Aloevera: Missbrauch und Verletzung der Menschenrechte im Opus Dei

12. Mai 2014

 

Veröffentlicht in: „Espectador“,  11/05/2014
 

Der nachstehende Bericht ist das Zeugnis eines ehemaligen Mitgliedes des Opus Dei, das einem Dokument beigefügt war, welches dem Komitee der UNO gegen die Folter von Organisationen zur Wahrung der Rechte von Opfern pädophiler Priester vorgelegt wurde.

Von Tommaso Dell’Era

Mein Name ist Tommaso Dell’Era, ich bin Doktor der Politischen Philosophie und Professor an einer staatlichen italienischen Universität. Ich habe sexuellen Missbrauch erfahren, zu einem sehr frühen Zeitpunkt von Familienangehörigen, und im Alter zwischen 11 und 18 jahren von einigen Geistlichen. Ich bin kein Christ mehr und gehöre auch der katholischen Kirche als Institution nicht mehr an. Ich möchte kurz das Opus Dei  skizzieren, wie es meiner Erfahrung nach und nach dem Zeugnis vieler anderer Personen ist. Ich war Mitglied des Opus Dei von 1984 bis 1993, von meinem vierzehneinhalbten bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr, und zwar in Italien. Das Opus Dei ist eine geheimt und totalitäre Organisation, die wie eine Geheimgesellschaft des 18. oder 19. Jahrhunderts strukturiert ist. Es gibt verschiedene Kategorien und Abstuifungen der Mitgliedschaft, und von der Stellung innerhalb der Organisation hängt es ab, wieviel man über sie und ihre Macht weiß.

Es gibt sogenannte „interne Publikationen und Dokumente“ (die von einer „extraterritorialen“ Druckerei der Organisation hergestellt werden). Diese Publikationen bieten die Verfassung  und internen Regeln für das Opus Dei, sie sagen allerdings etwas völlig anderes aus als die veröffentlichten Statuten, die Personen einsehen können, die dem Werk nicht angehören.  Sehen wir uns einmal die verschiedenen Ränge im Opus Dei an: Die Basis bilden die Mitarbeiter, die de facto gar keine Mitglieder des Opus Dei sind und die sich einfach darauf beschränken, ihr Geld und ihr Gebet zur Verfügung zu stellen. Die  Supernumerarier  repräsentieren ca. 70% der Mitglieder des Opus Dei – verheiratete Männer und Frauen, die einen Beruf inmitten der Welt ausüben und die normales Familienleben haben. Die Assoziierten sind Zölibatäre, die in ihrem Elternhaus leben. Die Numerarier machen etwa 20% aller Mitglieder aus, sie müssen ehelos leben, und von 18. Lebensjahr an müssen sie in einem Zentrum des Opus Dei wohnen.

Zwischen den Numerariern, die als Laien leben, und den Priestern des Opus Dei gibt es Abstufungen in der Hierarchie. Den höchsten Rang nehmen die ein, die – sowohl im hierarchischen als auch im spirituellen Sinn – die Organisation leiten. Unter ihnen gibt es dann noch eine kleine Zahl einflussreicher Personen – die „eingeschriebenen Mitglieder“, deren Aufgabe es ist, den Prälaten zu wählen, den höchsten Vertreter des Opus Dei, der immer dem priesterstand angehört. Die eingeschriebenen Mitglieder sind jene ganz wenigen privilegierten Mitglieder, von denen es in jedem Land nur eine Handvoll gibt, die die Geheimnisse der Organisation in ihrem Land und auf der ganzen Welt kennen. Wenn ein junger Katholik mit vierzehneinhalb dem Opus Dei beitritt, ist er oder sie ein Aspirant, das heißt, kein juridisches Mitglied der Organisation (das kanonische Recht verbietet den Beitritt Minderjähriger), sondern nur ein Beitrittskandidat. Im Innenleben des Opus Dei macht man jedoch zwischen ihnen und den Numerariern keinen Unterschied, mit der einen Ausnahem, dass sie noch kein „Familienleben“ haben. Dieser Status der Aspiranten erlaubt es dem Opus Dei, das Verbot der Mitgliedschaft von Minderjährigen zu umgehen.

