gebet am Abend vor seinem Leiden getan hat.«51 Wie hilfreich ist für uns diese gemeinsame Anbetung – dem

Herrn entgegengehen, der da kommt, und die Augen auf das Kreuz des Altares richten!

 

47 Vgl. Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch, Nr. 55.

48 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 89.

49 Hl. Johannes von Damaskus, De fide orthodoxa, IV, 17 (PG 94, 1175).

50 Vivir la Santa Misa, Madrid 2010, S. 65 f.

51 Joseph Ratzinger-Benedikt XVI., Gesammelte Schriften, Band 11 (Theologie der Liturgie), S. 11.

 

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22. Zum Opfer des Altares gehören Gehorsam und Frömmigkeit, die eng miteinander verbunden sind. Sie bilden auch die Grundvoraussetzung für die Liturgie als Quelle und Gipfel des Lebens der Kirche und des einzelnen Christen. In erster Linie Gehorsam, denn »die Worte und Riten der Liturgie sind (…) treuer, durch die Jahrhunderte gereifter Ausdruck der Gesinnung Christi, und sie lehren uns, so gesinnt zu sein wie er (vgl. Phil 2,5). Indem wir unseren Geist diesen Worten angleichen, erheben wir unsere Herzen zum Herrn.«52 Darin liegt der tiefe Grund, warum wir gehorchen müssen, warum wir jedes Wort, jede Geste, jede Rubrik lieben müssen: sie vermitteln uns die Gabe Gottes, sie helfen uns, alter Christus, ipse Christus zu sein. Das II. Vatikanische Konzil hat daran erinnert, dass die volle Wirksamkeit der Liturgie auch davon abhängt, dass jeder Einzelne, Priester wie Laie, die Seele mit der Stimme in Einklang bringt53. Und Benedikt XVI. hat erklärt, dass bei den Zeremonien »die vox, die Worte, unserem Geist vorausgehen. Normalerweise ist das nicht so. Zuerst muss man denken, und dann verwandelt sich der Gedanke in Wort. Hier aber kommt zuerst das Wort. Die heilige Liturgie gibt uns die Worte. Wir müssen in diese Worte eintreten, zur Übereinstimmung gelangen mit dieser  Wirklich­keit, die uns vorausgeht (…). Das ist die erste Bedingung: wir selbst müssen die Struktur, die Worte der Liturgie, das Wort Gottes verinnerlichen. So ist unser Zelebrieren wirklich ein Zelebrieren ›mit‹ der Kirche. Unser Herz hat sich geweitet, und wir tun nicht etwas, sondern befinden uns ›mit‹ der Kirche im Zwiegespräch mit Gott.54

Im Leben des heiligen Josefmaria verbinden sich Frömmigkeit und Gehorsam auf bewundernswerte Weise und sind Beispiel einer großen Wirklichkeit: »Unsere anteilnehmende Liebe zum heiligen Opfer lässt sich kaum besser bezeugen als durch die sorgfältige Beobachtung der Liturgie – bis in die kleinsten Details –, die die Kirche in ihrer Weisheit vorgeschrieben hat.

Dazu soll uns neben der Liebe das Bedürfnis drängen, Christus ähnlich zu werden, nicht nur im Inneren, sondern auch äußerlich. Feierlichkeit und Harmonie – etwa beim Durchschreiten des weiten Altarraumes – sind Ausdruck eines gehorsamen Willens zur Heiligkeit, der sich dem Willen der Braut Christi, der Kirche, und somit Christus selbst unterwirft.«55

Es wäre schön, wenn diese knappen Überlegungen zur Struktur der Heiligen Messe uns allen helfen, das Inter­esse für die Liturgie zu fördern, die ja Nahrung und wesentlicher Bestandteil des geistlichen Lebens ist. Erinnern wir uns an die Worte, die unser Vater schon im fernen Jahr 1930 schrieb; dass nämlich alle im Werk »sich beson­ders darum bemühen müssen, sämtliche liturgischen Vorschriften und jede einzelne von ihnen mit allem Interesse zu beachten, auch jene, die ihnen von geringer oder gar keiner Bedeutung zu sein scheinen. Wer liebt, übersieht kein Detail. Ich habe es gesehen: diese Kleinigkeiten sind etwas sehr Großes – Liebe. Und dem Papst gehorchen, auch im Allerkleinsten, bedeutet, ihn lieben. Und den Heiligen Vater lieben, heißt Christus und seine Mutter lieben, unsere heiligste Mutter, Maria. Und nur das wollen wir. Denn wir lieben sie und wollen, dass

omnes, cum Petro, ad Iesum, per Mariam gelangen.«56

 

52 Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Instr. Redemptionis sacramentum, 25.3.2004, Nr. 5.

53 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Sacrosanctum Concilium, Nr. 11.

54 Benedikt XVI., Begegnung mit Priestern der Diözese Albano, 31.8.2006.

55 Im Feuer der Schmiede, Nr. 833.

56 Hl. Josefmaria, Apuntes íntimos, Nr. 110 (17.11.1930). Zit. bei Álvaro del Portillo, Brief, 15.10.1991.

 

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BILDUNG IN DER KATHOLISCHEN LEHRE

23. Wer Gott aufrichtig liebt, fühlt sich dazu angetrieben, ihn immer mehr und besser kennenzulernen. Er gibt sich nicht mit oberflächlichen Begegnungen zufrieden und ist bestrebt, alles, was sich auf ihn bezieht, immer tiefer zu erfassen. »Das Verlangen, dieses theologische Wissen zu erwerben – die zuverlässige und feste christliche Lehre –, wird an erster Stelle geweckt durch den Wunsch, Gott kennenzulernen und zu lieben. Es ist aber gleichzeitig auch Folge des Dranges der gläubigen Seele nach tieferem Verständnis dieser Welt, die das Werk des Schöpfers ist.«57 Deshalb ist die Bildung, die das Opus Dei seinen Gläubigen in doktrinell-religiöser Hinsicht angedeihen lässt, darauf gerichtet, dass wir uns die Lehre der Kirche aneignen und ihre Kenntnis vertiefen.

