Miguel L.: Sie machten mich zu einem vierzehnjährigen Numerarier
(1. April 2005)
Im Jahr 1983 war ich vierzehn Jahre alt, und von klein auf studierte ich an einer Schule des Opus Dei.
Möglicherweise weil ich in einer reinen Knabenschule unterrichtet wurde, hatte ich nie mit gleichaltrigen Mädchen zu tun gehabt – außer natürlich mit meinen Cousinen. Und genau zu dem Zeitpunkt, als meine Freunde begannen auszugehen und Freundinnen zu haben – wie es in diesem Lebensabschnitt nur normal ist – begann ich ein Zentrum des Werkes zu besuchen. Einige meiner Klassenkameradem hatten schon einige Monate vor mir begonnen in diesen Club zu gehen. Nach außen war es ein “Bildungszentrum”. Dort lebten Numerarier, Studenten, einige davon waren meine eigenen Lehrer am Gymnasium, eine spannende Entdeckung für mich.
Ich nutze den Club an den Nachmittagen, denn dort konnte man sich zum Lernen besser konzentrieren. Hier gab es nicht die Versuchung, sich vor den Fernseher zu setzen, und es gab nichts, was einen vom Studium ablenkte. Im Studierraum herrschten Ordung und Ruhe. Außerdem waren die Studenten, die dort wohnten, auch nicht auf ihren Zimmern, sondern saßen mit uns, den vierzehn-, fünfzehnjährigen Jungen, im gleichen Studierraum, und sie waren immer bereit uns bei unseren Aufgaben zu helfen, wenn wir sie darum baten. Es gab unter ihnen einige Ingenieure, und die kannten sich in Mathematik gut aus...
Wo sonst findet man Universitätsstudenten, die bereit sind, einem mit Geduld und Liebenswürdigkeit Mathematik zu erklären, und das, ohne Geld dafür zu verlangen?
Wie iher schon wisst - ich wusste es damals allerdings nicht – widmeten uns diese Stundenten ihre Zeit, ihre Freundlichkeit, ihre Freundschaft jedenfalls nicht uneigennützig. Alle Aktivitäten des Zentrums hatten ein einziges, besonderes apostolisches Ziel, das in eine Aufgabe von höchster Priorität mündete: Schüler und Studenten zu finden, die die notwendigen Voraussetzungen erfüllen könnten, um als Numerarier die Aufnahme ins Werk zu erbitten (ich möchte jetzte allerdings nicht darüber sprechen, worin diese Voraussetzungen bestehen: soziale Stellung, gute Familie etc.)
Weil ich nicht wusste, wie diese Organisation – das Opus Dei – funktioniert, schöpfte ich auch keinen Verdacht, dass ich von dem ersten Moment an, als ich meinen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte, beobachtet und analysiert wurde, ob ich diesen Anforderungen würde entsprechen können. Tatsächlich kannten mich meine Professoren ja schon ein wenig, aber in der Schule herrscht zwischen Lehrern und Schülern eine natürliche Distanz.
Hier, im Zentrum, konnte diese Distanz verschwinden, und sie konnten mich bequem beobachten und anleiten. So gab es zweifellos vom ersten Augenblick an Leute, die ein Auge auf mich warfen und sich den Kopf darüber zerbrachen. wie sie mich mehr und mehr in das Geschehen des Zentrums hineinlocken, mein Vertrauen durch Freundschaft und persönlichen Umgang gewinnen könnten, und zweifellos beteten sie auch für mich, damit dieser „Umgang“ ein sehr gutes „Ergebnis“ bringen möge.
Ich muss denen, die das nicht kennen, erklären, wie dieser „Umgang“ funktioniert. Wenn man den Eindruck hat, dass jemand, der zum ersten Mal mit dem Werk Kontakt hat, Hoffnung auf eine „Berufung“ macht, wird ein Prozess wie beim Diamantenschleifen durchlaufen: Das „Werkstück“ muss gewaschen, geschliffen und von allfälligen Verunreinigungen befreit werden, bis es zuletzt das erwünschte Feuer eines Brillanten ausstrahlt.
