Die Zeit nach dem Opus Dei

 

Marcus Tank

 

1. Früher oder später setzt sich die Wahrheit durch, auch gegenüber einer eng gefassten „Frömmigkeit“ oder einem „Geist“, der ohne theologische Basis ist. Das Gleiche lässt sich über die Institution Opus Dei sagen, das sich innerhalb ganz kurzer Zeit in seiner ganzen monströsen Realität geoffenbart hat. Die genaue Analyse führt zu einer vernichtenden Kritik am ihm innewohnendem  Totalitarismus, der erweist, dass das Opus Dei ein Betrug ist und dass wie alle, die wie an den Gründer geglaubt und ihm vertraut haben, als Betrogene dastehen. Es tut weh sich das einzugestehen, aber noch schlimmer ist es in der Lüge zu verharren.

Und wenn es freilich nicht im engeren Sinn Gott selbst war, der diese Institution geschaffen hat, so zweifle ich doch nicht daran, dass nahezu wir alle, die wir uns dem Opus Dei angeschlossen hatten, dies aus Sehnsucht nach Heiligkeit und Hingabe unter dem Antrieb des Heiligen Geist es getan haben. So etwas kann nicht verloren gehen und es ist auch nicht verloren gegangen, im Gegenteil; wir müssen unsere persönliche Beziehung zu Gott, der „durch deinen Flug Kühlung ihm verliehen“, wie der Mystiker aus dem Karmel sang. Wenn wir die spirituellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts betrachten und sehen, welche Reformen in älteren Gründungen unternommen wurden, so merkt man eine gewisse Tendenz, das Institutionelle und Korporative zugunsten einer echten persönlichen Begegnung mit Gott hintanzustellen…

2. Als sich das Lebensform der Eremiten entwickelte, gab es keine organisierten Einrichtungen zur Heiligung, sondern spirituelle Führergestalten (einen  Abba, Vater; daher die Ausdrücke Abt, in der Ostkirche Starez), die aus eigenem Antrieb mit ihrer Erfahrung denen halfen, die sie um Rat baten. Später entstanden Zusammenschlüsse solcher Einsiedler, Zönobien, Klöster, in denen es Regeln gab, die aber nicht mehr Sinn hatten als „gemeinsame Wege“ für die persönliche Einheit mit Gott zu bahnen. Der hl. Benedikt von Nursia (480-547), der humanste unter den Mönchen, mäßigte die Regeln und passte sie aus Respekt vor dem Wirken Gottes im Menschen an, damit die Mönche ihr persönliches Gebet pflegen könnten. Im  Lauf der Jahrhunderte fanden die reformierten Mönchsorden neue kanonische Organisationsformen wie die Obödienzen der Zisterzienser oder der Cluniaszenser im 11. und 12. Jahrhundert.  Den kontemplativeren Formen folgten später anderen mit spezifischen Aktivitäten oder Besonderheiten. In der Epoche der Moderne blühten neuartige Lebensformen.

Während des 19. und 20. Jahrhunderts bewirkte der Heilige Geist in den Seelen die Sorge um die Spiritualität der Laien und ihre Heiligung in den gewöhnlichen Pflichten. Und nun erschien eine ganze Theologie zum Laienstand, parallel zu einer neuen Ekklesiologie des „Mystischen Leibes Christi“, die z. B. in der 1943 von Pius XII. emulgierten Enzyklika Mystici Corporis ihren Ausdruck fand und die von den großen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts weitergeschrieben wurde, auch unter einem ökumenischen Aspekt. Die erneuernde Kraft dieser Bemühungen zeigte sich dann letztendlich im Zweiten Vatikanischen Konzil.

Die Dokumente dieses Konzils haben eine neue Sichtweise des christlichen Glaubens mit sich gebracht, die auf friedliche Weise die Begriffe vom Volk Gottes und vom mystischen Leib Christi im ursprünglichen biblischen und patristischen Sinn zusammengebracht hat. Aber dieses Konzil hat auch ein neues Bild vom Menschen hervorgebracht, so wie es den geänderten Zeitumständen entspricht, sodass es ihn als Individuum und als Gemeinschaftswesen respektiert und in jedem Fall die Person über die Institution stellt, Die Würde der menschlichen Person erfordert in jedem Fall die Ausübung der persönlichen Freiheit anstelle von stereotypen Verhaltensweisen, wie sie  Institutionen einfordern, so als läge darin schon die Garantie für das Gute und für die Rechtgläubigkeit.