Von derselben Warte aus – mit dem Blick auf Gott und auf die Welt – hat der selige Johannes Paul II. darauf hingewiesen, wie aktuell die Bildung in der katholischen Lehre ist. »Eine theologische Schulung der Laien erweist sich heute nicht nur aufgrund der Dynamik ihrer Glaubensvertiefung, sondern auch aufgrund der Forderung, vor der Welt und ihren schweren und komplexen Problemen die ›Hoffnung, die in ihnen ist, zu bezeugen‹, als immer notwendiger. Eine systematische, dem Alter und den verschiedenen Lebenssituationen angepasste Katechese ist absolut erforderlich. Ebenso dringend ist ein ausgesprochen christlicher Einfluss auf die Kultur als Antwort auf die ewigen Fragen, die auch heute Menschen und Gesellschaften beunruhigen.«58

Seit den Anfängen des Opus Dei und schon vorher war der heilige Josefmaria besonders darauf bedacht, dass die Personen, die er geistlich betreute, ihre doktrinell-religiöse Bildung vertieften, »denn jeder muss sich nach seinen Möglichkeiten um ein ernsthaftes, wissenschaftliches Studium des Glaubens bemühen«59.

24. Der heilige Gregor der Große hat geschrieben: »Die Frömmigkeit ist völlig unnütz, wenn ihr die Unter­scheidung der Wissenschaft fehlt«60. Und: »Die Wissenschaft ist nichts ohne den Nutzen der Frömmigkeit«61. Genauso hat unser Gründer darauf bestanden, dass das Studium der Lehre begleitet sein muss von einem aufrichtigen geistlichen Leben, das auf dem vertrauten Umgang mit Jesus Christus im Gebet und in den Sakramenten beruht sowie auf der schlichten Verehrung der Muttergottes. »Die Wahrheit ist immer irgendwie etwas Heiliges: Gabe Gottes, göttliches Licht, das uns hinführt zu dem, der seinem Wesen nach das Licht ist. Und das geschieht besonders, wenn man die Wahrheit in der übernatürlichen Ordnung betrachtet. Man muss sie folglich mit Achtung und Liebe behandeln (…). Mehr noch, wir sind davon überzeugt, dass diese göttliche Wahrheit, die wir bringen, uns übersteigt; dass unsere Worte nicht genügen, um ihren ganzen Reichtum auszudrücken, und dass es sogar möglich ist, dass wir sie nicht voll verstehen und die Rolle dessen spielen, der eine Botschaft weitergibt, die er selbst nicht ganz begreift.«62

Die Anstrengung der Prälatur lohnt sich, allen ihren Gläubigen und vielen anderen Personen eine solide doktrinelle Unterweisung zuteil werden zu lassen; um so mehr in Zeiten wie den unseren, in denen diese Notwendigkeit sich als besonders dringlich erweist. Was der heilige Josefmaria vor vielen Jahren geschrieben hat, erweist sich als erfreuliche Realität: »Das ganze Werk ist wie eine große Katechese, die sich auf lebendige, einfache und direkte Weise im Herzen der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht.«63

 

57 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 10.

58 Sel. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 30.12.1988, Nr. 60.

59 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 10.

60 Hl. Gregor d. Gr., Moralia, I, 32, 45 (PL 75, 517).

61 Ebd.

62 Hl. Josefmaria, Brief 24.10.1965, Nr. 24-25.

63 Ders., Brief 11.3.1940, Nr. 47.

 

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Treue zum Lehramt und Freiheit in den offenen Fragen

 

25. Die doktrinelle Bildung umfasst alle Gebiete: von der Philosophie über die Theologie bis hin zum Kirchenrecht. Diese Ausbildung – den Numerariern und Numerarierinnen sowie vielen Assoziierten beiderlei Geschlechts wird sie nach den Studienprogrammen erteilt, nach denen an den päpstlichen Universitäten gelehrt wird – trägt dazu bei, dass es in allen Bereichen der Gesellschaft Personen gibt, die entschlossen sind, in Wort und Tat ein lebendiges Zeugnis für das Evangelium abzulegen: stets bereit – wie der heilige Petrus schreibt –, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt (1 Petr 3,15).

In Übereinstimmung mit den wiederholten Anweisungen des Lehramts hat für die Darlegung der verschiedenen philosophischen und theologischen Fächer die Lehre des Doctor communis der Kirche besonderes Gewicht. So wird der Empfehlung des II. Vatikanischen Konzils und mehrerer Päpste Folge geleistet, »mit dem heiligen Thomas als Lehrmeister die Heilsgeheimnisse in ihrer Gesamtheit tiefer zu durchdringen«64.

Der heilige Josefmaria hat sich an diese Linie gehalten und sie den Professoren und Professorinnen, die an den Studia generalia der Prälatur lehren, in Erinnerung gerufen. Zugleich hat er aus einer Haltung der Offenheit gegenüber dem Fortschritt der theologischen Wissenschaft erklärt, man dürfe aus dieser Empfehlung »nicht ableiten, dass wir uns darauf beschränken sollten, uns alle Lehren und nur die Lehren des heiligen Thomas anzueignen und sie zu wiederholen. Es handelt sich um etwas ganz Anderes: Wir sollen gewiss die Lehre des engelgleichen Lehrers pflegen, aber so wie er selbst sie pflegen würde, wenn er heute lebte. Deshalb wird man bisweilen zu Ende führen müssen, was er selbst nur beginnen konnte; und deshalb machen wir uns alle Erkenntnisse anderer Autoren zu eigen, die der Wahrheit entsprechen.«65