Wie soll man sich diese Behandlung vorstellen?
Genau so: Wenn dich jemand im Werk „behandelt“, übernimmt er den Auftrag dein „Schatten“ zu werden, er bemüht sich um deine Freundschaft, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen, damit er sich in dein Leben einmischen kann, damit er dich einladen kann und es erreicht, dass du häufig im Club anwesend bist, dich an die beständige Behandlung durch die Bildungsmittel, die Gespräche mit dem Priester des Zentrums gewöhnst. Gut… Und dann geht es Schritt für Schritt vorwärts, und man wartet ab, wie du auf die einzelnen Vorschläge ansprichst und ob man schon den nächsten Schritt unternehmen kann.
So begannen sie mich auf interessante Unternehmungen mitzunehmen, Autofahrten, Ausflüge etc. Als sie mein Vertrauen gewonnen hatten, begannen sie mich auch zu religiösen Veranstaltungen einzuladen: Betrachtungen, Vorträge etc.
Ich erinnere mich, dass ein Freund aus meiner eigenen Klasse, der schon viel weiter in das Leben des Zentrums integriert war, mich immer anrief, um mich zur Betrachtung am Samstag einzuladen.
Es war klar, dass die Menschen im Club, die den meisten Umgang mit dir hatten, die dir Zeit widmeten und die deine Wertschätzung und dein Vertrauen gewonnen hatten, es dann auch erreichten, dass du auf ihre Einladung zu einer religiösen Veranstaltung gingst. Es wäre ein Zeichen von Egoismus gewesen nein zu sagen; es wäre so gewesen, als hätte man zum Ausdruck gebracht: „Ihr, euer Club, interessiert mich nur insoweit als es mir in den Kram passt und Spaß macht, und die Religion gehört eben nicht dazu.“ Natürlich, wenn ein Junge gar kein Interesse an den geistlichen Dingen hatte oder sogar negativ eingestellt war, wurde er auch nicht mehr eingeladen, er war auch nicht mehr willkommen, denn schließlich konnte er durch unpassende Äußerungen die proselytistische Arbeit des Zentrums konterkarieren.
Ich schloss Freundschaft mit dem Priester dieses Hauses, der auch Religionslehrer an meiner Schule war. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber es war eine Art Freundschaft, die einen gewissen Einfluss auf dich ausübt. Vielleicht, weil man sich angenommen fühlte, weil man merkte, dass dir hier jemand Zuneigung und Interesse entgegenbrachte.
Sogar der Direktor dieses Zentrums war einer meiner Lehrer. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich niemals „Freunde“ hatte, die mich jahrelang begleitet hätten. Und nun hatte ich Universitätsstudenten zu „Freunden“ und war mit einem Priester „befreundet“, der über 40 war – etwas völlig Neues in meinem Leben.
Natürlich hatten auch meine Eltern Freunde, und mit einigen von ihnen hatte ich vertrauteren Umgang als mit anderen. Aber die Freunde meiner Eltern hätten mich niemals angerufen, um mich zu einer Aktivität, einem Ausflug oder einem Fußballspiel einzuladen. Auf diese Weise waren meine älteren „Freunde“ aus dem Club doch etwas Eigenartiges für mich.
Es waren die Menschen, die mich als erste nicht wie ein Kind, sondern wie einen Erwachsenen behandelten. Sie planten ihre Unternehmungen, verließen sich auf mich, und ich hatte nicht den Eindruck, in einem Kindergarten zu sein. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit unter Männern, weg von daheim. So kam man sich erwachsen vor, unabhängiger. Es überraschte mich keineswegs, dass ein Großteil meiner Kameraden hier zu rauchen anfing, im Aufenthaltsraum, im Studierraum, völlig ungeniert. In der Schule war rauchen verboten; hier kümmerte das keinen. Ich denke, die Adoleszenz ist eben jene Zeit, in der man sich an den Erwachsenen orientiert und Lust hat, sie nachzuahmen und wie sie zu sein.
