DER FELS ZERBRICHT

 

Atomito, 29/10/2012

 

Escrivá verwendete eine einprägsame Sprache; sein „Werk Gottes“ bedachte er mit Ausdrücken wie „monolithische Einheit“, „gemeißelte Spiritualität“. Eine andere großsprecherische Phrase besagte, es werde „das Werk geben, solange Menschen auf Erden leben“, und „dem Himmel ist daran gelegen, dass das hier Wirklichkeit wird“. Wenn wir die jüngsten Meldungen  über die Verwaltung und die erlahmenden Berufungen von Auxiliarnumerarierinnen lesen, so scheint es mir, dass nur 49 Jahre nach dem Tod des Gründer der „gemeißelte monolithische Block“ am Zerbröseln ist, veraltet und überholt…

Das Modell, sich eine Gruppe zölibatärer Bediensteter verfügbar zu machen, die sich der Hausarbeit in den Zentren des  Opus widmen und ihnen „eine familiäre Atmosphäre“ geben, die so wichtig für die „gemeißelte Spiritualität“ ist, basiert auf der Leibeigenschaft traditioneller Adelsfamilien. Mir kam es immer merkwürdig und eigenartig vor, dass der Leiter mit einem Glöckchen das Zeichen dafür gab, dass der nächste Gang serviert werden könne. Der dienstbare Geist hüllt sich in Schweigen, nie wird ein Wort zu den Tafelnden gesprochen, es geschieht höchstens einmal, dass ihr der Leiter mit gedämpfter Stimme etwas zuraunt, falls etwas fehlen sollte. Jahre nach meinem Weggang aus dem Opus sah ich einmal einen Film, der im Süden der USA der zwanziger Jahre spielt („Ragtime“) , und da gab es ein erstaunliches Wiedersehen mit dem Glöckchen und dem stummen beschürzten  Servierkörper – es war ein Kennzeichen der reichen Häuser in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts…

 

Heutzutage halten sich solche Einrichtungen nur in Entwicklungsländern mit massiver sozialer Ungerechtigkeit. Wenn die Frauen keinen Zugang zu Schulbildung oder attraktiven Berufen haben, die für die Reichen reserviert bleiben, erscheint ihnen die Möglichkeit, als Dienstmädchen bei reichen Familien zu arbeiten, als lohnende Alternative. In den entwickelten Ländern holen sich die Wohlhabenden jemanden, der ihnen mehrmals die Woche sauber macht, aber nirgend wird auf ein Glockenzeichen hin serviert. Das Opus hat sich hingegen die Einrichtung der Verwaltung geschaffen, die jüngere Generationen an den Komfort von Fünfsternehotels erinnert: Sie reinigen und bügeln dir die Wäsche und legen sie dir zusammengefaltet aufs Bett, sie kochen und putzen täglich für dich, das ist typisch für Hotels, nicht für Familien. Für einige mag das toll klingen; normale Menschen bevorzugen es eher, sich um ihre Sachen selber zu kümmern, sich etwas aus dem Kühlschrank zu holen, wann es ihnen passt, sich jemanden zum Essen einzuladen oder auch schon einmal jemanden über Nacht zu beherbergen etc. In jedem Fall ähnelt ein Zentrum des Opus mehr einem Hotel als dem Zuhause einer Familie.

Auch in anderen Punkten wirkt der „gemeißelte Geist“ des Gründers auf die heutige Gesellschaft befremdlich und eigenartig. Das deutlichste Beispiel ist die Kontrolle der Medien und der beschränkte Zugang zur Kunst. Escrivá sagte, dass er dem Wort jedes seiner Kinder mehr traue als hundert Notaren, die einmütig das Gegenteil versicherten, aber wie in anderen Dingen hat er auch hier eklatant gelogen. Tatsächlich hat Escrivá eine ganze Reihe von Kontrollmechanismen geschaffen, z. B.:

- die Mitglieder des Opus können nicht leichthin irgendein Buch lesen, das ihnen unterkommt; sie müssen immer zuerst um Erlaubnis fragen, ob sie es überhaupt in die Hand nehmen dürfen, und wenn die Antwortet nein lautet (immerhin steht ein ziemlicher Prozentsatz der Weltliteratur und geisteswissenschaftlicher Fachbücher auf der Schwarzen Liste, können sie sie nicht lesen, ohne eine Sünde zu begehen.

- die Briefe, die die Numerariermitglieder schreiben oder empfangen, müssen vom Leiter gelesen worden sein.

- in den Zentren des Opus darf der Fernseher nur auf Anweisung des Leiters eingeschaltet werden. Die gewöhnlichen Numerarier können sich nicht einfach vor den Fernseher setzen, wenn es ihnen passt, sondern nur, wann es der Leiter bestimmt, und das ist nicht öfter als vier bis fünf Mal im Monat.

