Dietmar Scharmitzer:

 

Neun Jahre im Irrenhaus –

Erfahrungsbericht eines persönlich Betroffenen

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Finale am Petersplatz................................................................................................................. 2

Eine reizende Familie................................................................................................................. 4

Kindheit in Wien........................................................................................................................ 10

Anwerbung................................................................................................................................ 13

Konditionierung........................................................................................................................ 17

Pfeiftag...................................................................................................................................... 22

Die Brüder................................................................................................................................ 26

Normen..................................................................................................................................... 29

Geheime Dienste....................................................................................................................... 33

„Priesterliche Seele" und „laikale Mentalität"......................................................................... 34

„Aristokraten der Liebe“.......................................................................................................... 39

In Bedrängnis............................................................................................................................ 42

Der Austritt............................................................................................................................... 46

In Freiheit................................................................................................................................. 48

Ausblick: das Ende einer Legende............................................................................................ 49

 

Überall dort, wo Persönlichkeitsrechte verletzt werden könnten, sind Namen von Personen abgeändert.


 

 

 

Finale am Petersplatz

 

Als am 6. Oktober 2002 Papst Johannes Paul II. den Priester Josémaria Escrivá heiligsprach, war die unmittelbare Reaktion zwiespältig. Einerseits wurde der Ausdruck gebraucht, daß das Opus Dei, das von ihm gegründete „Werk Gottes“, nun zum „Mainstream“ in der katholischen Kirche werden könne („Die Furche“, Nr. 41, 10. 10. 2002, 10); in extremer Selbstgefälligkeit, lässig vor die Kamera geräkelt, äußerte der Postulator Escrivás, sein „Anwalt“ im Kanonisierungsverfahren, der Numerarier Msgr. Flavio Capucci, daß seine „Verehrung nun vorgeschrieben sei; man muß ihn verehren“ („Kreuz und quer“ vom 1. 10. 2002). Leise, aber bestimmt wurde auch Kritik an den rigiden, menschenverachtenden Strategien der „Elitetruppe“ des Papstes geäußert, aber auch am Prozeß selbst. Unerwünschte Zeugen blieben ausgegrenzt, und darunter waren so wichtige Stimmen wie der einzige noch lebende Begleiter Escrivás aus den dreißiger Jahren, Miguel Fisac Serna, oder der ehemalige Generalsekretär des Opus Dei, Antonio Pérez-Tenessa. Hinter vorgehaltener Hand äußerten auch manche, die in der Öffentlichkeit als Freunde des Werkes galten, wie der emeritierte Wiener Erzbischof Kardinal DDr. Franz König, vorsichtige Kritik.

 

Wie nirgendwo in der katholischen Kirche ist eine Vereinigung so eng an die Person ihres Gründers gebunden. Mit Kniefall und Handkuß begrüßte ihn die Prätorianergarde seiner „Numerarier“, so wie jetzt seinen Nachfolger; jeder von ihnen ist bereit, seinen Beruf aufzugeben, wenn „der Vater“ es verlangt. Für eine Zeitlang mochte es – für die Mitglieder, für die römische Kurie, der immer nur die Schauseite präsentiert wurde, aber auch für die interessierte Öffentlickeit – so ausgesehen haben, als ob hier eine verschworene Gemeinschaft mit ihrem Padre durch dick und dünn geht und das Wort Christi in alle Welt und in alle Milieus trägt und daß, unbeschadet einiger Rückschläge, niemand sie aufhalten kann.

