José María Escrivá Albás: Einige historische Probleme

Jaume García Moles

 

12/07/2013

 

16. Beitrag:

4. Kap.: IM SEMINAR VOM SARAGOSSA

DIE IMMATRIKULATION IN DAS SEMINAR VON SARAGOSSA

EINFÜHRUNG

Die grundsätzliche Frage, die wir in diesem Kapitel behandeln, ist die Krise in der Priesterberufung, die Escrivá während seines Aufenthalts im Seminar San Francisco de Paula in Saragossa durchmachte, oder vielmehr in irgendeinem Moment zwischen Oktober 1920 und März 1925. Dass es eine solche Krise gegeben hat, ist bekannt, weil Escrivá zumindest bei zwei Gelegenheiten davon gesprochen hat, aber es gibt keine genauen Daten, sodass man Zeit und Gründe angeben könnte. Man weiß nicht einmal mit absoluter Sicherheit, ob es nur eine Krise gab.

Die Hagiographen geben sich große Mühe uns davon zu überzeugen, dass diese Krise im Sommer 1921 stattfand und dass sie mit dem ärgerlichen menschlichen Umgang unter den Seminaristen zu tun gehabt habe, und mit der ungerechten Meinung, die sich der Rektor des Seminars über ihn gebildet habe. Besonders bemühen sie sich glaubhaft zu machen, dass die Jura-Studien nichts mit dieser Krise zu tun gehabt hätten.

Mir kommt es ganz im Gegenteil so vor, dass man nachweisen könne, dass diese Geschichte falsch ist, aus verschiedenen Gründen, von denen das Knäuel unbegründeter Behauptungen nicht der geringste ist, mit denen inexistente, erfundene, ja widersprüchliche und manchmal lächerliche angebliche Ursachen gestützt werden sollen. Wir werden sehen, dass diese Krise mit viel größerer Wahrscheinlichkeit im Sommer 1923 geschehen ist und innig mit dem Jura-Studium zusammen hängt; das erlaubt auch eine Reihe ungeklärter Punkte zu erhellen, ohne dass man eine niedrige Intrige des Onkels, des Archidiakons, mit der diözesanen Kurie unterstellen müsste.

Wie wir sehen werden, erschöpft die Arbeit, die Konstruktion der Hagiographen nachzuvollziehen. Aber ich denke, man muss sich dieser Aufgabe in jedem Fall stellen, mit allen Mitteln und mit Sperrfeuer. Deshalb habe ich die Aufgabe wie folgt aufgeteilt:

1. Escrivá bat seinen Ordinarius nicht vor 1927 um die vorab erforderliche Erlaubnis, ein ziviles Studium zu beginnen.

2. Die angebliche Berufungskrise im Sommer 1921 ist eine Erfindung der Hagiographen, die keine reale Basis hat.

3. Skizzen über das Ambiente des Seminars, das Verhalten Escrivás, die Meinung seiner Vorgesetzten über ihn, vor allem die Kardinal Soldevilas.

4. Die Krise vom Sommer 1923. Jura-Studien.

ESCRIVÁ HATTE VOR  1927 KEINE ERLAUBNIS ZU ZIVILEN STUDIEN

Wie ich schon oben gezeigt habe, liest man im Decretum circa clericorum frequentiam in laicis Universitatibus der Konsistorialkongregation (der heutigen Kongregation für die Bischöfe), das in den Acta Apostolicae Sedis 10[1918], S.237-238 publiziert ist:

„Nemo de sacro clero laicas Universitatum facultates frequentare potest ibique profana quaevis studia peragere, nisi de Episcopi sui voluntate vel beneplácito.“ – Also: Kein Kleriker darf eine weltliche Universität besuchen oder an ihr irgendwelche Studienzweige studieren ohne die ausdrückliche Erlaubnis und die Zustimmung seines Bischofs”. Wie ich bereits gesagt habe, wurde dieses Dekret im Amtsblatt der Diözese von Calahorra aus 1918 veröffentlicht, so wie in der Diözese von Saragossa im Frühjahr 1920.

