Atomito: Escrivá auf der Couch

24. 11. 2008


Man kann durch das Leben gehen und die Dinge oberflächlich betrachten, oder man kann nach tieferen Gründen forschen und über die äußeren Erscheinungen hinausgehen. So kann man sich etwa denken, wenn man sieht, wie ein Vater seinen Sohn schlägt: „Es ist ein schlechter, gewalttätiger Mensch“; man kann aber auch versuchen nachzuvollziehen, wie hier eine über den Tag hindurch aufgebaute, nicht bewusst gewordene und vor allem nicht aufgearbeitete Aggressivität durchbricht, die sich etwa gegenüber dem eigenen Chef, der sie verursacht hat, nicht äußern durfte. Der Vater dürfte sich dessen nicht bewusst sein; er selber hat vielleicht nur die Erziehungsmängel seines Kindes vor Augen. Das nennen die Psychologen eine Rationalisierung; eine Handlung, die unbewusste Motive in sich birgt, wird rational zu erklären versucht. Das Ergebnis der Handlung wird sich nicht ändern, wenn man dieses Missverständnis aufzuklären versucht, man wird allerdings mehr Verständnis aufbringen können.

So kann man auf dieser Webseite jede Woche Anklagen über das Opus Dei lesen, die man auf einer oberflächlichen Ebene analysieren könnte, oder man könnte den Dingen auf den Grund gehen. Wenn man an der Oberfläche bleibt, erscheinen die hier geschilderten Angelegenheiten paradox, ja geradezu absurd; zum Beispiel begegnet man hier der Tatsache, dass es im Werk sehr gute Menschen gibt, die mit gutem Willen handeln und dennoch Schaden anrichten, indem sie junge Menschen für eine Sekte anwerben, die unzweifelhaft ihr Leben zerstören wird. Man könnte auf einer oberflächlichen Ebene bleiben und sagen, dass „das Werk eine schlimme Sache ist“, „alles, was sie sagen, ist eine Lüge“, etc., oder man kann tiefer gehen und Erklärungen suchen, die Licht auf die offenkundigen Paradoxien werfen können...

Wie in dem Beispiel mit dem prügelnden Vater kann man allerdings auch versuchen, zu einem tieferen Verständnis eines komplexen menschlichen Verhaltens zu kommen. Viele Dinge, die wir tun, tun wird aus einer unbewussten Motivation heraus, die man in Rechnung stellen muss. Wenn man uns fragt, warum wir etwas, werden wir offenkundig nicht die richtige Antwort geben, denn wir kennen nur die bewussten Motive. Wenn ein Psychologe einen Patienten behandelt, erhält er indirekt Informationen über das Unbewusste dieses Individuums (Ängste, Sehnsüchte, Fantasien etc.), indem er Träume analysiert, Projektionstests erstellt (den berühmten „Rorschach-Test“) und ähnliche Techniken anwendet. Das Studium des Unbewussten ist seiner Natur nach indirekt, und deshalb kann man etwas nie so leicht und mit Evidenz feststellen wie bei direkter Beobachtung. Aber deshalb ist es weder nutzlos noch unmöglich, bis zu einem gewissen Grad des Verstehens zu gelangen.

Um das Opus Dei zu verstehen (das bis in seine geringste Details von Escrivá strukturiert wurde und deshalb seine Persönlichkeit widerspiegelt), muss man die unbewussten Aspekte seines Gründers analysieren. Wen man bei dem stehen bleibt, was der Gründer gesagt oder getan hat und sich nicht mit seinen Ängsten, Wünschen, Fantasien und unbewussten Hassgefühlen beschäftigt, bleibt man an der Oberfläche und gelangt nicht zu den Wurzeln der Dinge.

Es geht um Escrivás Sexualität.


Wenn ich den Gedanken aufwerfe, dass Escrivá homosexuelle Neigungen hatte, gibt es viele Menschen, die das für einen Angriff auf seine Person halten. Sie argumentieren, das das nicht bewiesen sei, als ob es darum ginge, jemanden eines Verbrechens zu überführen. Offensichtlich verlangen sie als Beweisstück ein Foto oder eine Filmaufnahme, die Escrivá beim Ausführen einer homosexuellen Handlung zeigen, oder ein eigenhändigen Schriftstück von ihm, in dem er erklärt, dass ihm die Männer gefallen.

Nun, die Frage, ob Escrivá homosexuell, berührt in erster Linie weder eine Tugend noch einen Defekt. Es geht nicht darum, ihn schlecht zu machen oder seinem Ansehen zu schaden; ebenso wenig kann es darum gehen, sich aus fehlgeleiteter Neugierde um seinen Intimbereich zu bekümmern. Wenn meine Hypothese stimmt, so könnte seine nicht unterdrückte und verdrängte Homosexualität Licht auf ein Thema werfen, das häufig behandelt wird: die Fixiertheit des Opus Dei auf Sex, Reinheit, Masturbation, das Fleisch, die „Bewahrung des Blicks“ etc. Anstatt nun tonnenweise Informationen zu sammeln, wie sich Menschen des Opus Dei da und dort in diesem Sinn verhalten haben, erscheint es mir klüger, tiefer zu gehen und nicht bei Anekdoten stehenzubleiben. Es ist nicht meine Absicht, die Person Escrivás herabzusetzen oder mich über seinen möglichen Mangel an Männlichkeit lustig zu machen, sondern ich versuche eine begründete These darzustellen, die einen grundlegenden Aspekt der Mentalität des Opus zu verstehen.