- die zölibatären Mitglieder gehen weder ins Kino noch zu öffentlichen Theateraufführungen. Filme sehen sie höchstens, wenn einmal im Zentrum einer gezeigt wird.

- in den Zeiten, in denen Escrivá lebte, gab es keine PCs, Handys und Ipods. Die einzige Möglichkeit, Musik zu hören, waren  das Radio oder der Plattenspieler. In den Zentren des Opus haben die Numerarier keines dieser Geräte, sondern es gibt nur eine Musikanlage; um die in Betrieb zu nehmen, muss man den Leiter fragen.

- in den Zentren des Opus liest zunächst einmal der Leiter die Zeitung und wenn es darin „unpassende Fotos“ geben sollte, werden sie überklebt. Diese paranoide Kontrolle der Information war im religiösen Umfeld Francospaniens nichts Ungewöhnliches. Heutzutage ist es allerdings unvorstellbar, so etwas durchsetzen zu wollen. Heute gibt es keinen wesentlichen Unterscheid mehr zwischen einer Zeitung und einem Radio- oder Fernsehkanal. Bücher, Filme, Nachrichten, Reportagen, alles ist digital verfügbar, sobald man einen Internetzugang hat. Nicht einmal Diktaturen können hier noch wirksam kontrollieren, was die Leute lesen oder welche Filme sie sehen. Escrivás Modell der Kontrolle ist schlicht ungangbar.

Ich male mir aus, welche internen Debatten es in den letzten Jahrzehnten hinsichtlich der technischen Entwicklung und ihrer Anwendung durch die Mitglieder gegeben haben muss. Denn sobald Briefe durch Mails ersetzt wurden, überlegte man sich, ob sie genauso wie die Briefe zuerst vom Leiter zu lesen seien. Und offenkundig hat sich die „alte Garde“ jener Leiter, die ihr Leben lang diese Gewohnheit aufrechterhielten, weil sie sie für eine göttliche Eingebung hielten, der „Kapitulation“ widersetzt, dass elektronische Briefe auf einmal nicht mehr zu lesen seien. Gewiss hat es mehr als einer von ihnen befürwortet, dass die gewöhnlichen Numerariermitglieder dem Leiter ihr Passwort mitteilen, dass im WLAN der Zentren gewisse Seiten weggefiltert werden etc. Ich zweifle nicht, dass einige dieser Maßnahmen im kleinen Maßstab durchgesetzt worden sein dürften, aber im Großen und Ganzen dürfte man eingesehen haben, dass die Kontrolle der Mitglieder im digitalen Zeitalter eine verlorene Liebesmüh ist. Wenn die Leute von draußen schon darüber schockiert sind, dass ein Numerarier nicht ins Kino oder auf ein Fest gehen darf oder dass er ein Bußband benutzt, dann kann man sich die Aufregung vorstellen, die entsteht, wenn bekannt würde, dass die Mitglieder des Opus verpflichtet seien, Spyware auf ihren Geräten zu installieren, damit ihre Leiter auf dem Laufenden sind, was ihre Schäfchen so machen?

Ich habe einem gegenüber Freund, der nach wie vor vom Opus ist und mit dem ich regelmäßig rede, dieses Thema angeschnitten, und er hat mir gesagt (was auch die offizielle Sprach­regelung im Opus sein dürfte), dass sich das Wesentliche am Geist nicht ändert, dass sich aber die Art, ihn zu leben, den Zeiten anpasst. Das ist allerdings ein glattes Parkett, denn Escrivá hat hier niemals genau definiert, wann er etwas nur so sagte und wann er etwas Wesentliches verfügte. Mit seiner Besessenheit für die „kleinen Dinge“ hat er vielmehr den Eindruck vermittelt, alles sei wichtig, sogar die Art, wie man eine Tür schließt oder ein Bild an der Wand zurechtrückt, sei Ausdruck des guten Geistes. Wenn man heute behauptet, die Kontrolle der Post sei nichts Wesentliches, so klingt das wie der nachträgliche Versuch, das Unentschuldbare zu entschuldigen.

Ein anderes anachronistisches Beispiel, nur 4 Dekaden nach dem Tod des Gründers, ist die Frage des Zölibats. Der Gründer hat den Mund damit vollgenommen, dass das Opus auch Ver­heiratete aufnimmt. Tatsächlich aber sind die Supernumerarier Mitglieder zweiter Klasse, sie erfahren nichts, und ihre einzige Aufgabe ist es in Wahrheit, Numerarier zu zeugen und zu gebären bzw. Positionen in der Gesellschaft zu erringen, von denen aus sie dem Opus nützlich sein können. Im Opus haben immer nur die Zölibatären, und zwar die Männer, das Sagen. In den Zeiten und an den Orten, in denen sich das Opus ausbreitete, erschien es vollkommen normal, dass man eine religiöse Berufung hat, die den Zölibat einschließt. In der westlichen Gesellschaft von heute ist es aber wesentlich plausibler, schwul zu sein als zölibatär. Einige wenige regen sich noch darüber auf, wenn zwei Schwule einander heiraten und sogar Kinder adoptieren, andererseits gehört es aber in ein Paralleluniversum, dass Menschen desselben Geschlechts unter einem Dach zusammenleben, beten und religiöse Übungen miteinander verrichten.