Escrivá begann seine zivilen Jura- Studien in Saragossa im Oktober 1923, dem Monat, in dem er sich als freier Hörer immatrikulierte und zwei Prüfungen zur Einführung in das Jurastudium bestand, in Philosophie und Literatur. Damals war er fünf Jahre im Seminar und war Kleriker mit den niederen Weihen seit dem 21. Dezember 1922. Außerdem setzte er seine zivilen Studien bis 1927 fort, ohne dass im Erzbischöflichen Dekretenbuch („Libro de Decretos Arzobispales“) die hierzu notwendige Erlaubnis aufscheint.. Die erste Erlaubnis erhielt er auf seinen Antrag hin am 17. März 1927, um zu Studienzwecken für zwei Jahre nach Madrid zu gehen. Niemand konnte bisher ein Dokument mit einem früheren Datum vorlegen.

Die Verpflichtung, für Studien die Erlaubnis einzuholen, war damals noch in Kraft, das zeigen die Erzbischöflichen Dekretalien, die für die Zeit des Aufenthalts Escrivás in Saragossa ziemlich häufig Erlaubnisse dieser Art verzeichnen: für die Hochschulreife, für das Lehramtsstudium, für Kanonisches Recht etc. So erhielt beispielsweise der Seminarist und Freund Escrivás, Sebastián Cirac, 1922 die Erlaubnis, sich auf die Reifeprüfung vorzubereiten. Man muss auch anmerken, dass wir in diesen Büchern zumindest zwei Ablehnungen von Anträgen gefunden haben. So können wir uns sicher sein, dass er weder um die Erlaubnis gebeten hatte noch dass es ihm nach seinem Eintritt in das Seminar in Saragossa gestattet worden war, zivile Studien zu betreiben, bis kurz vor seine Abreise nach Madrid, als ihm für zwei Jahre die Erlaubnis erteilt wurde. zu Studienzwecken nach Madrid zu gehen (Libro de Decretos Arzobis­pales,  S. 120, Nr. 1813, 16/03/1927). Tatsächlich gibt es in den zitierten „Libros de Decretos“ keinen Eintrag einer Erlaubnis Escrivá, zivile Studien zu betreiben, aber auch keinen abschlägigen Bescheid, bis zu dem erwähnten März 1927. Das erkennt Herrando an1.

ERKLÄRUNGEN EINIGER HAGIOGRAPHEN

Andrés Vázquez de Prada2, legt, gestützt auf verschiedene Vermutungen, die folgende Hypothese vor:

Im  Juni 1923 absolvierte er die Prüfungen des vierten theologischen Studienjahres mit sehr guten Noten und beendete damit sein Studium an der Päpstlichen Universität für die Erlangung des Lizentiats. Das war nun der geeignete Zeitpunkt, sein ziviles Studium aufzunehmen, wie er er sich vorgenommen hatte, als er das Seminar in Logroño verließ,  um sein Studium in Saragossa abzuschließen. Der Umzug und das Jurastudium in Saragossa erforderten die implizite [Dieses Wort fehlt bezeichnenderweise in der deutschen Übersetzung!] Zustimmung des Bischofs von Calahorra und La Calzada. Seit Leo XIII .erteilten die Bischöfe Klerikern die Erlaubnis (bzw. Ablehnung, an weltlichen Universitäten zu studieren. Kurz zuvor, am 30. April 1918, waren von der Bischofskongregation Normen erlassen worden, um den „großen Gefahren vorzubeugen, di, wie eine lange traurige Erfahrung zeigt, die Treue zur Lehre der Kirche und die Heiligkeit der Priester bedrohen, die an diesen Universitäten studieren.“

Der Kardinal Soldevila, der vollstes Vertrauen in die Treue Josemarías zu seiner priesterlichen Berufung und die doktrinelle Sicherheit seiner Überzeugungen hatte, hatte ihm die notwendige Erlaubnis erteilt.  

Das erste, was an diesem Text von Vázquez zu kommentieren ist: Er möchte den Leser glauben machen, dass Escrivá seine theologischen Studien bereits beendet haben soll, als er sich für Jura immatrikulierte.  Sicher ist, dass ihm für die Weihe an diesem Seminar noch das fünfte theologische Studienjahr fehlte, das er 1923-24 absolvierte und bei dem er in drei Fächern  meritissimus erhielt.

ich habe bereits im vorigen Kapitel über die Manipulation gesprochen, die in dem folgenden Satz liegt: Das war nun der geeignete Zeitpunkt, sein ziviles Studium aufzunehmen, wie er er sich vorgenommen hatte, als er das Seminar in Logroño verließ,  um sein Studium in Saragossa abzuschließen. Das ist so plump, dass man es nur ignorieren kann.