In diesem Zentrum für Numerarier wohnten viele der Professoren, die mich unterrichteten. Du hatteast immer das Gefühl, ihnen gegenüber eine zweideutige Stellung einzunehmen. In der Schule waren sie ausschließlich Lehrer und behandelten dich nicht so vertraulich wie in der Atmosphäre des Zentrums des Werks. Es ist sehr eigenartig, dieselben Personen tagsüber als Lehrer un der Schule zu haben und danach im Club völlig unbefangen mit ihnen zu tratschen und zu scherzen. Dieselben Personen, die dir die Jahresnote gaben und die dir die Hausübung für den nächsten Tag aufgegenen hatten oder die dir morgen eine knifflige Prüfungsfrage stellen sollten.
Nun, an einem Tag dieses Jahres – ich war noch nicht 15 – war ein Feiertag, und ich war mit meiner Familie außerhalb der Stadt, bei Verwandten. Ich weiß nach wie vor nicht, wie sie herausbekommen haben, wo ich war, denn ich bekam einen Anruf – Handys gab es damals noch nicht – in einem Haus in das uich noch niemals zu vor den Fuß gesetzt hatte. Am Telefon war einer aus dem Club, der meinte, ob ich einmal an diesem Nachmittag im Zentrum vobeischauen könne, er wolle etwas besprechen. Ich war über diesen Anruf sehr überrascht, aber ich verließ meine Familie un d fuhr auf eigene Faust mit dem Bus in die Stadt zurück.
Ich hatte schon einige Monate hinter mit, in denen ich die Betrachtungen und den Kreis besuchte und bei meinem Priester-Freund beichtete. Der Grad der Vertautheit war so groß, wie es sich jemand, der noch nie in einem solchen Zentrum war, nicht vorstellen kann. Zweifellos hatte es damit zu tun, dass ich mit einigen Menschen von dort über sehr persönliche Dinge sprach – men Leben, meine Probleme, mein Gewissen, meine Fehler oder Sünden, und schließlich beichtete ich ja auch hier, im Zimmer des Priesters, der auf seinem Sessel saß, während ich vor ihm kniete. Und einige der Leute dort waren mir sicherlich sehr sympathisch, und ich redete gern mit ihnen.
Ich meldete mich an diesem Nachmittag im Club. Sie empfingen mich in einem Zimmer, der so genannten „Direktion“, und dort saß ich ganz allein, dem Studenten gegenüber, mit dem ich mich am besten Verstand und auch in gewisser Hinsicht bewunderte.
Er begann über etwas zu reden, da mich vollkommen überraschte. Êr sprach von meiner Berufung zum Opus Dei. Er bagann damit, dass er mir die Perspektive entwickelte, ich hätte wohl nicht zufällig dieses Zentrum des Opus Dei kennengelernt, und ich hätte das Glück, dass meine Eltern katholisch seien und mich an eine Schule des Werks geschickt hätten. Seinen Worten zufolge hätte mir Gott mehr als anderen gegeben, und deshalb würde er von mir auch mehr verlangen als von gewöhnlichen Menschen: ein Leben größerer Hingabe; und er gab mir zu verastehen, dass für mich der Augenblick gekommen sei, mich hinzugeben, denn er schlage mit jetzt vor, ich könnte vom Werk sein. Er erklärte mir mehr oder weniger was ein Numerarier sei und wozu er sich verpflichtete. Er schlug mit vor, Numerarier zu werden! (Er verlor aber kein Wort über eine Berufung als Supernumerarier oder Assoziierter).
Das heißt, an diesem Nachmittag erfuhr ich nichts darüber, welche Arten von Mitgliedern es im Opus Dei gäbe. Offensichtlich ersuchte ich auch nicht darum mir es zu erklären, denn ich sah nicht, was mich an dieser Information im Augenblick persönlich betreffen sollte. Vermutlich hatte ich das Wort „Assoziierter“ noch nicht einmal gehört. Sicherlich wusste ich, dass die „Supernumerarier“ Mitglieder des Werks waren, die heirateten, denn der Direktor meiner Schule war verheiratet, und ich wusste, dass er Mitglied der Organisation war,
Und ich mit meinen vierzehn Jahren, der den Sport liebte, meine Freunde etc., wusste nicht, dass man zum Werk gehören muss, denn nie hatte mir jemand davon etwas gesagt. Es war kein Thema, das mich beschäftigte, und ich hatte kein besonderes Interesse an dieser Frage, und deshalb hatte ich da auch noch nicht nachgeforscht und niemanden danach gefragt.