Mit Worten unseres Vaters habe ich euch soeben ein Wesensmerkmal des Geistes des Opus Dei in Erinnerung gerufen: »Korporativ haben wir keine andere Lehre als die des Lehramts des Heiligen Stuhles. Wir nehmen alles an, was dieses Lehramt annimmt, und lehnen alles ab, was es ablehnt. Alles, was es als Glaubenswahrheit vor­legt, glauben wir fest und eignen uns auch alles an, was zur katholischen Lehre gehört.«66 Und »innerhalb dieser weiten Lehre bildet sich jeder von uns sein eigenes Urteil«67. Die Statuten der Prälatur enthalten, der Weisung unseres Gründers entsprechend, das Verbot, dass das Opus Dei eine besondere philosophische oder theologische Schule gründet bzw. sich einer solchen anschließt68. Darin kommt nicht nur die Liebe zur Freiheit zum Aus­druck, sondern eine fundamentale ekklesiologische Tatsache: dass die Mitglieder der Prälatur gewöhnliche Gläubige bzw. Weltpriester sind, denen dieselbe Meinungsfreiheit zukommt wie den übrigen Katholiken.

 

BILDUNG FÜR DAS APOSTOLAT

 

26. Die solide Kenntnis der grundlegenden religiösen Wahrheiten und der mit der Ausübung der eigenen Arbeit enger zusammenhängenden ethischen und moralischen Fragen ist auch wichtig, um im beruflichen Umfeld, in dem der Einzelne sich bewegt, eine weit ausgreifende apostolische Arbeit zu entfalten. »Das Licht der Jünger Christi darf nicht in der Talsohle bleiben, sondern muss

 

64 II. Vatikanisches Konzil, Dekret Optatam totius, Nr. 16; vgl. Pius XII., Ansprache, 24.6.1939; Paul VI., Ansprache,

12.3.1964; sel. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, Nr. 43 ff.

65 Hl. Josefmaria, Brief 9.1.1951, Nr. 22.

66 Ders., Brief 14.2.1964, Nr. 1.

67 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, 30.4.1961.

68 Vgl. Codex Iuris particularis seu Statuta Prælaturæ Sanctæ Crucis et Operis Dei, Nr. 109.

 

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leuchten auf dem Gipfel des Berges, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt 5,16).«69

Ohne Zweifel gibt es eine Unzahl von Menschen mit einem großen Herzen, die fähig sind, sich in Gott zu verlieben, denen aber das Licht der Lehre fehlt, das ihrem Leben Orientierung und Sinn gibt. Die Christen haben die Pflicht und die Freude, ihnen dieses Licht zu bringen. Ein Abschnitt des Neuen Testaments macht das besonders deutlich. Dem Befehl des Heiligen Geistes folgend, hatte sich der Diakon Philippus auf den Weg nach Gaza gemacht. Dort fuhr ein Wagen mit einer bedeutenden Persönlichkeit, einem Minister der Königin von Äthiopien, der auf der Rückreise in seine Heimat war, nachdem er in Jerusalem Gott angebetet hatte. Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da sagte er: Verstehst du auch, was du liest? Jener antwortete: Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet? Und er bat den Philippus, einzusteigen und neben ihm Platz zu nehmen (Apg 8,30 f.).

Es ist Aufgabe der Katholiken, ruhig und beharrlich die Frohe Botschaft Jesu zu verkünden und die religiöse Unwissenheit durch die Verbreitung der geoffenbarten Lehre zu überwinden. »Das christliche Apostolat – und ich meine hier konkret das Apostolat eines gewöhnlichen Christen, das Apostolat eines Mannes oder einer Frau, die ohne Besonderheiten unter ihresgleichen leben – ist eine große Katechese, in der durch den persönlichen Umgang, durch eine echte und aufrichtige Freundschaft in den Mitmenschen der Hunger nach Gott geweckt und ihnen geholfen wird, einen ungeahnten Horizont zu entdecken: mit Natürlichkeit, Einfachheit, wie ich schon sagte, mit dem Beispiel gelebten Glaubens, mit einem liebenswürdigen Wort, aber erfüllt mit der Kraft der

göttlichen Wahrheit.«70

Wir müssen mit glühendem Eifer die Wahrheit Christi verbreiten, müssen bewirken, dass andere an dem Schatz, den wir empfangen haben, Anteil erhalten, so dass sie die Erfahrung machen, dass es »nichts Schöneres [gibt], als vom Evangelium, von Christus gefunden zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als ihn zu kennen und anderen die Freundschaft mit ihm zu schenken.«71

 

27. Im Dekret des II. Vatikanischen Konzils über das Laienapostolat heißt es: »Das Apostolat kann seine volle Wirksamkeit nur unter Voraussetzung einer vielfältigen und umfassenden Bildung erreichen. Eine solche verlangen nicht nur der stetige geistliche und geistige Fortschritt des Laien selbst, sondern auch die verschiedenen Sachbereiche, Personen und Aufgaben, denen sich sein Wirken anpassen muss (…). Außer der allen Christen gemeinsamen Bildung fordern nicht wenige Formen des Apostolates wegen der Verschiedenheit der Personen und Umstände auch eine spezifische und gesonderte Bildung.«72

In den letzten Jahren hat dieser Seeleneifer mehr Kraft erfordert, um einem Säkularismus entgegenzutreten, der sich immer mehr verbreitet und sich sogar in traditionell christlichen Ländern eingebürgert hat. Ziel der Neuevangeliserung ist es ja gerade, die Wurzeln dieser Nationen wieder mit christlichem Geist zu durchtränken73. Für die Arbeit der Prälatur bedeutet das, jeden Einzelnen so anzuleiten und zu ermuntern, dass er den in der Taufe empfangenen Evangelisierungsauftrag im Geist und mit den spezifischen Mitteln des Opus Dei durchführt – durch das »Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens«.