Historisch gesehen lässt sich nicht leugnen, dass gerade die christliche Kirche des Abendlandes einen exzessiven Organisationsgrad erreicht hat, der reformiert werden muss. Unbeschadet des guten Willens vieler leiden wir heute noch darunter. Die christliche Theologie und Spiritualität des Ostens sind dagegen immer personenbezogen und höchst kontemplativ geblieben.

3. Welche Stelle nimmt nun das Opus Dei in einem solchen Szenario ein? Mir erscheint es wie eine Missgeburt; einerseits bewahrt es ganz traditionell äußere Aspekte der Frömmigkeit der vergangenen Jahrhunderte, und zugleich beruft es sich auf seinen „säkularen Geist“, der sich darauf beruft, avantgardistisch die neue Ekklesiologie des Konzils vorbereitet zu haben. Nichts davon ist wahr, denn das Opus Dei bleibt weiterhin einem verknöcherten, altmodischen, hinfälligen Kirchenbild verhaftet, das der sich nicht mehr genügt und sich in hieratischer Unbeweglichkeit präsentiert mit dem schlimmen Anschein, sich selbst zu genügen. Der Gründer verstand nicht das Geringste von der „Neuen Theologie“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, das er ausschließlich unter negativen Vorzeichen sah und einschätzte. Aufgrund seiner inneren Haltung und seiner Bildungsgeschichte konnte und wollte er die Bedeutung dieses Konzil einfach nicht erfassen.

Was war seine Reaktion? Er schuf unter religiösem Deckmantel ein weltliches Unternehmen, ein weltliches Machtkonstrukt, in der die Person vollständig in der Institution aufgeht, um diese effizienter zu machen. Es war Hans Urs von Balthasar, der diese Absicht vollkommen verstand und deshalb in seiner kritischen Schrift über das Opus Dei den Finger auf die Wunde legte.

Das erklärt vieles. Wenn wir allerdings die Entwicklung der Kirche in den letzten Jahrzehnten betrachten, erkennen wir eine Tendenz in Richtung Spiritualität. Damit ist kein Pietismus gemeint, sondern eine historischen Ballast freigebende Rückbesinnung auf den Menschen ebenso wie auf die Ursprünge der Kirche, sie  lässt los, um stärker Gott in sich wirken zu lassen.

Man kann sich nichts „Unmenschlicheres“ vorstellen als einen gottlosen Menschen, der sich eines sakralen Instumentariums bedient. So ist es möglich, dass die monströse Maschinerie einer Frömmigkeit  von  „Normen“ organisiert, die letztlich von einem kalten, theoretischen Gott ausgeht, der das Produkt einer rationalistischen Theologie ist. Zwischen den echten, personalen Gott der Offenbarung, den Gott der Evangelien und den Jesu Christi, und jeden einzelnen von uns schiebt sich eine institutionalisierte Mittlerinstanz, die uns aus dem Wurzelgrund unserer Existenz herausreißt und uns am spontanen, unmittelbaren Umgang mit dem wahren und lebendigen Gott hindert, den uns Christus geoffenbart hat.

Der Kontrast zwischen einer solchen Annäherung an das Christentum und dem, was uns das Evangelium lehrt, ist offenkundig. Bei Jesus von Nazareth gibt es praktisch nichts von einer Institution. Zwischen Jesus und seinen Jüngern ist kein „System“ zwischengeschaltet; Er führte immer Freundschaft mit denen, die er liebte. Das Gesetz Gottes ist seine tätige Liebe. Der Irrtum entsteht aber dann, wenn man die Moral als das Ergebnis rationalen Überlegens missversteht, denn dann wären die Regeln des christlichen Lebens pure Abstraktionen, der Buchstabe, der tötet.