Was die implizite Erlaubnis des Bischofs von Calahorra betrifft, irrt sich Vázquez, indem er diese Bischof die Kompetenz zumisst, die Erlaubnis zu erteilen (vgl. Rocca3), weil, wie wir bereits gesagt haben, feststeht, dass er  mit Juli 1920 vom  Kardinal Soldevila in die Erzdiözese Saragossa eingeschrieben wurde (der frühere Ausdruck war inkardiniert), wie wir bereits gesehen haben4. Woher hat Vázquez andererseits den Gedanken her, dass Escrivá bei der Bitte um die Exkardinierung von Calahorra sein Wunsch angeschlossen habe, Jura zu studieren, wo wir doch bereits gesehen haben, dass das Ansuchen um Exkardinierung keinerlei Begründung aufweist? Deshalb ist die „implizite Erlaubnis“ des Bischofs von Calahorra reine Phantasie, um es noch freundlich zu sagen.

Schließlich scheinen Vázquez (bzw. die Positio) nicht sehr überzeugt von dieser mutmaßlichen Erlaubnis des Bischof von Calahorra zu sein, und schließt mit der Behauptung, der Kardinal habe ihm die notwendige Erlaubnis erteilt. Zu diesem Zweck zitiert Vázquez hier 5 Zeugnisse von Msgr. Peralta, von Msgr. López Ortiz und von Javier de Ayala. Sie haben wenig Gewicht, denn Vázquez verrät uns nicht, wann sie geschrieben seien, und auch wenn man die freundlichste Variante annimmt, dass sie wahr und nicht von Interviewer manipuliert worden seien, muss man doch annehmen, dass sie lediglich dem entsprechen, was Escrivá ihnen erzählt hatte, teils absichtlich, weil er beschuldigt wurde, diese Erlaubnis nicht eingeholt zu haben. Andererseits versichert Msgr. Peralta in seinem Zeugnis, dass diese Studien damals eher unüblich waren und dass sie nur ausnahmsweise geährt wurden, ein weiterer Grund, dass Kardinal Soldevila diese Erlaubnis, wenn überhaupt, dann schriftlich erteilt haben dürfte. Überdies immatrikulierte sich Escrivá an der Universität von Saragossa, als Kardinal Soldevila bereits ermordet worden war, sodass Escrivá die Existenz dieser angeblichen Erlaubnis nicht mehr beweisen konnte. Andererseits steht für uns nach der aufmerksamen Durchsicht der Dekrete dieser Erzbischöflichen Amtszeit fest, dass diese Erlaubnise mit minuziöser Sorgfalt registriert worden waren, und man sieht eindeutig, dass sie immer schriftlich erteilt worden waren. Und wenn sich unter den Papieren Escrivás eine solche Erlaubnis gefunden hätte, so hätten sie seine Hagiographen gewiss triumphierend vorgewiesen.

Diese Hypothese ist so unwahrscheinlich, dass die Ramón Herrando6 außer Acht lässt, ohne ihr die mindeste Aufmerksamkeit zu schenken (Ich  nehme es als ausgemacht an, dass Herrando das Buch von Vázquez gekannt hat). Im Gegenteil, Herrando versichert, dass er diese Erlaubnis nicht einmal erbeten hatte.  Aber dann merkt er, dass der Ruf seines Helden damit in Gefahr ist, und beginnt eine ebenso plumpe wie abwegige Manipulation. Zunächst formuliert es es so, dass man es nicht für eine Hypothese halten soll, sondern ob Fakten geschildert würden, die wohlbekannt und überprüft wären. Er beginnt so7:

Nach der Ermordung Kardinal Soldevilas, im Juni  1923, und nachdem  der Vikar Kapitular José Pellicerdie Leitung der  Erzdiözese  Saragossa übernommen hatte, wurde für die Theologiestudenten das bisherige Kriterium erweitert, das bisher gültig war, dass nämlich von den Klerikern  nur bereits geweihte Priester universitäre Studien betreiben durften (*). Es steht fest, dass zumindest drei Zöglinge des  Conciliar-Seminars diese Maßnahme nutzten: Epifanio Lorda Roig (…), José Iribarren Pérez (…) y David Mainar Pérez (…).Die drei erhielten im Juni gute Noten an der Juridischen Fakultät.