Es war mir wohl aufgefallen, dass einige meiner Klassenkameraden, die auch in den Club gingen, einen höheren „Status“ als ich hatten – um es eben irgendwie zu benennen. Sie hatten nicht nur einen herzlicheren Umgang mit den Leitern, sie durften auch die Zone betreten, die für die reserviert war, die im Haus wohnten. Sie waren sogar manchmal eingeladen, zusammen mit den Studenten zu Abend zu essen. Ich durfte, wie die meisten anderen, die dorthin kamen, die Zone der Heimbewohner nicht betreten, und ich sah das auch vollkommen ein: Die Heimbewohner hatten ein Recht darauf, in einem für sie reservierten Bereich ihres Hauses unter sich zu sein, wo niemand von draußen hinkam. Es reichte schon, dass wir einen Teil benutzen durften, um studieren zu kommen.
Obwohl ich eine gewisse natürliche Neugier hatte, wusste ich nicht, was diese meine Freunde gemacht hatten, dass sie dieses Privileg bekommen hatten; aber ich scheute mich, so wie das dort bei manchen Dingen war war, sie danach zu fragen. Es wäre ungefähr so gewesen, wie wenn ich einen Freund gefragt hätte: Warum verstehst du dich mit Norbert besser als mit mir? Ich dachte, dass es einfach eine Frage der Zeit wäre, und dass es sich von selbst klären würde, wenn ich längere Zeit in den Club ginge. Diese Freunde waren einfach schon länger dabei, deshalb kannten sie auch die vom Haus schon besser, und deshalb wurden sie auch schon einmal, wie es nur normal ist, zum Essen eingeladen, und das erklärte ihren neuen „Status“.
Aber kommen wir zurück auf das Gespräch im Zimmer der Direktion, und stellt euch die Überraschung vor, die mich ergriffen hatte. Welche Angst ich hatte! Man erwartete von mir eine sehr ernste Entscheidung, die eines Mannes, der sein Leben in die Hand nimmt, der es hingibt und dann zu seiner Entscheidung steht. Was mich am meisten beschäftigte, war die Frage, ob ich mich, wenn ich jetzt ja sagte, tatsächlich für den lebenslänglichen Zölibat verpflichtet hätte – ich würde niemals eine Freundin, eine Frau, Kinder haben… Es war die einzige wirklich entscheidende Frage für den Rest meines Lebens.
Ich denke, dass jemand, der das Opus Dei nicht kennt und diese Erfahrung nie gemacht hat, sich die Intensität eines solchen Augenblicks nicht vorstellen kann. Es scheint, dass ein solches Gespräch nicht ein ganzes Leben verändern könne, vor allem nicht bei einem jungen Menschen. Man könnte meinen, ich hätte das alles in diesem Augenblick nicht so ernst nehmen müsen. Aber alle Ehemaligen, die meinen Beitrag lesen, werden mir bestätigen: Ihr wisst alle sehr gut, dass man sich vor eine Lebensentscheidung gestellt fühlt, nicht weniger entscheidend als das „Ja“ vor dem Traualtar.
Ihr dürft mich nicht fragen, welche psychologischen Tricks mich so reagieren ließen. Wer das mitgemacht hat, diese Trance erlebt hat, weiß, dass der Tag und die Stunde, in der wir gepfiffen haben, unser Leben entscheidend geprägt haben, und dass wir wussten, was wir da taten. Es war ganz gewiss ein Versprechen völliger Hingade an Gott, und noch dazu vor Zeugen, mit Brief und Siegel,
Und ich nehme an, dass Leute, die etwas von Psychologie verstehen, mir erklären könnten, welche Rolle die Suggestion hierbei gespielt haben könnte.