So verwandelt sich eine allmächtige Institution in ein Hindernis für echte Kontemplation, für den persönlichen Umgang mit Gott, denn meine Beziehung zu Gott ist nicht und kann sich nicht auf die Erfüllung dessen reduzieren lassen, was meine Vorgesetzten mir sagen; und schon gar nicht kann die Institution die Stimme des Gewissens ersetzen. Das würde nämlich nichts anderes bedeuten, als dass man das geistliche Leben für etwas korporativ Organisierbares hält. Instrumentalisieren wir so nicht den Heiligen Geist durch die Vorgesetzten? Freilich ist Gott für die Menschen innerhalb jedweder Struktur zu erreichen. Aber eben deshalb ist es wenig sinnvoll, von einem „geregelten Umgang“ mit Ihm zu sprechen.

4. Es scheint, dass das Opus Dei vergessen hat, dass Organisationen und Institutionen keine Personen sind; mit ihnen führt man unpersönliche, systematische, politische  Beziehungen; nur solche sind gegenüber dem Opus Dei angebracht, da es eine Institution ist und nicht die „schöne Mutter“, als die es sich selbst darstellt. Sobald die Mitglieder des Werks die Überzeugung gewonnen haben, dass es keine Familie ist, sondern ein System, ersparen sie sich viel Schmerz. Freundschaft und Liebe kann man nur einer Person gegenüber empfinden, nicht aber gegenüber einer Organisation. Und eine Institution kann sich niemals anmaßen, zwischen Gott und dem Menschen vermitteln zu wollen, oder zwischen zwei Menschen. Beziehungen zwischen Personen sind unvermittelt, sie gehen von Herz zu Herz.

Gehen wie also von der Sicherheit aus, dass es Gott ist der uns erlöst, und nicht unsere Anstrengungen; dass es Gott ist, der uns das Leben gegeben hat und uns ohne eine Mittlertätigkeit erlöst. Wenn wir also wissen, dass wir uns nicht aus eigener Kraft erlösen und zu Gott gelangen können, sondern dass  jede Offenbarung und jede Heiligung von Ihm kommen, dann erfahren wir, dass alle Regeln, Normen und Kriterien, ja, alle menschlichen Anstrengungen, die Heiligung zu erlangen, völlig unzureichend zur Erlangung dieses Ziels sind. So  müssen wur den Heiligen Geist wirken lassen, ohne Ihm irgendwie zuvorzukommen zu trachten, weder durch eine menschliche Unternehmung  noch durch eine unreife Sehnsucht nach Vollkommenheit, die nicht von Gott stammt.

Außerdem soll  nicht vergessen werden, dass sich jede Liebesbeziehung, so auch die eines Menschen zu Gott, zwischen Personen abspielt und deshalb vollkommen eigenständig ist. Da jeder Mensch anders und auf seine Weise unersetzlich ist, gibt es so viele Berufungen wie Personen: Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Jeder muss daher sein geistliches Leben auf seine ganz persönliche Weise entwickeln, auf den Geist hören, der ihn anleitet. Das kann sehr wohl im Einklang damit stehen, dass man erfahrene Menschen um Rat oder freundschaftliche Hilfe bittet, um Mut zu fassen oder sich in Freuden und Schwierigkeiten mitzuteilen.

Unter einem solchen Gesichtspunkt werden freilich Regeln und kollektive Wege der Heiligung sinnlos, wenn sie zu bloßen aktivistischen Organisationsformen degeneriert sind, die dazu tendieren die Beziehung zu Gott zu standardisieren, und noch schlimmer ist es, wenn sie sich apostolische Ziele stecken, so als handle es sich um die Produktionsdaten einer Firma. Worum Gott mich bittet, darum muss er nicht notwendigerweise die anderen bitten. Das soll nicht heißen, dass ich die Rolle der menschlichen und christlichen Gemeinschaft bei der Weitergabe des Glaubens und der sakramentalen Begegnung mit Christus geringschätze. Das eine schließt das andere nicht aus. Die Heiligung ist gewiss kein individualistisches Unternehmen, aber ebenso wenig ist es von einem Kollektiv anzugehen. Die Begegnung unter Menschen spielt eine wichtige Rolle dabei, allerdings gibt es keine feste Regelung, eine „magische Formel“ wie bei einem menschlichen Unternehmen © , die alles lösen könnte. Nicht einmal die Kirche kann und darf sich einer solchen menschlichen Unternehmung annähern. denn es ist Gott, der Sein Reich erbaut.