Ich beginne mit dem vagen Ausdruck „erweitert“ (ampliado) – Wer hat das gemacht? Der Heilige Stuhl? Der Vikar durch ein Dekret? Ist das durch irgendein Dokument belegt? Oder soll das heißen, dass der Vikar von da an ein Auge zudrückte? Wie soll man, in diesem Fall, wissen?

Es ist nicht glaubwürdig, dass diese Wandlung offiziell geschehen sein soll: Es hieße einer Entscheidung des Heiligen Stuhl, und sede vacante nihil innovetur, heißt es in Canon 436 des CIC, der damals in Kraft war, mit genauem Bezug auf die damalige Situation einer Vakanz eines Bischofssitzes, während der keine Neuerungen getroffen werden sollen.  Und tatsächlich habe ich im Amtsblatt der Erzdiözese Saragossa während der Zeit, als Don José Pellicer die Erzdiözese leitete, und nirgends ein Dekret des Heiligen Stuhls oder des Vikars gefunden, das diese Maßnahme promulgiert hätte, wie Herrando es genannt hatte, um der Ausgeburt seiner Phantasie einen seriösen Anstrich zu geben.

Nun, wenn die drei Zöglinge etwas nutzten, dann musste es  etwas sehr Ätherisches sein, denn es  hinterließ keiner lei Spur in den Erzbischöflichen Dekretalien, zumindest in den Jahren vor 1925: Keiner der drei erhielt eine Erlaubnis für irgendwelche zivilen Studien. Andererseits habe ich die Amtsblätter dieser Diözese von 1924, 1925, 1926, 1927, 1928 und 1929, durchgesehen, um herauszufinden, ob irgendeiner dieser Herren die Niederen oder die Höheren Weihen empfangen hatte. Und das ist nicht der Fall, kein einziger dieser drei hatte die Tonsur. Aber mehr noch, Herrando selbst erwähnt David Mainar Pérez, von dem er versichert, bevor er sein Zeugnis zitiert8: Er trat 1920 in das  Conciliar-Seminarein  (…). Drei Jahre später brach er die kirchlichen Studien ab und begann ein Jura-Studium an der Universität von  Saragossa. Wie konnte er Ende 1923 die Möglichkeit nutzen, wenn er weder Kleriker noch Seminarist war? Von den anderen wissen wir nicht, ob sie aus dem Seminar ausgestoßen worden sind, weil sie zivile Studien betrieben; ob sie, entgegen dem Sinn des zitierten Dekrets, Jura studierten und so ihren Aufenthalt im Seminar ausnützten, das für sie ja wie ein vollkommenes Stipendium war; ob sie die Berufung durch die Ansteckung mit weltlichen Dingen verloren haben, wie es das Dekret des Heiligen Stuhls es befürchtet hat; oder ob es schließlich andere Gründe gegeben haben mag. Kurz, es scheint nicht, dass diese Gruppe von drei Seminaristen ein passendes Beispiel böte, mit dem man das Verhalten Escrivá decken könnte: Keiner von ihnen wurde geweiht, keiner bat den Bischof von Saragossa um Erlaubnis für zivile Studien, du es ist möglich, dass sie sich in Jura immatrikulierten, weil sie das Seminar verlassen hatten, wie es zumindest bei Mainar der Fall war.

In jedem Fall hängt die Behauptung, das Kriterium sei erweitert worden, in der Luft, denn Herrando hat keinerlei Beweis für diese angebliche Ausdehnung des Kriteriums. Diese postulierte Maßnahme zeigt nur seine verzweifelte Lage als Hagiograph, die ihn dazu treibt, völlig unverschämt zu manipulieren. Das lässt sich jedenfalls aus Folgendem schließen:

Escrivá führte seine zivilen Studien aus Jura durch, während er Seminarist war und nachdem er die Niederen Weihen erhalten hatte, ohne die vorgeschriebene Erlaubnis seines Ordinarius von Saragossa, zumindest bis 1927.