Die weiblichen Mitglieder sind ähnlich organisiert, aber die Frauen in der Organisation haben viel weniger Einfluss. Sie putzen und kochen in den Zentren des Opus Dei: Das ist die besondere Aufgabe der Auxiliar-Numerarierinnen. Die weiblichen Mitglieder des Opus Dei unterliegen einer institutionellen Diskriminierung (sie haben kein Wahlrecht), sie sind, im Fall der Auxiliarnumerarierinnen, kulturell und hinsichtlich ihrer Arbeit Menschen zweiter Klasse. Diese patriarchalische Struktur der Organisation ist ein direkter Reflex der spanischen Gesellschaft um 1920, als das Opus Dei entstand.

Wie kann  es also sein, dass ein junger Mensch – mit vierzehneinhalb Jahren – dem Opus Dei? Das ist wohl in jedem Fall unterschiedlich. Ich komme etwa aus einer katholisch-kommunistischen Familie (das ist in Italien nichts Ungewöhnliches).- Wie bei jedem Aspiranten begann meine Vorbereitung auf das Opus Dei schon viel früher  - im Alter von 11 Jahren. Ein potenzieller Aspirant wird zunächst einmal einem Laienmitglied der Organisation und dann einem Priester vorgestellt. In dieser Zeit von drei, dreieinhalb Jahren wird der junge Mensch darauf „vorbereitet“, mit vierzehneinhalb um die Aufnahme als Aspirant zu bitten. Es bedarf nicht des Hinweises, dass die jungen Menschen in dieser Periode, in denen sie das Opus Dei gewöhnlich „bearbeitet“, besonders verletzlich sind – psychologisch, emotional, physisch. Vielleicht das wichtigste – und entscheidendste – Element dieses Vorgangs: Das Kind wird Schritt für Schritt programmiert, unmerklich isoliert und seinen Alterskollegen vorsätzlich entfremdet.

Das Opus Dei gibt dieses Jugendlichen die folgende Botschaft:  Wenn du dich uns anschließt, wirst du dich in einen Heiligen verwandeln, viel Gutes tun und ein christliches Leben in Fülle inmitten der menschlichen Gesellschaft führen. Das ist allerdings eine Lüge. Denn ab dem vierzehneinhalbten Lebensjahr erklären sie ihm, dass er auf keine Feste mehr gehen darf, nicht mehr ins Kino oder ins Stadion, Dinge, die normale Jugendliche in diesem Alter tun. Das Ziel ist dabei ein doppeltes: Der Jugendliche wird von seiner normaler Umgebung isoliert, und er kann somit indoktriniert werden. Wie gehen sie dabei vor? Mit psychologischem Druck, der die religiösen Gefühle der jungen Menschen ausbeutet. Fast alle von ihnen kommen aus Familien, in denen der katholische Glaube tief verwurzelt ist. Wir mussten uns jede Woche mit jenem erwachsenen Laienmitglied zusammensetzen (zum sogenannten „brüderlichen Gespräch“ oder der „Aussprache“), das uns zugeteilt wurde, und außerdem mit dem Priester. Wir waren verpflichtet, ausschließlich bei einem Priester des Opus Dei zu beichten. Wir wurden auch dazu überredet, den Inhalt unserer Beichten in der „Aussprache“ preiszugeben und zu besprechen. So gab es keine Geheimnisse, und es war einfacher, die jungen Menschen zu manipulieren. Über alle diese Jugendlichen, diejenigen, die den Vorbereitungen unterworfen sind, bevor sie dem Opus Dei beitreten, und die Aspiranten werden in einem Archb die intimsten Details festgehalten, beneso die finanziellen und sozialen Daten ihrer Familien.

