Merlin:  Wenn  dir  deine  Eltern  die  Kindheit  rauben 

 

Lieber  joseyluis,  meine Eltern sind Supernumerarier, auch drei meiner Geschwister sind vom opus, wenn auch weder die Eltern noch die Geschwister uns etwas davon gesagt haben, dass sie vom Werk sind. Die meisten von uns Geschwistern „verstanden“ das Werk nicht, und vielleicht haben sie deshalb nicht darüber gesprochen, nicht einmal in Andeutungen.

Dass meine Eltern vom Werk sind, weiß ich deshalb so sicher, weil sie es mir gesagt haben, allerdings nicht uns Kindern (zumindest denen, die ihren Glauben nicht teilten und den Netzen entkamen, die sie ausgespannt hatten) – wir erfuhren es aus der Zeitung. Meinen Papa machten sie zum Vorzeigevater, einen Heiligen des opus, und ich denke, das war der Grund, warum er an die Öffentlichkeit gegangen ist und sich outete, als Mitglied des opus, das nichts zu verbergen hat. 

 

Und in Wahrheit gibt es viel zu verbergen… 

 

Wir haben unter dem Druck zuhause gelitten: Ich erinnere mich voller Hass an die verpflichtenden Rosenkränze,  den Streit ums Fernsehen, dass wir nachts durchs Fenster klettern mussten (wir hatten niemals einen Haustorschlüssel), da wir nach zehn nicht mehr draußen sein durften (es war eine magische Zahl; ich habe mir immer eingebildet, dass sich die Straßen nach zehn Uhr mit Faunen und Schurken bevölkern), das Gerangel, damit wir aufstehen, das Gerangel an der Badezimmertür, damit wir endlich fertigmachen. Im Sommer mussten wir in ihre Indoktrinierungscamps und angebliche Sprachkurse im Ausland, in die sogenannten Clubs, wo viel ältere Kerle durch Gehirnwäsche Numerarier aus uns machen wollten – ein ungleicher Kampf.

Ich erinnere mich an die erschütternden Dramen, die sich abspielten, wenn im Kasten einer meiner Schwestern ein Minirock gefunden wurde; sie durften nicht einmal Hosen anziehen, und der Kleiderkasten war regelmäßigen Kontrollen durch die Mutter unterworfen.

Und Knaben belästigten sie mit Andeutungen darüber, uns nicht zu berühren, nicht länger als nötig im Bad zu bleiben (auch die Zeit fürs Klo war beschränkt), rasch zu duschen, kein bad zu nehmen, immer sofort aufzustehen –sogar der Pyjama war Anlass zur Sünde. Alles, was auch nur im Entferntesten mit Sex zu tun hatte, war  pfui  und  gack.

Ich erinnere mich, dass ich heimlich aufgestanden bin, wenn alle schliefen (zumindest jeder in seinem Zimmer eingesperrt) und den Fernseher aufgedreht habe, um mir die bösen Filme anzusehen, die nicht jugendfrei waren. Gott hat mir geholfen, sie haben mich nie erwischt.

Zu meinen Geschwistern hatte ich niemals eine herzliche Beziehung, wir lebten wie im Belagerungszustand, jeder für sich und im Abwehrkampf gegen das Opus, und andere begaben sich in die Höhle des Löwen und bekamen dafür Zustimmung und Applaus von Seiten der Eltern. Meine Geschwister, die Numerarier waren – sie selber sprachen niemals davon – gingen davon, wohnten und studierten in Häusern des opus, und wir hatten keinen Kontakt mehr zu ihnen, nicht einmal zu Weihnachten, einer anderen grauenvollen Zeit, mit endlosen Rosenkränzen, Krippen, Messen in Häusern des opus und Angriffe von allen Seiten wurden durch das gute Essen nicht aufgewogen, das nach 20 Minuten vorbei war.

Wir Geschwister, die das Werk nicht „verstanden“, gingen so früh wir möglich von zuhause weg, und unsere Eltern kümmerten sich nicht mehr für uns. Ihre Anrufe und Bemühungen waren immer von ihren Prioritäten bestimmt, vom Druck, dass wir unsere Kinder taufen lassen (von den Enkeln rede ich nicht; sie waren nie in der Rolle von Großeltern, weil sie auch schon keine richtigen Eltern gewesen waren), dass wir sie zur Erstkommunion schicken, an die einschlägigen Privatschulen, niemals war Ruhe in dieser Beziehung. Sie waren im Besitz der Wahrheit, voller Fanatismus und Gruppenstolz. Wenn sie sich niederknieten und einen Fremden Vater nannten, so war das keine Demut, wenn sie sich erniedrigten, sammelten sie nur die Kraft, um auf Bekannte und Unbekannte loszugehen, vor allem auf die eigene Familie.

Niemals interessierten sie sich für irgendetwas, das nichts mit dem geistlichen Leben zu tun hatte. Es gab nur wenige Gelegenheiten, bei denen mein Vater mich reif und mit mir reden wollte, und im Lauf des Gesprächs überfiel mich dann immer ein sehr ungutes Gefühl, weil es immer nur darauf hinauslief, dass er mir seine Glaubensüberzeugungen, die nicht die meinen waren, einimpfen wollte. Aus diesen Gründen sind mir meine Eltern immer fremd gewesen; sie lebten nur für die höhere Ehre des opus dei, und was sie taten, geschah immer aus Berechnung, um seinen Zielen zu dienen; sie behandelten uns ohne Liebe, Respekt oder Rücksicht. Wenn ich sie beispielsweise auf der Straße sehe (auch manche meiner Geschwister machen das), wechsele ich die Seite.

Vom Lauf der Jahre blieb schließlich nur eine unendliche Traurigkeit, das Gefühl, vergewaltigt und ausgeraubt worden zu sein, keine Kindheit gehabt zu haben, keine Eltern, keine Familie. Ich weiß, dass es nicht immer so ist, ich habe von Kindern von Supernumerariern gehört, dass sie sich geliebt und angenommen gefühlt haben; bei mir war das leider nicht der Fall.

Das Geld ist eine andere Geschichte. ich werde sie ein andermal erzählen.

Merlin