Johannes Paul II. hat nachdrücklich betont: Die Welt »bedarf glaubwürdiger Glaubensboten, in deren Leben in Gemeinschaft mit dem Kreuz und der Auferstehung Christi die Schönheit des

 

69 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 10.

70 Ebd., Nr. 149.

71 Benedikt XVI., Homilie in der Messe zur Amtseinführung, 24.4.2005.

72 II. Vatikanisches Konzil, Dekret Apostolicam actuositatem, Nr. 28.

73 Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 29.6.2009, Nr. 29; Ansprachen u.a. vom 19.10.2006, 11.6.2007, 12.3.2010, 24.9.2011.

 

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Evangeliums erstrahlt (…). Jeder Getaufte muss sich als Zeuge Christi die seinem Stand entsprechende Bildung aneignen, nicht nur um zu vermeiden, dass der Glaube in einem feindlichen weltlichen Umfeld aus Mangel an Pflege verdorrt, sondern auch um das Zeugnis der Evangelisierung zu stützen und anzuregen.«74

 

Persönliches Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens

 

28. Unser Herr ist auf diese Erde gekommen, damit alle Seelen das ewige Leben erlangen, und er will sich dabei auch auf seine Jünger stützen: ut eatis, damit ihr hingeht – so sagt er zu den Christen, wie er es zu den Aposteln gesagt hat – und Frucht bringt und eure Frucht bleibt (vgl. Joh 15,16). Deshalb müssen wir, meine Töchter und Söhne, seine Lehre überallhin tragen; uns interessieren alle Seelen, denn sie sind für den Herrn. Aber es ist logisch, dass wir bei jenen

beginnen, die Gott unmittelbar in unsere Nähe gestellt hat.

In der Prälatur Opus Dei hat für uns, wie schon gesagt, das vom heiligen Josefmaria so genannte »Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens« Priorität: persönlicher Umgang, bei dem ein Herz dem anderen die Erkenntnis und Liebe Christi weiterschenkt und ihm hilft, sich den sanften Regungen der Gnade zu öffnen.

Die Freundschaft setzt ein gemeinsames Fühlen und Streben voraus und bringt es zugleich hervor. »Hauptsächlich ereignet sich diese Mitteilung im Zusammenleben (…), deshalb ist zusammen zu leben ein Merkmal der Freundschaft«75. Dieses Miteinander-Umgehen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Freundschaft. Wir freuen uns über die Gelegenheiten, die sich bei unserem

Wirken in Beruf und Gesellschaft ergeben, um neue Freunde zu gewinnen, und wir haben den Wunsch, ihnen zu helfen und gleichzeitig von ihnen zu lernen. Freundschaft beruht wesentlich auf Gegenseitigkeit. Unser Vater ermunterte uns dazu, es wie Christus zu halten, der den Menschen auf den Wegen des Alltags entgegenkam. »Der Herr will sich unser bedienen – unseres Umgangs mit den Menschen, dieser unserer von ihm stammenden Fähigkeit, zu lieben und liebenswert zu sein –, um selbst weiter Freunde auf Erden zu gewinnen.«76

Um auf diese Art zu dienen, ist es besonders notwendig, sich jeweils den Fähigkeiten und der Mentalität der Einzelnen anzupassen, damit sie das Gehörte verstehen. Der heilige Josefmaria hat diese Anstrengung, sich verständlich zu machen, »Sprachengabe« genannt. Sie ist Frucht der Gnade, des Gebetes und der persönlichen Vorbereitung, damit die Lehre der Kirche von den Menschen in neuen Ausdrucksformen vernommen werden kann. »Man muss dasselbe  wiederholen, aber auf verschiedene Art. Es ist die Form, die immer neu und anders sein muss, nicht die Lehre.«77

Es geht darum, Jesus nachzuahmen, der die erhabensten Lehren durch Gleichnisse darlegte, durch Vergleiche, die alle verstehen konnten – jeder auf seinem Niveau. Entfachen wir den Wunsch, die christlichen Wahrheiten attraktiv darzustellen: Eure Worte seien immer freundlich, doch mit Salz gewürzt; denn ihr müsst jedem in der rechten Weise antworten können (Kol 4,6). Es handelt sich

nicht um Förmlichkeiten, und es geht nicht darum, unsere Bildung herauszustellen, sondern es sind Inhalte weiterzugeben, indem wir die Ehre Gottes und das Wohl der Seelen suchen.

 

29. Die profunde Kenntnis der Heiligen Schrift – des Alten wie des Neuen Testamentes –, die

das Ergebnis kontinuierlicher Lektüre und aufmerksamer Betrachtung ist, erweist sich in diesem

Zusammenhang als von grundlegender Bedeutung. Papst Benedikt XVI. hat daran erst unlängst in

seinem Apostolischen Schreiben Verbum Domini über das Wort Gottes in der Sendung der Kirche

 

74 Sel. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa, 28.6.2003, Nr. 49.

75 Hl. Thomas v. Aquin, Darlegung der Nikomachischen Ethik, IX, 14.

76 Hl. Josefmaria, Brief 9.1.1932, Nr. 75.

77 Ders., Brief 30.4.1946, Nr. 71.#


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erinnert. Der Papst erwähnt die großen Heiligen, denen der Herr besonderes Licht geschenkt hat, um in den geistlichen Sinn der Bibel einzudringen, und denkt bei einem dieser Lichtstrahlen »an den heiligen Josemaría Escrivá in seiner Verkündigung des universalen Rufs zur Heiligkeit«78.