Ich frage mich: Wieviel Zeit sollte man sich nehmen, um eine Lebensentscheidung zu treffen? Wieviel Zeit nimmt sicvh ein erwachsener Mensch um zu entscheiden, wann und wen er heiratet?
Ich kann diese Fargen nicht genau beantworten. Wer würde freiwillig eine so schwer wiegende Entscheidung ohne Not innerhalb so weniger Stunden treffen, noch dazu unter dem Druck anderer? Wäre es nicht absoluter Leichtsinn so zu handeln?
N ach über einer Stunde ging der Student aus dem Zimmer, und ein anderer nahm seine Stelle ein. Ich erinnere mich nicht, ob es insgesamt vier oder fünf Personen waren, die sich abwechsleten und den ganzen Nachmittag ununterbrochen auf mich einsprachen, außer ein oder zwei Unterbrechungen von annähernd einer Viertelstunde, in denen man mich in der Kapelle allein ließ. Es war eine Marathonmsitzung, und es lag in der Natur der Sache, dass ich erschöpfter war als sie.
Die letzten zwei, m it denen ich sprach, waren der Priester (ich habe schon erwähnt, dass er mein besonderer Freund geworden war, ich empfand eine besondere Zuneigung ihm gegenüber), und der Direktor des Clubs, und der Ablauf war mehr oder weniger dieser: Ich begann mein Gespräch mit der Person, die mir am nächsten stand, und ich beendete es mit dem Leiter des Hauses, der, wie gesagt, einer meiner Lehrer war.
Ich bekam keine Jause, nichts. Um „Luft zu schöpfen“ durfte ich ein oder zweimal in die Kapelle gehen. Sie schlugen mit vor Gebet zu machen, direkt mit Jesus Christus im Allerheiligsten zu sprechen, Ihn um Hilfe, um Licht zu bitten, Ihn bitten mich „sehen“ zu lassen, dass er mich bäte Numerarier zu sein.
Ich versuchte also Ordnung in meinen kopf zu bekommen, in dem sich die Gedanken im Kreis drehten, in einem Chaos, in das mein Leben völliog unverhofft an jenem Nachm ittag gestürzt wurde; ich versuchte mit Jesus im Allerheiligsten zu sprechen, etwas zu hören, ein Zeichen wahrzunehmen, einen Hinweis zu erhaschen, die Bestätigung, dass Er diesen Schritt von mir erwartete. Ich ging so weit, dass ich Jesus bat, er möge irgendeinen Gegenstand in der Kapelle bewegen oder bewirken, dass sich die Kerzen auf dem Altar von selbst entzünden. Ich kam mir so allein und verloren vor … ich hatte Angst, eine Angst, wie ich sie noch nie im Leben gefühlt hatte. Gewiss, ich war hier nicht allein, Jesus war hier im Allerheiligsten zugegen, für mich aber in einem undurchdringlichen Schrein, der mich von Ihm trennte und mich daran hinderte, zu Ihm zu sprechen. Woher sollte ich wissen, dass dieses Drängen, dem ich unterworfen fühlte, wirklich von Jesus im Tabernakel ausging und nicht ein Produkt meiner überreizten Phantasie, einer Einbildung war? Woher sollte ich die Wahrheit wissen – und das unter solchem Druck?
Als ich aus der Kapelle kam und sie ihre Arbeit wieder aufnahmen, antwortete ich ganz aufrichtig, dass ich nichts klar sähe. Ich sagte ihnen sogar, dass ich in diesen Momenten, die ich allein in der Kapelle verbrachte, Gott um ein Zeichen gebeten hatte, dass er von mir diese vollkommene Hingabe wollte. Der Priester antwortete, dass ich mir nicht solche Illusionen machen sollte. Wer war ich denn, dass ich von Gott ein Wunder fordern konnte, und noch dazu wo die Berufung ein Geschenk sei, für das man ohnehin sehr, sehr dankbar zu sein habe? Außerdem, worin bestünde mein Verdienst, wenn ich mich hingegeben habe, nachdem ich ein Wunder gesehen hätte? Ich kam mir plötzlich dumm vor, dass ich dem Priester verraten hatte, dass ich Gott um dieses Zeichen gebeten hätte. Und als ich seine Antwort hörte und sein Gesicht sah, gab es mir einen Stich, denn mein Ansinnen war wirklich kindisch gewesen, und ich schämte mich, aber der Priester schenkte dem nicht weiter Beachtung, denn er wollte mich auf ein anderes Gebiet führen, andere Argumente bringen, und es schien so, als habe er keine Zeit zu verlieren.