 

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Mit der Heiligsprechung des Gründers war der Zenit überschritten. In Spanien, der zahlenmäßig stärksten Region, befindet sich das Werk in Auflösung; mit viel Geld und außergewöhnlichen Maßnahmen wird kaschiert, daß der Nachwuchs fehlt. Immer mehr Mitglieder, denen ihr Gewissen nahelegt, das bedenkliche Geflecht von Usancen, die in dieser Form nie vom Heiligen Stuhl gebilligt wurden, zerreißen zu helfen, machen geheime Dokumente mit Hilfe des Internets zugänglich. Daneben organisieren sich die ausgetretenen Mitglieder, gewinnen an Selbstbewußtsein und vernetzen sich, um einander, teils mit beachtlichem Aufwand, soziologisch, psychologisch, ja mit theologischem Tiefgang argumentativ Hilfestellung zu leisten. In gemeinsamer Analyse des erlittenen Mißbrauchs wird klar, daß hier nicht nur Fehler geschehen sind, gutgläubige Menschen um der guten Sache willen bedrängt und manipuliert wurden, sondern daß der ganze Bau der stolzen „Prälatur“ auf falschen Voraussetzungen errichtet wurde. Nicht die Heiligung der Arbeit, das Apostolat der Laien, der Schwung einer jungen, vom Heiligen Geist beseelten Gruppe stehen im Vordergrund, sondern die monströse Selbstglorifizierung eines zutiefst zerrissenen, psychotischen und mit sich unglücklichen Klerikers aus der nord­spanischen Provinz, der immer aus ganzer Seele etwas anderes sein wollte, als er jeweils war.

 

José Maria Escriba – so lautet der Eintrag im Taufbuch der Kathedrale – wurde am 9. Jänner 1902 in Barbastro als Sohn von José und Dolores Escriba geboren. Mit zwei Jahren erkrankte er schwer; von den Ärzten schon aufgegeben, brachten ihn die Eltern zur Marienkirche von Torreciudad; in der Ikonographie des Werkes wird diese Wallfahrt wie die Flucht nach Ägypten dargestellt, Mutter und Kind auf einem Esel reitend. Neben der um drei Jahre älteren Carmen hatte er auch drei jüngere Schwestern, die im Kindesalter starben. 1915 ging das Textilgeschäft des Vaters in Konkurs; der Teilhaber, Juan Juncosa, hatte Beträge entnommen, und Escriba blieb auf der Strecke. Die Familie mußte nach Logroño umziehen, wo Escriba eine Anstellung gefunden hatte. José Maria war ein durchschnittlicher Schüler; das Latein vernachlässigte er, weil es etwas „für die Mönche“ war. Ihm selbst schwebte eine Zukunft als Architekt oder Jurist vor. Als er, noch als Schüler, die Fußspur eines unbeschuhten Karmeliters im Schnee gesehen hatte, intensivierte er sein religiöses Leben und teilte seinem Vater den Wunsch mit, Priester zu werden. Als Bestätigung erschien es ihm, daß seine Mutter daraufhin, 1919, noch einmal einem Sohn das Leben schenkte, Santiago. Nach Abschluß der Schule trat er in das Priesterseminar von Saragossa ein; auf Anraten seines Vaters studierte er zugleich Rechtswissenschaft. Als der Vater 1924 starb, fiel ihm die Hauptverantwortung für die Familie zu. Am 28. März 1925 empfing er die Priesterweihe und begann seine Arbeit als Aushilfspfarrer in Perdiguera. 1927 ging er mit der Erlaubnis seines Bischofs nach Madrid, um in Rechtswissenschaft zu promovieren. Dazu kam es aber offenbar nicht mehr.

 

Am 2. Oktober 1928 „sah“ Escrivá während eines Einkehrtags die Hingabe gewöhnlicher Christen, die in der Welt leben, ihrem Beruf nachgehen und ihre bürgerliche Existenz mit Gebet und Buße in Einklang bringen – dieses Datum bezeichnet die Gründung des Opus Dei. Am 14. Februar 1930 erkannte der „Vater“, daß auch Frauen ihren Platz im Werk haben, schließlich gründete er am 14. Februar 1943, untrennbar mit dem Opus Dei verbunden, die „Priesterliche Gesellschaft vom Heiligen Kreuz“; damit war es möglich, den Diözesanklerus an dieser Spiritualität teilhaben zu lassen, und die Vereinigung konnte nun eigene Priester inkardinieren.