Weiter schreibt der Papst: »Ein wichtiges Moment der pastoralen Initiativen der Kirche, in

denen man geschickt die Zentralität des Wortes Gottes wieder hervorheben kann, ist die Katechese, die in ihren verschiedenen Formen und Phasen das Gottesvolk stets begleiten muss.«79 Und er fährt fort: »Die Begegnung der Jünger von Emmaus mit Jesus, die der Evangelist Lukas beschreibt (vgl. Lk 24,13-35), ist gewissermaßen das Vorbild für eine Katechese, in deren Mittelpunkt die ›Darlegung der Schrift‹ steht, die nur Jesus zu geben in der Lage ist (vgl. Lk 24,27-28), indem er in sich selbst ihre Erfüllung aufzeigt. So keimt wieder die Hoffnung auf, die stärker ist als jede Niederlage und die jene Jünger zu überzeugten und glaubwürdigen Zeugen des Auferstandenen macht.«80 Erinnern Euch diese Worte nicht an den freudigen Ausruf unseres Vaters, der gepredigt hat: »Emmaus – das ist die ganze Welt, denn der Herr hat die Wege Gottes auf Erden geöffnet.«81

Erinnert Euch, wie er die Lehren dieses Abschnitts des Lukasevangeliums an uns weitergegeben hat. »Das ganze Leben Christi ist ein göttliches Vorbild, das wir nachahmen müssen; was aber der Evangelist in der Emmaus-Szene erzählt, betrifft uns ganz besonders.«82 Er zog dieses Ereignis des Evangeliums auch dazu heran, um vom Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens zu sprechen. Als ein wichtiges Merkmal kehrte er die Notwendigkeit hervor, die Initiative zu ergreifen, auf die Menschen zuzugehen, um ihnen unsere Freundschaft anzubieten und ihnen bei der Suche nach Gott zu helfen, all dies unter Achtung und Wahrung der Initimsphäre und der Freiheit aller.

Auf dem Weg nach Emmaus macht sich der Auferstandene auf die Suche nach zwei Jüngern, die nach Hause zurückkehren wollten, mutlos geworden aufgrund der schmerzlichen Ereignisse, die sie erlebt hatten: Leiden und Tod ihres Herrn. Dieses Vorgehen Jesu lehrt uns, dass die  Freundschaft dazu führt, an den Freuden und Leiden unserer Freunde Anteil zu nehmen, mit ihnen solidarisch zu sein und für sie Zeit zu haben. »Christus ist unterwegs mit zwei Menschen, die fast alle Hoffnung verloren haben und deren Leben sinnlos zu werden beginnt. Er versteht ihren Schmerz, dringt in ihr Herz ein und lässt sie an dem Leben teilhaben, das in ihm wohnt.«83 Genau so müssen wir die Sorgen, Hoffnungen und Schwierigkeiten derjenigen teilen, mit denen wir Umgang pflegen. Wir müssen einer mehr unter unseren Berufskollegen sein, ohne dass uns die geringste Schranke von ihnen trennt. Es handelt sich hier um eine besonders schöne Seite des Geistes des Werkes, das niemanden von seinem Platz entfernt und uns dazu einlädt, in der Welt zu leben, ohne verweltlicht zu sein.

So müssen wir uns in unserem Umfeld verhalten, ohne je aus dem Blick zu verlieren, dass Jesus Christus – wenn wir treu sind – in uns wirkt und sich unseres Beispiels und unseres Wortes bedienen will, um andere Personen zu erreichen, die durch ihre Freundschaft ihrerseits eine Bereicherung für uns bedeuten. Nichts ist natürlicher, als dass wahre Freunde Freud und Leid miteinander teilen, dass sie ihre Vorhaben besprechen und dass sie selbstverständlich vom größten Schatz reden, den ein Christ besitzt – vom Leben Christi. Wir müssen ihnen von Gott erzählen, vom Glück, das es bedeutet, ihn in unserer Seele im Stand der Gnade zu wissen, vom unermesslichen Wert, den nur er einer menschlichen Existenz verleihen kann.


78 Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Verbum Domini, 30.9.2010, Nr. 48.

79 Ebd., Nr. 74.

80 Ebd.

81 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 314.

82 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, April 1951.

83 Ders., Christus begegnen, Nr. 105.

 

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Wenn die Christen sich so verhalten, arbeiten sie wirksam an der Evangelisierungssendung der Kirche mit, tragen Christus in die Herzen und in die Seelen ihrer Bekannten und tun das Ihre, um Christus an die Spitze aller menschlichen Tätigkeiten zu stellen.


Apostolat der Familie und Apostolat mit der Jugend

 

30. Viele Tätigkeiten tragen dazu bei, die Ausbreitung des Reiches Gottes zu festigen. Einigen kommt freilich, den Bedürfnissen jeder Epoche und jedes Ortes entsprechend, objektiv größeres Gewicht zu. Die Familie, die Formung der Jugend und die Welt der Kultur stellen die hauptsächlichen Herausforderungen für die vom Heiligen Vater angestrebte Neuevangelisierung dar. Die Familie ist dringend darauf angewiesen, dass ihr ursprünglicher, von Gott in der Schöpfungsordnung gewollter Nährboden wiederhergestellt wird, den Gewohnheiten und staatliche Gesetze in vielen Ländern leider unbedingt verderben wollen. Es handelt sich um ein entscheidendes Anliegen, das wir Katholiken mit Menschen teilen, die zwar andere oder gar keine Glaubensüberzeugungen haben, sich aber der Tatsache bewusst sind, dass die Förderung der Familie – auf der Grundlage des unauflöslichen und auf das Leben offenen Bundes der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, den die Ehe darstellt – ein unersetzlicher Stützpfeiler für die rechte Ordnung der Gesellschaft ist und eine wichtige Grundlage für die Reifung und das Glück der Menschen bildet. Abgesehen von dem Beitrag, den wir in Zusammenarbeit mit anderen leisten können, ist es etwa möglich, persönlich dahin zu wirken, dass Ehegatten sich gegenseitig verzeihen und besser verstehen, dass ihr Leben Hingabe an den anderen ist und dass sie, wenn es sich um eine christliche Ehe handelt, an einem Mysterium Anteil haben: dem der Einheit Christi mit seiner Kirche. Diese Treue beider Ehegatten ist als Ausdruck wahrer und dauerhafter Liebe auch der Weg, der zum Himmel führt.