Schließlich sagte ich ja. Ich vernahm kein Zeichen, fühlte keinen besonderen Ruf. Warum hatte ich dann ja gesagt? Vielelicht, weil sie „mehr und älter“ waren. Sie hatten schon mit vielen Jungen gesprochen und konnten auf diese Ertfahrungen zurückgreifen: Sie wussten, welche Argumente man in welchen Phasen des Gesprächs anwenden musste. Sie kannten mich gut, und vermuitlich hatten sie sich ausgemacht, wie sie mit mir umgehen und was sie mir sagen würden, nicht nur an diesem Nachmittag, sondern auch in den Tagen und Wochen davor. Ohne dass ich es wusste, hatten sie mich auf diesen entscheidenden Augenblick vorbereitet, durch den ich dann völlig überrumpelt wurde; sie hingegen nicht.
Sie ereichten es nach einer Sitzung von vielleicht vielleicht vier oder fünf Stunden, mich zu beugen, zu übereden oder zu überzeugen – noch nie hatten erwachsene Menschen auf diese Weise zu mir gesprochen, und für mich waren das nicht irgendwelche Menschen, wie ich schon erzählt habe. Ich vertraute ihnen sehr, und außerdem hatten sie direkten Einfluss auf mich. Zwei von ihnen, der Priester und der Direktor, waren Lehrer meiner Schule, wie ich bereits erwähnt habe. Und sie nannte mir noch einen Grund, um mir das „Ja“ zu entlocken, als die >Zeit schon fortgeschritten war und ich mich noch sträubte; sie enthüllten mir, dass meine Klassenkameraden, jene fünf oder sechs, mit denen ich jeden Nachmittag zum Studium herkam (die, die trotzdem in die „verbotene Zone“ gehen durften, das heißt, in den Bereich des Studentenheims - schon seit einigen Wochen oder Monaten Numerarier waren, und ich hatte keine Ahnung davon gehabt!
So hatte ich den Eindruck, dass ich als letzter der Gruppe zurückblieb, weit abgeschlagen noch dazu – und ich hatte ja doch keine Ahnung davon gehabt! – und ich musste da möglichst schnell in Ordnung bringen, denn wenn ich schon als letzter Aufsprang, dann wenigstens mit Würde und nicht weniger Mut wie meine Freunde.
Wie ich bereits sagte, diese Sitzung verlängerte sich immer wieder, mit erneut vorgebrachten Argumenten, bis ich mich entschieden hatte Numerarier zu sein. Sie folgten einander, einer nach dem anderen, ohne Pause; es war ziemlich hart. Es dauerte mehr oder weniger von 16, 17 bis 23 Uhr, als ich den Brief an den ater schrieb. Als wir fertig waren, war es so spät, dass sie mich mit dem Auto nach Hause brachten.
Jetzt war alles erledigt; sie gratulierten mir, lächelten sehr zufrieden, es war einer mehr in der Familie, wie ein Neugeborener. Die Umarmungen und Lächeln hatten eine neue Qualität erhalten; man merkte, dass ich jetzt die berühmte, entscheidende Schwelle überschritten hatte.