 

Beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 hielt sich Escrivá de Balaguer – diesen Namen hatte er nach dem Tod seines Vaters angenommen – in Madrid auf. Aufgrund der antiklerikalen Verfolgungen mußte er untertauchen; schließlich gelang ihm mit einigen seiner Gefährten die Flucht über die Pyrenäen nach Südfrankreich. Danach wohnte er in Burgos, nahe von Francos Hauptquartier; mit dessen ersten Truppen kehrte er 1939 nach Madrid zurück.


Als sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Grenzen öffneten, übersiedelte Escrivá mit seinem Leitungsstab nach Rom, schuf sich mit der „Villa Tevere“, der ehemaligen ungarischen Botschaft beim Heiligen Stuhl, einen repräsentativen Zentralsitz und leitete von dort aus die Ausbreitung in zahlreiche Länder der freien Welt. Zugleich suchte er im Vatikan eine Lösung in bezug auf den kirchenrechtlichen „Ort“ seiner Gründung zu bekommen; die Rechtsfigur des „Säkularinstituts“ genügte ihm nicht, und der Gründer, der in den Jesuiten eine aus „Zwillingsscheu“ rührende Gegnerschaft hatte, war auf der Hut, daß sich seine Stiftung nicht im Lauf der Zeit in einen Orden verwandelte. Deshalb mußte jedes Mitglied sich verpflichten, sofort auszutreten, sollte das Opus Dei eines Tages eine Konstitution aufoktroyiert erhalten, die nicht mehr seinem Charisma entsprach.

 

Das II. Vatikanische Konzil, das die Öffnung der altehrwürdigen römischen Kirche hin zu einer dynamischen Religionsgemeinschaft des dritten Jahrtausends bringen sollte, wird vom Werk Gottes ganz im eigenen Sinn interpretiert, insofern es den allgemeinen Ruf zur Heiligkeit betonte und die neuartige Rechtsform der „Personalprälatur“ ermöglichte. Für Escrivá bedeuteten die Reformen allerdings eine lästige Abweichung, der er entgegentrat, wo er konnte. Weit davon entfernt, dem Papst und dem Konzil nach Buchstaben und Geist zu gehorchen, äußerte er sich im kleinen Kreis abfällig über die verantwortlichen Personen; für den Nachfolger von Paul VI. sollten seine Kinder beten, das war seine Bitte – die impliziert, daß er von diesem Papst nichts mehr zu erwarten hatte. Noch geschlossener, einheitlicher, traditionsbewußter sollte sein Opus sich geben. Was die anspruchsvolle Avantgarde der Kirche gewesen war, wurde in ein steifes Korsett gepreßt, und seine Jünger begannen aufzufallen: durch die Soutanen ihrer Priester als Ausdruck eines ungebrochen hierarchischen Kirchenbildes, durch das Latein als Sprache des Gottesdienstes und durch eine dürftige, auf Thomas von Aquin reduzierte Theologie, dazu durch die Beibehaltung eines Index verbotener Bücher, den die Mutterkirche aufgegeben hatte. Innerhalb des Opus Dei gilt beispielsweise die kirchliche Druckerlaubnis für ein Buch nur dann als untrüglicher Hinweis, daß es sich um wertvolle katholische Literatur handelt, wenn das Imprimatur vor 1965 erteilt wurde. Pikanterweise waren auch die Werke Josef Ratzingers bis zu seiner Ernennung zum Präses der Glaubenskon­gregation im Opus Dei verbotene Lektüre!