Die apostolische Arbeit mit der Jugend wird immer eine vitale Herausforderung für die Welt und für die Kirche sein, denn in diesen Jahren reifen diejenigen heran, die den Lauf der Gesellschaft

in rechter Weise prägen und ihn über Wege lenken werden, die der Schöpfer und Erlöser ihr vorgezeichnet hat. In diesem Zusammenhang ist das Apostolat der Unterhaltung und des rechten Gebrauchs der Freizeit von ganz besonderem Gewicht. Ich beschränke mich darauf, Euch die Bereiche in Erinnerung zu rufen, die ich Euch im Jahr 2002 genannt habe, denn es geht darum, sie mit christlichem Inhalt zu erfüllen: »die Sitten und Bräuche, die Gesetze, die Mode, die Kommunikationsmittel, die Ausdrucksformen der Kunst. Alle diese Aspekte gehören zum Kern der Neuevangelisierung der Gesellschaft, zu der der Heilige Vater die Christen unermüdlich aufruft«84.


Apostolat und Kultur

 

31. Die weite Welt des Denkens und der Kultur, der Natur- und Geisteswissenschaften sowie der Technik erscheint weiterhin als vorrangiges Feld, das mit dem Licht des Evangeliums erhellt werden muss: »Die Christen sind also aufgerufen, einen Glauben zu kultivieren, der ihnen erlaubt, sich kritisch mit der gegenwärtigen Kultur auseinanderzusetzen und ihren Verführungen zu widerstehen; die Bereiche von Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik wirksam zu beeinflussen; deutlich zu machen, dass die Gemeinschaft der Mitglieder der katholischen Kirche untereinander und mit den anderen Christen stärker ist als jedes ethnische Band; den Glauben voll Freude an die jungen


84 Brief, 28.11.2002, Nr. 11.


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Generationen weiterzugeben; eine christliche Kultur aufzubauen, die in der Lage ist, die vielschichtige Kultur, in der wir leben, zu evangelisieren.«85 Die Apostolate des Werkes sind ein »Meer ohne Ufer«. Wir möchten die Arme jedem Menschen gegenüber weit öffnen – wie Christus am Kreuz. Daher rührt unser Bemühen, jene zu erreichen, die von Gott weit entfernt sind. So hat es uns der heilige Josefmaria gelehrt. Oft sprach er davon, wie sehr er das Apostolat ad fidem liebte. Er hat uns ermuntert »zum besonderen Einsatz im Apostolat ad gentes, mit den Heiden (…). Vor allem – das werde ich stets wiederholen – mit einer aufrichtigen, loyalen, menschlich guten Freundschaft«86. Aus Anlass der vielfältigen Beziehungen, die sich im Rahmen der beruflichen Arbeit in einer globalisierten Welt ergeben, wird es einfach sein, mit Personen anderer Konfessionen oder Glaubensüberzeugungen sowie mit Menschen ohne Religion ins Gespräch zu kommen und sich dabei von dem Wunsch leiten zu lassen, in ihnen das Verlangen zu wecken, mehr über Gott zu erfahren. Wir werden selbst denjenigen helfen können, die der katholischen Kirche gegenüber eine negative Haltung einnehmen, wenn wir ihnen mit Sanftmut, Geduld, Verständnis und menschlicher Nähe begegnen.

»Vor allem aber ist mir wichtig«, so Benedikt XVI. in einer Ansprache an die Römische Kurie, »dass auch die Menschen, die sich als Agnostiker oder als Atheisten ansehen, uns als Gläubige angehen. Wenn wir von neuer Evangelisierung sprechen, erschrecken diese Menschen vielleicht. Sie wollen sich nicht als Objekt von Mission sehen und ihre Freiheit des Denkens und des Wollens nicht preisgeben. Aber die Frage nach Gott bleibt doch auch für sie gegenwärtig, auch wenn sie an die konkrete Weise seiner Zuwendung zu uns nicht glauben können.«87 Wenn an Initiativen dieser Art nur einige auf besondere Weise teilnehmen, fühlen wir uns doch verpflichtet, sie durch unser Gebet zu unterstützen. Denn jeder von uns, die wir Kinder Gottes in der heiligen Kirche sind, will nur dafür leben, den Namen des Herrn zu allen Völkern und Kulturen zu tragen, bis in die letzten Winkel der Erde (vgl. Apg 9,15).


BERUFLICHE BILDUNG

 

32. Da nach dem Geist des Opus Dei die Arbeit die Achse der persönlichen Heiligung bildet und den normalen Rahmen für das apostolische Wirken seiner Gläubigen abgibt, wird in der Prälatur natürlich großer Wert auf eine gute berufliche Ausbildung gelegt. »Studieren, die jeweilige Berufsausbildung, ist unter uns eine schwere Pflicht.«88 In jüngerer Zeit beschäftigte sich das Lehramt der Kirche mit dem Thema Arbeit als Lebensbereich, in dem die gläubigen Laien nach Heiligkeit streben sollen – und wir alle denken, wenn wir von dieser Lehre lesen, an die Verkündigung des heiligen Josefmaria seit 1928. Dabei empfiehlt das Lehramt mit Nachdruck die »Herausbildung einer Spiritualität der Arbeit, deren Sinn es ist, allen Menschen zu helfen, durch die Arbeit Gott, dem Schöpfer und Erlöser, näherzukommen, an seinem Heilsplan für Mensch und Welt mitzuwirken und in ihrem Leben die Freundschaft mit Christus zu vertiefen«89.


85 Sel. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa, 28.6.2003, Nr. 50.

86 Hl. Josefmaria, Notizen aus einem familiären Beisammensein, 15.4.1973.

87 Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Kurie, 21.12.2009.