Am nächsten Tag fragte ich mich, warum sie mir nichts von der Möglichkeit gesagt hatten Supernumerarier zu werden (und ebenfalls vom Opus Dei zu sein, allerdings ohne auf die Ehe zu verzichten). Und natürlich konnte ich mir darauf keuine Antwort geben. Ich dachte mir, dass die Numerarier eine besondere Kategorie wären – sie hatten mit gesagt, dass ein Numerarier wie einer der Apostel Christi sei, einer der zwölf Auserwählten, die Ihm alles hingegeben hatten, aber Ihm auch sehr nahe waren – und die hätten wohl entdeckt, dass ich die nötigenVorausetzungen besitze um Numerarier zu sein und nicht bloß Supernumerarier. Aber das waren nachträgliche Überlegungen, denn vor dem Pfeifen hatte ich keine Gelegenheit mich zu informieren, welches die Unterschiede in der Berufung eines Numerariers, eines Supernumerariers oder eines Assoziierten sei. Sie wählten meine Berufung aus, nicht ich.
Meine Eingliederuing in das Opus Dei änderte mein Leben von Grund auf.
Aber hatte ich in einer für mich so wichtigen Angelegenheit mit meinen Eltern besprechen können, bevor ich mich entschied? N atürlich nicht. Sie waren an jenem nachmittag nicht da, und niemand schlug mir vor sie zu holen. Was wäre geschehen, wenn sie mich nicht so unter Druck gesetzt hätten, wenn ich Gelegenheit erhalten hätte, nach Hause zu gehen und meine Entschdiung in Ruhe, ohne Zeitdruck zu überdenken? Wie ich gesagt hatte, ich hatte wohl Gelegenheit mit Gott zu spreche, Aber unter welchen äußeren Umständen? Draußen, vor der Kapelle, waren die Leute, die auf meine endgültige Entscheidung warteten. Welches Problem wäre es gewesen, wenn ich mehr Ruhe gehabte hätte, mit Jesus Christus im Tabernakel zu sprechen, nicht in jenen kurzen Zeitabschnitten, in denen mier allerlei durch den Kopf geisterte, sondern eine Woche lang, oder über Wochen und Monate hinweg? Sagt man nicht, dass ruhige Überlegung für das Gebet wichtig seien? ich hatte in diesen Momenten, die sie mir erlaubt hatten zu beten, ein solches Durcheinander im Kopf, ich war voller Unruhe, die Nerven flatterten – sicherlich nicht die besten Bedingungen, um im Gebet Entscheidungen zu treffen. Aber gut, ich will nicht weiter darauf beharren. Diese Menschen wandten, wie sie es gewohnt waren, Druck und Überrumpelung an, um einen Minderjährigen zu nötigen, und sie hatten Erfolg damit.
Ich denke, dass ich mich, falls das Opus Dei mit dieser schäbigen Art und Weise fortfährt, Minderjährige zu nötigen, die noch nicht ie ausreichende geistige Reife besitzen und auch nicht einschätzen können, dass sie unter Druck stehen oder beeinflusst werden, absolut dagegen aussprechen muss, denn ich bin völlig davon überzeugt, dass es eine unmoralische Vorgansgweise ist.
Ich denke, dass mir gegenüber eine sehr große Ungerechtigkeit und ein großer Missbrauch betrieben wurden. Ich habe die Überzeugung, dass ich dem Werk auf eine äußerst seltsame und verdächtige weise beigetreten bin, völlig übereilt und ohne dass ich selbst den besonderen Ruf verspürt hätte, diese Lebensweise anzunehmen. Das half mir zehn Jahre später wieder auszutreen, denn Gott hat uns Verstand und Vernunft gegeben, und ich habe verstanden, dass für meinen Schritt in das Werk mein Wissen und mein Willen gefehlt hatten.
Ich habe niemals dem örtlichen Rat eines Zentrums angehört (das ist die Gruppe, die ein solches Zentrum des Werkes leitet und die aus einem Direktor, einem Subdirektor, dem Sekretär und dem Priester besteht), und so beklam ich nie mit, wie ein solches Gespräch vorbereitet wird, wenn jemand pfeifen soll. Vielleicht weiß jemand von euch darüber Bescheid, falls ihr in einem örtlichen Rat wart.