Mit der Manipulation Herrandos bin ich nicht fertig, denn er schreibt auf derselben Seite Folgendes:

Zweifellos musste  Josemaría in der Ausweitung des Kriteriums, wie sie unter  Kardinal Soldevila gültig war – denn so war er gehindert Jura zu studieren, als er sich 1920 an der Päpstlichen Universität inkorporierte – die Möglichkeit sehen, sofort sein altes Projekt wieder aufzunehmen. Er konnte jetzt den  Vikar bitten sich im  Oktober  1923 zu immatrikulieren  (…) allerdings tat er es nicht.

Herrando stützt sich also auf seine Phantasie von der Erweiterung des gültigen Kriteriums, schmückt die Geschichte ein bisschen aus und amcht sie an der Person des Vikars fest, und im Übrigen versichert er uns, dass Kardinal Soldevila im Einklang mit den Kriterien des Heiligen Stuhls zivile Studien durch Kleriker, die noch nicht die Priesterweihe hatten, verboten hat, zumindest von 1920 bis zu seinem Tod im Juni 1923, das heißt, seine Phantasie führt ihn  dazu zu dementieren, dass Escrivá eine Erlaubnis von Soldevila erhalten haben soll.

Deshalb glaube ich, dass wir unsere Aufmerksamkeit wieder den drei Zeugen zuwenden sollen, die Vázquez zitiert, die versichern, von Escrivá gehört zu haben, dass ihm der Kardinal Soldevila diese Erlaubnis gegeben habe. Indirekt bestätigen uns diese drei Zeugen, dass sich Escrivá der Notwendigkeit bewusst war, seinen Ordinarius wegen dieser Studien um Erlaubnis zu bitten. Aber umso mehr fällt mir auf, dass Herrando, der einige Jahre nach Vázquez geschrieben hat, nicht diese drei zeugen anführt, die Vázquez (und deshalb die Positio) hinsichtlich der Erlaubnis von Seiten Soldevilas bieten; das heißt einfach, dass Escrivá nicht um diese Erlaubnis angesucht habe; und darüber hinaus versichert er, dass Soldevila sie gewiss nicht gewährt hat. Es ist so, als würde er zugeben, dass für ihn der Wert dieser Zeugen gleich null ist. Das heißt aber nichts anderes, als dass er – und darin sind wir uns einig – Zeugen misstraut, die nach fünfzig oder mehr Jahren, während sie selbst schon über 75 Jahre alt sind, von Dingen sprechen, über die sie von einer berühmten Person informiert worden waren. Dann ist es allerdings nicht schwer, den Interviewten zu beeinflussen und ihn an Ereignisse aus dem Leben Escrivás zu „erinnern“, indem man ihnen maschingeschriebene Zeugnisse hinlegt und sie dann unterschreiben lässt. Man gestatte also auch mir, Herrando nachzuahmen und einen gesunden Skeptizismus angesichts der Legenda aurea zu wahren, die die Positio und die  Hagiographen aus der Umgebung Escrivás konstruieren.

Allerdings gibt es einige Wahrscheinlichkeit, dass sie das tatsächlich so gesagt haben, und dass es wahr ist in dem Sinn, dass sie es so von Escrivá gehört haben. Ich kann mir leicht vorstellen, dass bei den häufigen Gesprächen, die – nach Vázquez -  Escrivá mit dem Kardinal Soldevila führte, ihn über seine Wünsche und seine Pläne nach der Weihe befragt und ihm zu verstehen gegeben habe, dass er  gern mit ihm gerechnet hätte, um ihn auf einen Vertrauensposten zu setzen. So wurde nichts aus dem Vorhaben, und als Soldevila tot war , und aus Gründen, die wir unten noch genauer studieren werden, sah Escrivá dieses Gespräch wie ein Omen, eine Fingerzeig dessen, was Gott in der Zukunft von ihm haben wolle, und er interpretierte das als ein stillschweigendes Versprechen, ein Teichen vom Himmel, das ihn von der Verpflichtung ausnahm, die für alle anderen galt; schriftlich um Erlaubnis zu bitten. Und diese Überzeugung setzte sich fort, sodass er ihm Lauf der Jahre denen, die ihn fragten, mitteilte, er habe die Erlaubnis mündlich vom Kardinal Soldevila erhalten. Das könnte zu einer beginnenden Persönlichkeitsstörung Escrivás passen, die ihn dazu brachte, die Wirklichkeit seinen Bedürfnissen anzupassen. Angesichts der Lüge, mit der er immer sein erstes Zusammentreffen mit S. Sánchez Ruiz schilderte, können wir nicht ausschließen, dass er auch die Erteilung dieser Erlaubnis erlogen hatte.