88 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 334.

89 Sel. Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 14.9.1981, Nr. 24.


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Arbeit und Einheit des Lebens

 

33. In der Homilie Die Welt leidenschaftlich lieben verwies der heilige Josefmaria eindringlich auf die Bedeutung der Einheit des Lebens für den Christen, die Frömmigkeit, Arbeit und Apostolat miteinander in Einklang bringt. »Ich werde nicht müde, diese Lehre der Heiligen Schrift zu wiederholen: Die Welt ist nicht schlecht, denn sie ist aus den Händen Gottes hervorgegangen. Sie ist Gottes Werk, und Gott betrachtete sie und sah, dass sie gut war (vgl. Gen 1,7). Wir Menschen mit unseren Sünden und Treulosigkeiten sind es, die sie schlecht und hässlich machen. Zweifelt nicht daran, meine Kinder: Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes. Macht euch in dieser Stunde mit neuer Klarheit bewusst, dass Gott euch aufruft, ihm gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns. Seid davon überzeugt: Jede noch so alltägliche Situation birgt etwas Heiliges, etwas Göttliches in sich, und euch ist aufgegeben, das zu entdecken (…). Es gibt keinen anderen Weg. Entweder lernen wir, den Herrn in unserem alltäglichen Leben zu entdecken, oder wir werden ihn niemals finden. Es tut unserer Zeit not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen.«90

Die Prälatur bezweckt mit der von ihr erteilten Bildung, die notwendige übernatürliche Gesinnung zu wecken, damit jeder Einzelne sich darum bemüht, die Arbeit mit der größtmöglichen menschlichen Vollkommenheit und mit Diensteifer zu verrichten, indem er sie in ein Werkzeug der Heiligung und des Apostolates verwandelt. Dazu müssen wir uns anstrengen, unter unseren Kollegen das notwendige berufliche Prestige zu erwerben, das ein Resultat jahrelanger hingebungsvoller Bemühung ist. Jeder erhält seine jeweilige Berufsausbildung wie alle übrigen Bürger auch: an Universitäten, an Fachhochschulen, in Werkstätten usw., wo immer er seine Studien oder seine Lehre absolviert. Der Geist des Werkes leitet uns dazu an, diese Kenntnisse und Fertigkeiten zu bewahren und beständig zu verbessern. Wir wissen alle, dass wir völlig frei sind – sowohl im Moment der Wahl als auch bei der Ausübung des Berufes. Das Werk lehrt nur, wie man sich in diesen Tätigkeiten heiligen kann, ohne sich in die beruflichen Entscheidungen des Einzelnen  einzumischen.Es kommt nicht darauf an, welche Arbeit man verrichtet, vorausgesetzt sie ist als solche ehrbar. »Was ist wichiger? Professor an der Sorbonne zu sein oder die Hausarbeit zu verrichten? Wenn du heilig bist, weil du dich in dieser Arbeit heiligst, dann ist das das Wichtigste.«91 Und bei einer anderen Gelegenheit fügte unser Vater hinzu: »Wenn ich von den Putzfrauen spreche, die in der Universität von Navarra arbeiten, und sage, dass ich nicht weiß, ob ihre Arbeit so wichtig ist wie die des Rektorats oder wichtiger, dann mache ich kein Theater. Ich wiederhole nur, was ich immer gedacht habe. Die Arbeit einer dieser Frauen, die mit Freude kommt und alles aus Liebe tut, kann heroisch sein, ist keineswegs geringwertig und auf jeden Fall wirksamer als die eines großen Forschers, der nur daran denkt, seine Studienergebnisse zu publizieren. Nochmals: Was ist wertvoller? Es hängt von der Liebe und vom Opfer ab, mit dem die eigene Arbeit verrichtet wird –

 

90 Hl. Josefmaria, Homilie Die Welt leidenschaftlich lieben, 8.10.1967 (in Gespräche, Nr. 114).

91 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, 30.8.1961.

 

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von einem freudigen, fröhlichen, freiwilligen Opfer. Andernfalls ist es besser, sie bleiben zu

lassen.«92 Alle Katholiken haben die Pflicht, das Ihre dazu beizutragen, dass Christus wirklich in der Gesellschaft herrscht. Dieser heilige Eifer kommt auch darin zum Ausdruck, dass man das notwendige berufliche Prestige zu erwerben trachtet, das der Leuchter ist, von dem aus das Licht Christi erstrahlt (vgl. Mt 4,21).

Die Studenten ihrerseits müssen sich der Pflicht bewusst sein, gute Noten zu erhalten. Vergesst mir nicht den Gedanken, den der heilige Josefmaria im Weg festgehalten hat und der für Generationen von jungen Leuten auf der ganzen Welt Orientierung gewesen ist: »Ein Stunde studieren ist für einen modernen Apostel ein Stunde Gebet.«93


Lauterkeit der Absicht

 

34. Wenn wir um eine gute Berufsausbildung bemüht sind, müssen wir uns verantwortlicherweise auch bewusst sein, dass die Arbeit – welche sie auch sei – für uns immer ein Mittel darstellt, um zur Heiligkeit zu gelangen und uns dem Apostolat zu widmen. Es ist sehr wichtig, gerade in unserer Zeit diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu verlieren, denn in der heutigen, von starkem Konkurrenzdenken geprägten Gesellschaft kann es leicht geschehen, dass der Beruf an die erste Stelle des Interesses rückt und über die anderen Pflichten gegenüber Gott, der eigenen Familie und den Mitmenschen gestellt wird. Mit unserem Vater betone ich: »Arbeitet mit dem Blick auf Gott, ohne menschlichen Ruhm anzustreben. Manche sehen in der Arbeit ein Mittel, um zu Ehren zu kommen bzw. um Macht oder Reichtümer zu gewinnen, die ihren persönlichen Ehrgeiz befriedigen, oder um auf die eigene Leistungsfähigkeit stolz sein zu können.