Wie kann ein örtlicher Rat darüber entscheiden, ob ein junger Mensch mit sagen wir vierzehn oder fünfzehn Jahren reif ist zu pfeifen? Welches sind ihre Kriterien? Wie werten sie ihre Erfahrungen aus? Welche Normen hat der Gründer hier gegeben – falls er wtwas schriftlich hinterlassen hat?
Diese Fragen kann ich nicht beantworten. Meiner bescheidenen Ansicht nach achtet der örtliche Rat die Freiheit des jungen Menschen nicht höher als die proselytistischen Notwendigkeiten des eigenen Zentrums und der Institution Opus Dei. Der örtliche Rat hilft dem Jugendlichen nicht, er regt ihn nicht dazu an, die unterschiedlichen Wege innerhalb der Kirche kennenzulernen, auf denen man zu Gott gelangen kann, damit er tatsächlich seinen ganz persönlichen Lebensweg erkennen und Gott treu sein kann, wie auch immer der Ruf Gottes oder des Wunsch des jungen Menschen im konkreten Fall aussehen mögen. Statt dass die unverletzliche Freiheit jeder Person ernstgenommen wird, legt sich der örtliche Rat auf irgendeine Weise Eigenschaften Gottes bei – sie maßen sich an zu wissen, was Gott in Bezug auf Dritte vorhat.
Der örtliche Rat schätzt die Qualitäten des Subjekts ein, die notwendig sind, dass jemand Numerarier wird, und wenn der Junge sie erfüllt, dann nehmen sie an, dass Gott sie ihm gegeben hat, und dann ist nur noch die Frage, ob er die notwendige Großzügigkeit besitzt, um den letzten Schritt zu wagen: Ja zu sagen. Wenn der Junge dann ja sagt, dann deshalb, weil Gott ihm die Gnade und die Großherzigkeit gegeben hat, die notwendig sind, um sich hinzugeben, ein klarer Beweis dafür, dass sie sich in der Wahl des Kandidaten nicht geirrt haben.
Mich kostet es wirklich Mühe zu glauben, dass die örtlichen Räte sich des Irrtums voll bewusst sind, der hinter einem solchen Konzept steckt, das bei Licht besehen notwendigerweise irrig sein muss und das so offenkundig gegen die Freiheit der Person verstößt, weil man sich hier eine Art privater Unfehlbarkeit anmaßt. Ich denke, dass die Direktoren in dieser Angelegenheit selbst betrogene Betrüger sind, und eben deshalb setzen sie mit solchem Enthusiasmus sich selbst und alle verfügbaren Mittel ein. Hier geschieht ein Missbrauch, und es gibt überhaupt keine Rechtfertigung, die hier eingesetzt werden für den einen Zweck, dass hier nämlich jemand pfeift.
Diese Einflussnahme aber, der irrige Glaube, dass man weiß was gut oder wahr ist, können bewirken, dass sich die Objektivität verflüchtigt und dass diese Annahmen nur mehr die Mittel rechtfertigt, die einer anwendet. Für mich scheint es keine andere Abhilfe zu geben, als dass jeder einzelne sein Gewissen befragt; nur so werden wir erkennen, was schlecht ist, ohne langmächtigen und höchst komplizierten Gedankenkonstruktionen nachzugehen. Wir sehen, wir fühlen, was richtig ist; aber wir wissen leider auch, dass sogar das Gewissen manipuliert und korrumpiert wird, und so ist es ebensowenig unfehlbar.
Ich habe es nicht geschafft, hier auf wenig Raum zusammenzufassen, was ich sagen wollte. Es tut mir leid, dass mein Schreiben letztendlich doch so lang geraten ist.
Wenn ich hier etwas erzählt haben sollte, was ich vielleicht schlecht verstanden habe oder was so nicht stimmen kann, wäre ich für einen Hinweis dankbar.
Ich würde hier gerne auch die Zeugnisse anderer lesen, wie sie gepfiffen haben, damit ich sehe, ob das, was mir widerfahren ist (noch vor meinem 15. Geburtstag) normal und üblich ist oder ob da ein Einzelfall war.