Tatsächlich konnte er den Kardinal formell um Erlaubnis gebeten gaben, wenn er sich sicher war, dass er sie erhalten würde; oder wenn von mir aus den Vikar nach dem Tod des Kardinals. Aber es tat es nicht, und im Verlauf des Kapitels werden wir auch sehen, warum.

An sich wäre die Sache damit erledigt, versuchte nicht Herrando uns ständig seine abwegige Erfindung ins Hirn zu hämmern, denn er beginnt den nächsten Abschnitt9 mit diesen Worten: Indem er die neuen Anordnungen des  Vikars annahm, konnte [Escrivá] ohne Probleme an die Vorbereitung der verschiedenen juristischen Materien gehen. Herrando hat sein eigenes Phantasiegebilde geglaubt und hat die nötige Sicherheit aufgebaut, um ganz unbedenklich dem Vikar nicht nur eine Maßregel, sondern die neuen Anordnungen zu unterstellen.

Kurz und gut, die offenkundige Haltlosigkeit der Rekonstruktion Herrandos führt mich zu der Gewissheit, dass  diese dunkle Angelegenheiten die Prälatur ziemlich beschäftigen. Es sind schon fünf: das Problem mit dem Priester X; die Ungültigkeit seiner Inkardination in Saragossa, weil er sich falscher Dokumente bediente; der mutmaßliche Eidbruch hinsichtlich seines Bleibens in Calahorra; der Beginn ziviler Studien ohne Erlaubnis seines Ordinarius; und die mögliche fortgesetzte Lüge, dass ihm diese Erlaubnis gegeben worden sein solle.

Jaume García Moles

(wird fortgesetzt)

1 Ramón Herrando Prat de la Riba, Los años de Seminar de Josemaría Escrivá en Saragossa (1920-1925), Rialp, Madrid 2002,  S. 218.

2 Andrés Vázquez de Prada, El Fundador del Opus Dei, Bd. I, 6. Aufl. Rialp, Madrid 2001, S. 166-167 (deutsche Übersetzung: S. 161).

3 Giancarlo Rocca, Los Studien académicos de San Josemaría Escrivá y Albás, Claretianum vol. 49, 2009.

4 Das sage ich in der Annahme, dass er damals tatsächlich schon von Saragossa, abging, was nicht sicher ist, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich für seine Exkardinierung unlau­terer Mittel bediente, wie wir bereits wissen. Wenn er noch nicht zur Diözese Saragossa gehörte, dann deshalb, weil sie ihm in Calahorra den Wechsel verweigert haben und er deshalb die Erlaubnis notwendiger brauchte. Auf jeden Fall muss man, wenn man die moralische Qualität der Handlungen Escrivás in Betracht ziehen will, annehmen, dass er sich selbst, subjektiv, von diesem Moment an als Angehörigen der Diözese Saragossa betrachtete. Sollte sich Escrivá hingegen noch als Calahorra zugehörig gefühlt haben, müssen wir sein Verhalten als eine unglaubliche Frechheit werten.

5 S. o., Anm. 122, S. 167.

6 S. o., S. 218.

7 S. o., S. 217. In Anm. 21 sagt Herrando, dass diese Behauptungen  auf einem Artikel der Zeitschrift Nuestro Apostolado vom 29. Juni 1924 beruhen, der sich auf Qualifikationen bezieht, die diese jungen Menschen beim Prüfungstermin im Juni 1924 an der Universität von Saragossa erworben haben. Wenn diese jungen Leute außerdem nach dem Tod des Kardinals die neuen Möglichkeiten genutzt haben sollen, musste das im folgenden Kurs sein, 1923-1924.

8 S. o., S. 349.

9 S. o., S. 218.

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