Als Kinder Gottes in seinem Opus Dei betrachten wir unsere berufliche Arbeit niemals als etwas, das mit Egoismus, Eitelkeit oder Hochmut zu tun hat. Wir sehen in ihr nur eine Möglichkeit, allen Menschen aus Liebe zu Gott zu dienen.«94 Deshalb fügte er hinzu: »Ein guter Indikator für die Lauterkeit der Absicht, mit der ihr eure berufliche Arbeit verrichten müsst, ist gerade die Art und Weise, wie ihr die gesellschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen, die sich aus der Ausübung des Berufes ergeben, ausnützt, um diese Seelen Gott näherzubringen und sie gegebenenfalls, wenn entsprechende Umstände vorliegen, sogar mit dem Problem ihrer Berufung zu konfrontieren.«95

Im Rahmen der beruflichen Ausbildung müssen wir notwendigerweise danach trachten, jene Aspekte der katholischen Lehre gut zu kennen, die in engerem Zusammenhang mit unserer beruflichen Tätigkeit stehen oder denen im jeweiligen Land besondere Aktualität zukommt.  Manche sind vielleicht von Ort zu Ort verschieden, andere haben überall Gewicht; so etwa jene, die mit Ehe, Familie und Erziehung zusammenhängen, oder auch das ›Evangelium des Lebens‹“, die Bioethik, Gerechtigkeit und Liebe in den Arbeitsbeziehungen … Deshalb ist das Beispiel der Lauterkeit bei der Erfüllung der beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Pflichten ein glaubwürdiges Zeugnis, das wir alle geben müssen: »Als Folge eurer menschlichen und christlichen Lauterkeit«, so habe ich euch geschrieben, »werden außerdem in den Bereichen, in denen ihr euch bewegt, viele Initiativen entstehen, die direkt darauf gerichtet sind, in aufrechtem und brüderlichem Zusammenwirken mit anderen Männern und Frauen guten Willens konkrete soziale Probleme zu lösen. Ich erhebe jetzt mein Herz in Dankbarkeit zu unserem Herrn, denn im Umkreis der Prälatur


92 Ders., Notizen aus einem familiären Beisammensein, 10.4.1969.

93 Ders., Der Weg, Nr. 335.

94 Ders., Brief 15.10.1948, Nr. 18.

95 Ebd., Nr. 31.

 

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erblüht – dank der Hilfe unzähliger katholischer und nichtkatholischer Mitarbeiter – eine Fülle von Werken der Solidarität, die dazu beitragen, Gerechtigkeit und Frieden auf Erden  einzupflanzen und zehntausenden Menschen ›den heilsamen und friedbringenden Balsam der Liebe‹ (Christus begegnen, Nr. 183) zu bringen.«96

 

Apostolische Spontaneität

 

35. Meine Töchter und Söhne, ich habe Euch neuerlich vor Augen führen wollen: »Das einzige Bestreben, der einzige Wunsch des Opus Dei und jedes einzelnen seiner Kinder besteht darin, der Kirche zu dienen, wie sie will, dass man ihr dient, im Rahmen der spezifischen Berufung, die der Herr uns gegeben hat.«97 Bisweilen hat der heilige Josefmaria vom Opus Dei gesagt, es sei eine desorganisierte Organisation, weil die ihm eigene, von Gott gewollte Weise der Mitwirkung an der Sendung der Kirche darin besteht, den Menschen unter verschiedenen Aspekten Bildung anzubieten.

So lässt sich sagen, dass das Opus Dei alle seine Anstrengungen auf diese Aufgabe, auf diese Katechese konzentriert. Ausgestattet mit der Bildung, die Ihr empfangen und Euch angeeignet habt, bemüht Ihr Euch dann, jeder für sich, in persönlicher Freiheit und Verantwortung, den Lebenssaft des christlichen Geistes dem Blutkreislauf der Gesellschaft zuzuführen.

In seiner Antwort auf die Frage eines Journalisten nach diesem so charakteristischen Aspekt des Werkes hat unser Vater erklärt, »dass für uns die persönliche apostolische Spontaneität und die freie und verantwortliche, vom Wirken des Heiligen Geistes geleitete Initiative von grundlegender und erstrangiger Bedeutung sind. Das ist uns wichtiger als durchstrukturierte Organisation, taktische  Weisungen und Pläne von oben.«98

Bevor ich schließe, komme ich zum Grundlegenden zurück: Setzen wir uns Tag für Tag ein in unserer christliche Hingabe an Gott und an die anderen. Trachten wir danach, Frauen und Männer zu sein, die ganz treu zum Papst stehen und beharrlich für ihn und seine Anliegen beten. Leben wir in affektiver und effektiver Einheit mit den Bischöfen und mit allen katholischen Gläubigen. Seien wir voll Optimismus und dem Herrn dafür dankbar, dass wir an der Neuevangelisierung teilnehmen. Wenden wir uns an die Fürsprache der seligsten Jungfrau, Königin der Welt und Mutter der Kirche, damit sie uns vom Himmel die notwendigen Gnaden erlange.

Natürlich ist unser besonderer Fürsprecher bei dieser ganzen Bildungsarbeit der heilige Josefmaria, der dem Geist, den er von Gott am 2. Oktober 1928 empfangen hat, durch sein Leben und seine Lehre eine klare Form gegeben hat, damit wir, seine Töchter und Söhne und viele andere Menschen, über alle Wege der Erde ziehen können, um sie mit der Gnade des Heiligen Geistes in göttliche Wege zu verwandeln.

Voll Liebe segnet Euch

Euer Vater

+ Javier

Rom, 2. Oktober 2011

 

96 Brief, 1.6.1999.

97 Hl. Josefmaria, Brief 31.5.1943, Nr. 1.

98 Ders., Gespräche, Nr. 19.19/56