Der Gehorsam ist grundlegend: Jede Anordnung eines erwachsenen Mitgliedes, das mit der geistlichen Leitung betraut ist, wird als direkter Ausdruck des Willens Gottes angesehen. Es ist verboten, mit der eigenen Familie über die Bildung im Werk zu sprechen. Diese Isolierung und emotionale Erpressung zeigen, dass die Manipulation und die Kontrolle dieser Jugendlichen gleichsam vollständig ist. Eine andere Form, in der sich diese Kontrolle der Kinder abspielt (darunter verstehe ich hier jedenfalls die Heranwachsenden) ist es sicherzustellen, dass dieses intesive Tagesprogramm kaum Zeit lässt, zur Ruhe und zum Nachdenken zu kommen. Es gibt geistliche Verpflichtungen: Jeder einzelne musste seinem sogenannten „Lebensplan“ folgen. Jeder Tag begann mit einer halben Stunde Gebet in Gegenwart eines Priesters, gefolgt von der Heiligen Messe. All das geschah vor der Schule, das bedeutete, dass wir um halb sechs oder um Punkt sechs Uhr aufstehen mussten, je nach dem persönlichen Tagesplan. Es gab eine lange Liste geistlicher Verpflichtungen, die über den Tag verteilt waren. Die Kinder sind auch praktischen Physischen Verpflichtungen unterworfen; dazu gehört die tägliche Anwesenheit in einem Zentrum des Opus Dei, und sie werden zu einem beständigen Proselytismus angehalten, das heißt, sie müssen Versuchen, neue Beitrittskandidaten zu finden und  zu beeinflussen sich ebenfalls anzuschließen. Es versteht sich wohl von selbst, dass ein Jugendlicher, der einem so unerbittlichen, intensiven und regulierten Tageprogramm unterworfen ist, einfach keine Zeit hat darüber zu reflektieren, was er oder sie hier tut.

Ein anderes wichtiges Element in dieser Phase der Indoktrinierung von Jugendlichen könnte besser als ein Programm systematischen psychologischen Missbrauchs beschrieben werden. Das umfasst auch die körperliche Abtötung von Kindern. Die Selbstabtötung wurde in der katholischen Kirche immer praktiziert. Ab einem Alter von sechzehneinhalb werden die Aspiranten dazu angehalten, eine Reihe von Gegenständen zur Selbstabtötung zu verwenden. Einer der ersten, die Verwendung finden, ist das Bußband, eine Eisenkette mit kleinen Dornen. Es wird um den Oberschenkel geschnürt und zwei Stunden am Tag getragen. Es hinterlässt Spuren am Körper, die teilweise noch Jahre später sichtbar bleiben. Ein anderes Instrument der Selbstabtötung ist eine Peitsche aus verknoteten Stricken; man bezeichnet es beziehungsvoll als Disziplin: Die Aspiranten werden angewiesen sich daran zu gewöhnen, sich einmal wöchentlich selbst am Gesäß zu geißeln. Man könnte sich nun vielleicht fragen, warum die Jugendlichen verpflichtet werden, diese Praktiken auszuführen. Der Aktivismus dient einem einfachen Ziel: nicht nur um gleich eine ganze Palette von Emotionen zu unterdrücken, nicht nur die sexuellen, sondern auch um dem Kind ein tiefes Misstrauen sich selbst gegenüber einzupflanzen. Der tiefsitzende Minderwertigkeitskomplex macht das Kind leichter form- und manipulierbar. Das Kind wird dazu verpflichtet, sich „freiwillig“ diesen Praktiken zu unterwerfen. Der Gehorsam gegenüber dem Geist des Opus Dei ist grundlegend. Die Verteidiger des Opus Dei haben versichert, dass dieser Praktiken der Selbstabtötung bei Minderjährigen der Vergangenheit angehören. Das ist eine Lüge. Ich ging 1993, und da waren sie noch allgemein üblich. Wir wissen, dass dies auch jetzt noch so gemacht wird. Die Werkzeuge der Selbstabtötung werden in den Zentren des Opus Dei verwahrt; die Jugendlichen dürfen sie nicht mit nach Hause nehmen. Ein Teil der weiblichen Mitglieder ist verpflichtet, eine andere Form der Selbstabtötung zu leben, zusätzlich für die bei den Männern üblichen. [Anm. des Übersetzers: Es handelt sich dabei um das Schlafen auf hartem Untergrund.]

