Elisabeth de Baudouin: Religiöse Gemeinschaften und Machtmissbrauch
Die Autorin ist Journalistin und war Mitglied des Päpstlichen Rates für die Familie
Man spricht oft von sexuellem Missbrauch innerhalb der Kirche, allerdings sind solche Fälle oft auch mit Machtmissbrauch verbunden
Der Karmeliterpater François-Marie Léthel sprach bei dem jüngsten Kongress der Apostolischen Pönitenziarie über das Beichtgeheimnis (12 und 13. November 2014) über das Thema „Die Beichte und die geistliche Begleitung in der Heranbildung zum Priestertum und im Geweihten Leben“. Dieser Fachmann in der Theologie der Heiligen übte einen bedeutsamen Dienst in der geistlichen Begleitung aus und predigte bei zahlreichen Exerzitien, so im Jahr 2011 für Papst Benedikt XVI. und die Kurienkardinäle.
Deshalb kennt er auch viele religiöse Gemeinschaften „von innen“. Im folgenden Interview von Aleteia spricht er über Machtmissbrauch, den es in verschiedenen Gemeinschaften des religiösen Lebens gegeben haben mochte oder noch gibt.
Worum geht es, wenn man über Machtmissbrauch in religiösen Gemeinschaften oder Gemeinschaften des religiösen Lebens spricht?
Es gibt bestimmte Fehlhaltungen in der Ausübung der Autorität, die das geistliche Leben betreffen, besonders in Bezug auf die Beichte und die geistliche Begleitung, den beiden Orten der inneren Freiheit, die Wege der Heiligkeit sind, zu denen alle Getauften berufen sind. In einigen neu entstandenen Gemeinschaften wird die Gestalt des Gründers absolut gesetzt.
Können Sie ein Beispiel für einen solchen Machtmissbrauch nennen?
Tatsächlich geschieht es, dass die Gewissensauskunft verbindlich verlangt wird, dass eine Person ihr gesamtes moralisches Leben offenlegen muss, einschließlich der intimsten Sünden, und dass das vertrauliche Gespräch dazu verwendet wird, das Leben der Gemeinschaft zu lenken; manchmal wird auch die Wahl des Beichtvaters vorgeschrieben.
Man findet viele Formen eines solchen Missbrauchs in den Frauenoden des 19. Jahrhunderts; einige Oberinnen verpflichteten die Schwestern sogar dazu, ihre Verfehlungen niederzuschreiben, und sie hoben diese Schriften in ihren Archiven auf!
Daneben gab es den priesterlichen Dienst der Beichte, der sich ausschließlich auf die Spendung der Absolution beschränkte, ohne dass die Nonnen den Beichtvater um Rat oder um Orientierung für ihr geistliches Leben bitten konnten.
Welche Folgen ziehen solche Formen des Missbrauchs nach sich?
Sie behindern das Wachstum der Person und hemmen seinen Weg zur Heiligkeit. Sie können sogar die Persönlichkeit zerstören. Die Freiheit der Person ist wichtig, damit man seine Seele ohne Vorbehalt und mit Vertrauen öffnen kann.
Ich habe dieselbe Erfahrung gemacht, als ich 1968 als junger Ordensmann bei den Karmelitern eintrat. Ich muss anerkennen, dass in dieser aufgewühlten Zeit die geistliche Freiheit von unseren Oberen immer respektiert wurde, sogar wenn Verwirrung oder Orientierungslosigkeit herrschten.
Das erlaubte es mir, im inneren Frieden zu wachsen. Im Gegenteil, der wohlverstandene evangelische Gehorsam in der Freiheit des Herzens und des Gewissens steht im Gegensatz zu dem blinden und kindischen Totalitarismus der Sekten.
Wann hat es eine Person besonders nötig, seine Seele ohne Vorbehalte und mit Vertrauen zu öffnen?
In den schwierigen Momenten, in Krisen; wenn das nicht geschieht, können sie schlimm ausgehen, sei in der Heuchelei eines Doppellebens, oder in einer Verzweiflung, die bis zum Selbstmord führen kann.