Belege

Wie schon erwähnt, hier geht es nicht um ein Vergehen oder um ein moralisches Defizit. Wenn es ein Faktum gibt, über das kein Zweifel besteht, dann jenes, dass Escrivá seine sexuellen Neigungen unterdrückt hat, sodass wir nicht hoffen können, ihn etwa „in fraganti” zu erwischen oder ihn sich ausdrücklich darüber sich äußern zu hören.

Für mich ist es kennzeichnend, dass seine Kameraden im Seminar ihn „Rosa mystica“ nannten. Diese Anekdote wird selbst in der Hagiographie von Bernal erwähnt, und zwar nicht beiläufig; Escrivá selbst dürfte dies tief getroffen haben. Laut Bernal sagten sie es über ihn, weil er sauber und ordentlich war und die anderen „das nicht verstanden“. Aber wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten sie ihn „Mystiker“ nennen können, „Johannes vom Kreuz der Jüngere“, den „reinen Mystiker“, den „Ordnungsfanatiker“ … aber nicht Rosa mystica. Zweifellos hat der Begriff eine feminine Färbung, spielt auf einen Mangel an Männlichkeit an. Kinder und Jugendliche sind gewöhnlich grausam, ihre Bemerkungen sind manchmal sehr verletzend, und nicht entschuldigt die Verhaltensweise dieser Seminaristen. Aber diese Grausamkeit ändert nichts daran, dass sie sich an Charakterzügen orientierte, die wirklich vorhanden waren.

Nachdem ich mich schon einmal darüber geäußert hatte, dass manche Attitüden Escrivás, Redeweisen, Gesten, sein Interessen an Dekorationen feminin anmuteten, stimmten mir viele zu, dass er „zumindest seltsam“ war – auch das erscheint mir bedeutsam. Man kann mir Worten lügen, aber nur sehr schwer seine Gestik unter Kontrolle halten. Man kann sich bei der Interpretation der Körpersprache einer Person irren; aber bei Escrivá hatten viele die gleiche Auffassung…

Nun: Escrivá ist tot, und auch wenn er noch lebte, würde er sich niemals dazu herablassen, sich einem Test zu stellen oder Fragen spontan zu beantworten. „Unwiderlegbare“ wissenschaftliche Beweise können also nicht vorgelegt werden; aber Menschen, die sich nur mit “Beweisen” zufrieden geben, akzeptieren zweifellos Dinge, die viel weniger bewiesen sind oder die erwiesenermaßen falsch sind, wie etwa manche Passagen aus der Bibel. Deshalb zahlt es sich nicht aus, sie überzeugen zu wollen.

Escrivás sexuelle Fantasien

Ein auffälliges Detail in Escrivás Marienverehrung ist seine Vorstellung von einer hübschen, attraktiven Madonna, der er Komplimente wie ein Liebhaber macht, das er also in einer platonischen Liebe zu einer idealen Frau lebt, die er sich vorstellt. Ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ob es die Jungfrau Maria tatsächlich gibt und ob sie hübsch ist; das was, mich daran interessiert, ist Escrivás Vorstellung, und obwohl es in der Bibel keinen Hinweis darüber gibt, ob die Muttergottes hübsch, hässlich, groß oder klein ist, stellt Escrivá sie sich als jung und hübsch vor und lebt mit ihr in einer ödipalen Liebesbeziehung, die uns übers eine sexuellen Fantasien Aufschluss gibt. Escrivá hat niemals reale Erfahrungen mit Liebe, Sex oder Romantik gemacht, mit keiner Frau aus Fleisch und Blut. Seine Liebe zur Jungfrau Maria ist rein, kindlich, geschlechtslos, ohne fleischliche Begierde, sie ist für ihn zur gleichen zeit Mutter und Partnerin, er sagt ihr „verliebte Komplimente“, nicht nur die Komplimente eines Sohnes. Da dies also eine kindliche, ödipale Liebe ist, hat sie keinerlei genitale Komponente; sie betseht nur in der Fantasie, denn er hat die Jungfrau weder irgendwann gesehen noch berührt.

In der Psychologie spricht man von verschiedenen Phasen der kindlichen Sexualität, die Freud als oral, anal und genital bezeichnet hat. Wenn sich ein Individuum in einer neuen Phase nicht angemessen bestätigen kann, wendet es sich an die erfolgreich ausgeübten Praktiken einer früheren Phase zu; man nennt dies Regression. Ich bin kein Psychologe vom Fach, aber ich denke, dass diese infantilen ödipalen Fantasien Escrivás den Hinweis auf eine Regression geben, dass er also nicht in angemessener Weise seine psychosoziale Entwicklung ausgelebt hat.