Das ist nicht alles. Der systematische pharmakologische Missbrauch an Minderjährigen ist notorisch. Das geschieht, wenn ein Kind „Krisen“ durchlebt, aufbegehrt oder physische oder psychische Störungen aufweist. Einer der verbreitetsten Gründe für den Gebrauch von Drogen (im Sinn von Medikamenten, die ohne Notwendigkeit und aus anderen Gründen verschrieben werden, sind Schlafmittel. Minderjährige und junge Mitglieder des Opus Dei (nur Aspiranten und Numerarier, Männer wie Frauen) dürfen einen  Arzt nur in Begleitung eines erwachsenen Mitgliedes aufsuchen. Oft sind die Ärzte selbst Mitglieder der Organisation. Sehr häufig ist die unmittelbare Reaktion, wenn sie sich mit einem Kind konfrontiert sehen, das an Störungen leidet, dass sie Beruhigungsmittel oder Antidepressiva verschreiben. Meiner persönlichen Erfahrung nach werden ca. 60 % der jungen Aspiranten auf diese Weise behandelt. Auch ich wurde bereits als Minderjähriger medikamentös behandelt, ebenso wie ich bereits 18 Jahre alt war. Meine Leiter im Opus Dei entscheiden, dass ich unter Depressionen litt. Tatsächlich war es nichts Ernstes, aber der Arzt – seiner Ausbildung nach Gastroenterologe – verschrieb mir eine Reihe von Antidepressiva. Dann, als ich das Opus Dei verließ, weigerte sich derselbe Arzt, mir meine Krankenakte auszuhändigen.

Das ist lediglich eine allgemeine Skizze der Methoden, wie sie das Opus Dei gegenüber jugendlichen Anwärtern anwendet, und es versucht zu erklären, warum Menschen zumindest eine Zeitlang innerhalb dieser Organisation ausharren. Bevor ich schließe, möchte ich noch von zwei Beobachtungen sprechen. Die eine bezieht sich darauf, wie das Opus Dei auf Anklagen dieser Art reagiert: mit Schweigen und mit Lügen, und zwar in einer konzertierten Aktion, die darauf ausgerichtet ist, diejenigen Personen zu diskreditieren, die es wagen, die Vereinigung zu diskreditieren und seine Praktiken aufzudecken. Gewöhnlich antworten sie in der Form, dass sie jene Peron, die solche Anzeigen öffentlich macht, als psychisch instabil darzustellen versucht. Eine andere Verteidigungsstrategie ist zu behaupten, dass es in der Vergangenheit vereinzelte Übergriffe gegeben haben mag, dass sie aber nicht mehr vorkommen. Wenn wir versuchen wollen zu verstehen, warum diese Praktiken bis heute ausgeübt werden, muss uns eines klar sein. Das Opus Dei ist eine Organisation der katholischen Kirche, die auf verschiedenen Ebenen und zu verschiedenen Zeiten von Päpsten anerkannt worden ist, zuletzt und endgültig von Johannes Paul II. Es gibt zweifellos innerhalb der katholischen Kirche viele gute und aufrichtige Menschen; aber die katholische Kirche als politische Institution ist eine mittelalterliche Theokratie, die von einer abgeschlossenen Männerkaste regiert wird. Diese Männer erlauben, im Gegensatz zu dem, was die Kirche selbst glauben lassen will, keine freie Ausübung der Menschenrechte innerhalb der Institution, die sie beherrschen.