5. Ich habe schließlich den Eindruck, dass unsere Zeit an der Schwelle einer spirituelleren Auffassung des kirchlichen Lebens ist, das deshalb die Aufgabe der Heiligung zu etwas sehr Persönlichem macht – das ist aber nicht gleichbedeutend mit individualistisch. Nur Christus ist der Weg, wir finden keinen anderen. Wir müssen uns orientieren, um Christus zu begegnen, aber wir dürfen Ihn nicht durch einen Götzen irdischer Bauart ersetzen. Ein institutioneller Kollektivismus ist letztlich materialistisch, eine leblose Organisation, Menschenwerk, das das Wirken Gottes zu verzwecken trachtet. Und letztlich sind sie auch eine Gelegenheit für menschliche Machtgier, unter dieser Maske ihren kontrollsüchtigen Totalitarismus auszuleben, der hinter der Fassade von Frömmigkeit und Religion blüht und gedeiht; sie bilden einen Schutzwall und zugleich ein Sprungbrett für menschliche Ambitionen und unerträglichen Missbrauch.

Die Institutionen der Zukunft werden im Dienst der Personen stehen müssen, keine totalitären Konstrukte, die die Personen sich entfremden und sie für ihre eigenen Zwecke missbrauchen, indem sie das als Hingabe an Gott darstellen. Und in diesem Sinne  gilt es auch daran zu denken, dass diese kritischen Überlegungen auch der Hoffnung dienen, denn wenn man vorankommen will, muss man notwendigerweise auch das korrigieren, was schlecht  ist und das, was nicht funktioniert. Wenn dies nämlich  nicht der Fall  ist, bleiben wir ewig in unseren alten Irrtümern stecken und einem falschen Bild der Wirklichkeit verhaftet. Vielleicht ist dies der positivste Aspekt der Kritik, dass sie erst den Ausweg zu besseren Möglichkeiten erschließt.

Wenn wir an die Erfahrungen denken, die viele von uns mit der Institution „Opus Dei“ gemacht haben, so deshalb, weil wir meiner Meinung nach den mehr oder weniger latenten, tiefen Wunsch nach der Einheit mit Gott verspüren. Diese Sehnsüchte wurden betrügerisch missbraucht, wie in einem kafkaesken Albtraum, aus dem wir hochschraken, als wir das wahre Wesen des Opus Dei erkannten. Aber Gott ist größer als jede menschliche Manipulation, und er ruft uns weiter zu einem Leben der Liebe, nunmehr ohne jene künstlichen menschlichen „Vermittler“, die uns zum Anstoß geworden sind.

Die Kirche wird auch im neuen Millennium aus lebenden Steinen erbaut, das sind wir alle und die übrigen Menschen. Deshalb müssen wir all diese negativen Erfahrungen überwinden und uns auf die Kräfte der Persönlichkeit stützen, dürfen die unverzichtbaren Hoffnungen eines großen Herzens nicht beiseiteschieben. Wir brauchen eine neue Spiritualität, die auf einer neuen Theologie, auf einem vernünftigen Bild vom Menschen aufbaut, und eine wahre Brüderlichkeit, ohne Vorgesetzte, die das Wirken Gottes im Einzelnen blockieren – wir brauchen nichts mehr und nichts anderes als das, was uns die Kirche selbst ohnedies bietet. — Wir haben es zweifellos nötig, einander zu unterstützen, vor allem aber müssen wir jene Brüderlichkeit leben, die der Heilige Geist in uns entstehen lässt. Lassen wir es also zu, dass der Heilige Geist uns weiterhin vereint und dass wir die Freude an einem tiefen christlichen Leben nicht verlieren.

Marcus Tank