Die Leiter des Opus stehen nunmehr vor dem Dilemma, ob sie sich weiterhin nach den klaren Anweisungen halten sollen, die ihnen der Gründer hinterlassen hat, oder ob sie sie an den Lauf der Zeit anpassen sollen. In jeder menschlichen Vereinigung, und dort ist es eben kein Dilemma, muss man sich anpassen, oder man geht unter, so wie es vor kurzem mit Kodak ge­schehen ist. Aber in einer Institution, die von sich behauptet, göttlich zu sein und nicht menschlich, und wo man nur 40 Jahre nach dem Tod des Gründers der Aufgabe gegenübersteht, alles grundlegend zu ändern, ist das Dilemma schrecklich. Vor allem wenn man dann vergleicht, wie Jesus Christus die Dinge vor 2000 Jahren angegangen ist. Die Kirche selbst ist durch Reformen und Gegenreformationen gegangen, sie ist vorwärts und sie ist rückwärtsgegangen, aber die Lehren und Gleichnisse Jesu haben heute noch dieselbe Kraft wie schon immer, und man muss sie nicht neu erfinden oder anpassen. Ich denke, dass nur mehr wenige der jetzt lebenden Menschen einen Sämann bei der Arbeit gesehen haben; das Gleichnis vom Sämann verstehen sie gleichwohl. Die Kirche, eine menschliche Institution, die vorgibt eine göttliche zu sein, hatte und hat ähnliche Probleme wie das Opus. Aber die Worte Jesu Christi haben dem Lauf der Zeit standgehalten, ohne dass man sie hätte anpassen müssen. Die göttlichen Worte Escrivás hingegen, wie prahlerisch sie auch immer vorgebracht worden sein mögen, sind nach einer Generation schon überholt. Und wenn wir in die Zukunft schauen, wird es noch viel schlimmer. Möglicherweise muss das Opus endlich damit anfangen, Veränderungen vorzunehmen, oder es wird verschwinden.

Man könnte meinen, die Situation sei nicht gar so schlimm. Immerhin hat das Opus ja noch immer seine Privatschulen und die Supernumerarier, die ihnen den Nachschub neuer Numerarier garantieren, die diejenigen ersetzen können, die sterben oder davonlaufen. Das Problem besteht aber darin, dass sich das Opus in eine Art Ghetto verwandelt, wenn die neuen Mitglieder  nur mehr aus Familien von Mitgliedern kommen und sie nicht mehr der Sauerteig sind, der die Gesellschaft durchsetzt. Wenn die Leute vom Opus nur noch komische Vögel sind, die nicht mehr wirklich an der Gesellschaft teilnehmen, sondern unter einem Glassturz stehen, der sie vor Sünde und Perversion bewahrt, während sie eine Leben führen, das sich immer weiter von dem gewöhnlicher Menschen unterscheidet, dann geht die Visio beatifica, die Escrivá an jenem 2. Oktober hatte, den Bach hinunter, denn dieses Salz würzt keine Gesellschaft mehr. Sie kann es von außen her versuchen, wie die Konquistadoren, die in Amerika eingedrungen sind, die den Einwohner ihre Kultur und ihre Religion überstülpten, aber das hat überhaupt nichts mehr mit den ersten Christen zu tun, wie Escrivá kühn behauptet hatte.

Niemand weiß, wie die Welt, und niemand weiß, wie das Opus in hundert Jahren aussehen wird. Für mich aber steht fest: Sollte Escrivá in hundert Jahren noch einmal auf die Erde kommen, wird er sein Werk nicht wiedererkennen – falls es überhaupt noch existiert. Die berühmt „Vision“, die er am 2. Oktober 1928 hatte, war kein Blick in die Zukunft, den ihm Gott erlaubt haben mag. Es war ein Produkt der Fantasie Escrivá, und so wie es mit allen Zukunftsvisionen geschieht, die wir uns ausmalen. und das ist auch eine Erfahrung, die Science-Fiction-Autoren machen müssen, sie verraten viel über die eigene Gegenwart und Befindlichkeit, zeigen aber bei Weitem nicht das, was sie vorgeblich sein wollen.

Atomito