Ich meine allerdings, dass der junge Escrivá in irgendeiner Phase seiner Entwicklung homosexuelle Neigungen verspürte. An dem Ort und in der Zeit, in der er aufwuchs, war das sehr schlecht angesehen, und da dies nach seiner traditionellen katholischen Bildung eine schwere Sünde war, unterdrückte Escrivá diese Sehnsüchte. Das Thema bereitete ihm immer eine große innere Unruhe, und die Strategie, diesem Thema zu begegnen, war, es ins Unterbewusste zu verbannen. Wie es immer geschieht, wenn jemand etwas unterdrückt, was er nicht verarbeiten kann, eine Sehnsucht, eine Angst oder Fantasie, so bricht es sich auf irgendeiner Seite Bahn. Im Allgemeinen geschieht dies in deformierter Form, indem das tatsächliche Objekt der Sehnsucht oder der Angst zu einem anderen Objekt sublimiert wird.

Mit der Entscheidung, Priester zu werden, löste Escrivá in gewisser Weise seine Konflikte. Er musste nicht mit Frauen ausgehen und nicht heiraten. Er konnte leben, umgeben von Männern, ohne dass das Verdacht erregte. Tatsächlich war er sein ganzes Leben lang von jungen attraktiven Männern umgeben. In den ersten Jahren des Opus, als er selbst noch jung war und das Opus aus einer Gruppe von Studenten bestand, war das nicht weiter auffällig. Aber als das Opus Tausende Mitglieder hatte und sich die hierarchische Struktur in vielen Verästelungen entfaltet hatte, hielt Escrivá weiterhin im Rahmen des Collegium Romanum Kontakt zu attraktive jungen Männern.

Die Beziehung Escrivás zu den Männern, mit denen er sich umgab, war nicht von der Art offenkundiger genitaler Homosexualität. Schlussendlich blieb Escrivá einer ödipalen kindlichen Entwicklungsstufe ohne Sex verhaftet; allerdings lassen gewisse Anekdoten aufhorchen, wie etwa die von jenem argentinischen Numerarier, der in einer der berühmten, verfilmten Tertulias zu Escrivá sagte, nachdem er gesagt hatte, dass seine Mutter gestorben sei: Nachdem ich jetzt niemanden mehr habe, der mich verwöhnt, möchte ich, dass Sie mich verwöhnen.“ Das ist dokumentiert, und obwohl Escrivá hier nicht handelt, sondern nur zuhört, ist es doch merkwürdig, dass er diese Art Gefühle bei einem achtzehnjährigen Numerarier hervorruft. Wie ich vorhin gesagt habe, die unterdrückten Impulse brechen sich irgendwo Bahn, sie kommen auf irgendeiner Seite heraus, verkleidet, verdreht, kompliziert, aber sie kommen ans Tageslicht. Und diese Vater-Sohn-Beziehung Escrivás zu jungen Numerariern erscheinen mir nicht normal und werden durch seine „Heiligkeit“ nicht erklärt, die die Verehrung durch seine „Söhne“ ausgelöst hätte.

Freud hatte Recht ...

Im Opus wollen sie von Freud natürlich nichts wissen. Sie halten ihn für sexuell pervertiert, weil er alles auf einen Geschlechtsinstinkt reduziert. Wenn man allerdings die Obsession betrachtet, mit der das Opus dem Sex gegenübersteht, die absolute Unterdrückung jedes fleischlichen Begehrens, muss man die Hellsichtigkeit Freuds allerdings wohl anerkennen.

Wenn der Sex eine solche Bedeutung annimmt, wenn jedes nicht unterdrückte sexuelle Begehren eine Sünde ist, wird das Leben eine Qual, voll von Schulbewusstsein und Skrupeln. Vor allem aber kann der betroffene Mensch wichtigeren Dingen keine Aufmerksamkeit mehr widmen, weil er völlig davon absorbiert ist, die Impulse des Arterhaltungstriebs zu unterdrücken. Sünden der Gerechtigkeit etwa, wie die, dass „nicht jedem das Seine“ gegeben wird, werden ihn nicht so sehr beschäftigen. Deshalb hat es im Opus Dei wenig Bedeutung, wenn die armen Auxiliar-Numerarierinnen wie Sklavinnen gehalten werden, und Escrivá hat das keine Gewissensbisse gemacht. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Impulse des Fleisches zu unterdrücken und nachzufragen, ob seine Söhne die heilige Reinheit lebten – als ob die heilige Reinheit das Siegel der Heiligkeit wäre. Ich erinnere m ich an eine Anekdote, die er sehr gerne wiederholte. In Zeiten der Verfolgung, als das Opus als eine maurerische Organisation verklagt worden war; der Richter, der die Untersuchung leitete, fragte: „Leben sie die Reinheit?“, und als ihm das bestätigt wurde, sprach er sie von der Anklage frei, denn er kannte keine keuschen Freimaurer. Tatsächlich, für ihn war die Form der Reinheit, die die Mitglieder des Opus lebten, das Siegel einer Heiligkeit, wie er sie verstand.

Atomito

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