Im Gegenteil, die schlimmsten Krisen können glücklich überwunden werden, wenn die betroffene Person die entsprechende Form von Hilfe findet. Die kleine hl. Theresia – die viele Formen von Machtmissbrauch in ihrer geistlichen Gemeinschaft erlitten hat – ist ein gutes Beispiel dafür.
Wie?
Die junge Frau war 18 Jahre alt und erfuhr große innere Versuchungen, die soweit gingen, dass sie sich fragte, ob es überhaupt einen Himmel gäbe. Dann konnte sie bei einem Franziskaner beichten, P. Alexis Prou, der zum Karmel von Lisieux gekommen war um Exerzitien zu predigen, und sie öffnete ihm ihr Herz.
Im Umgang mit diesem Priester, „der ihr den Weg des Vertrauens und der Liebe erschloss“ und endgültig die Bande der Furcht zerriss, den sie dem Jansenismus in ihrer Umgebung zu danken hatte.
Leide3r gehörte der Karmel von Lisieux damals zu jenen Gemeinschaften, in denen die innere Freiheit von übergriffigen Oberinnen eingeschränkt war.
Diese scheint P. Prou nicht geschätzt zu haben und verbot der jungen Karmeliterin den weiteren Umgang mit ihm. Glücklicherweise war der entscheidende Schritt jedoch bereits getan: Teresa konnte in ihrem inneren Frieden bis zur Heiligkeit fortschreiten.
Hat die Kirche etwas gegen diesen Machtmissbrauch unternommen?
1890 veröffentlichte die Kongregation für die Bischöfe und die Ordensleute das Dekret Quemadmodum omnium rerum über das Thema der Gewissensauskunft, die Beichte und die Kommunion in den weiblichen und männlichen Orden.
Das Dokument garantierte die geistliche Freiheit der Personen gegenüber Übergriffen, die damals üblich waren. So war es damals beispielsweise nicht die Superiorin, sondern der Beichtvater, der die Entscheidung zu treffen hatte, ob eine Nonne häufiger kommunizieren durfte oder nicht.
Dieses Dekret wurde in Frankreich nicht gut aufgenommen und von den Oberen oft nicht angewendet, weil sie darin eine Gefahr für ihre Autorität sahen, und so blieb die Wirkung begrenzt.
Mit dem neuen Codex des Kirchenrechts, den Johannes Paul II. 1983 promulgierte, bekräftigte die Kirche die innere Freiheit der Person noch mehr, vor allem in dem, was sich auf die Beichte und geistliche Leitung bezieht, und zwar sowohl hinsichtlich der Bildung zum Priestertum in den Seminaren als auch hinsichtlich der religiösen Gemeinschaften.
Was ist beispielsweise in diesen Milieus vorgesehen?
Beispielsweise, dass jeder seinen geistlichen Leiter frei wählen kann, dem gegenüber er vertrauensvoll sein Gewissen eröffnet (Can. 246,4).
In jedem Seminar muss es mindestens einen Geistlichen Leiter geben, und den Seminaristen ist die Freiheit zu überlassen, sich auch an andere Priester zu wenden, die vom Bischof dieses Amt übertragen bekommen haben (Can 239).
Abgesehen von den ordentlichen Beichtvätern des Seminars muss es gewöhnlich möglich sein, sich auch an andere Beichtväter zu wenden (···) und die Seminaristen müssen weitgehende Freiheit haben, sich an einen anderen Beichtvater zu wenden, innerhalb oder außerhalb des Seminars (Can. 240).
Niemals soll die Meinung des Geistlichen Leiters oder der Beichtväter (die ja durch das Beichtsiegel gebunden sind), eingeholt werden, wenn es darum geht, ob Seminaristen zum Priestertum zugelassen oder aber aus dem Seminar entfernt werden sollen, damit sie ihr Herz ohne Vorbehalte öffnen können.
Dieses Gesetzwerk ist grundlegend und muss in jedem Fall beachtet werden. Im Moment sind viele Jugendliche in einer Krise, weil sie solchen Missbräuchen zum Opfer gefallen sind. Auch im Bereich des Geweihten Lebens muss die Autorität der Kirche aufmerksam darüber wachen, dass so etwas nicht geschieht.
Veröffentlicht in: Aleteia, 30/11/2014