 

Als Escrivá am 26. Juni 1975 in Rom an Herzversagen starb, hatte das Werk 60.000 Mitglieder und war auf allen fünf Kontinenten verbreitet. Die Errichtung als Personalprälatur erfolgte 1982; dank der Vorliebe von Johannes Paul II. absolvierten die „Escrivaner“ in dem Vierteljahrhundert seines Pontifikats einen grandiosen „Marsch durch die Institution“. Am 17. Mai 1992 erhob er den Gründer des Opus Dei zum Seligen, zehn Jahre später sprach er ihn auf dem Petersplatz in Rom vor einer großen Menschenmenge heilig. In der Predigt rief der Papst den Anwesenden zu: „Folgt seinen Spuren und verbreitet in der Gesellschaft das Bewußtsein, daß wir alle zur Heiligkeit berufen sind, ohne dabei Unterschiede zu machen nach Hautfarbe, Gesellschaftsschicht, Kultur oder Alter.“

Eine reizende Familie

 

Nach dem „Wörterbuch des Teufels“ von Ambrose Bierce ist ein Heiliger „ein toter Sünder, bearbeitet und neu herausgegeben“. Wer diese hagiographischen Daten differenzierter betrachtet, könnte in Escrivá aber durchaus auch den Sohn einer wirtschaftlich herunter­gekommenen Familie aus dem aragone­sischen Kleinbürgertum sehen, der den Abstieg seines Vaters nicht verkraftet und von einem „besseren Leben“ geträumt hat, als Anwalt oder Architekt. Das bezeugt wenigstens Miguel Fisac, eines der ältesten Mitglieder des Werkes. Der epileptische Anfall des Zweijährigen, der Tod der drei jüngeren Schwestern hatte die Zuneigung seiner Mutter in besonderer Weise auf ihn fokussiert; nach dem Bankrott seines Vaters, seiner Flucht aus Barbastro und seinem gesellschaftlichen Scheitern war der gleichgeschlechtliche Elternteil beiseitegetreten; José Maria genoß die ungeteilte Liebe seiner Mutter und konnte egozentrische Phantasien ausleben.

 

Ein weltliches Studium war aus wirtschaftlichen Gründen illusorisch geworden, der Eintritt ins Priesterseminar die einzige Möglichkeit, zu einer akademischen Ausbildung zu kommen. Escrivá wollte von Anfang an seiner theologischen Ausbildung die juristische zur Seite stellen; als Seelsorger zerbrach er sich den Kopf darüber, wie ein Laie in seinem Stand heilig werden könnte; er suchte sich also mit allen Mitteln in die Lage dessen zu versetzen, der er gerne gewesen oder geblieben wäre. Als es dann gelang, diesen neuen Weg, mit zahlreichen Anleihen bei traditionellen Orden, aber auch neuen Bewegungen wie etwa den 1911 gegründeten „Teresianisten“ des Pedro Poveda zu entwickeln und Anhänger zu finden, gaben die Zeitumstände in Spanien dem Werk Escrivás einen mächtigen Auftrieb. So wie das Erlebnis des Dreißigjährigen Krieges den barocken Ideen von Skepsis und Weltflucht Hintergrund und Lebenskraft gab, so bewirkte auch das Desaster nach dem Bürgerkrieg und das Bewußtsein, daß ringsum die Welt brannte, in vielen jungen Menschen die Bereitschaft, die äußere Schale der Dinge zu verachten. Der Krieg lehrte, daß ein Menschenleben wenig wert war; es für ein großes Ideal in die Waagschale zu werfen, erschien plausibel und nachahmenswert. So entstand eine erste, zu allem entschlossene Schar; dann, als die ersten mit dem Studium fertig waren, war an eine weitere Expansion zu denken. Der Chemiker und Pharmakologe José Maria Albareda, Numerarier, war ab 1939 Generalsekretär des höchsten spanischen Gremiums für Forschung und Wissenschaft (Consejo Superior de Investigaciones Cientificas y Relaciones Culturales); von diesem Moment an flossen nicht nur die staatlichen Fördermittel nach seinem Gutdünken, es begann auch die Dominanz des Opus Dei auf den Lehrstühlen Spaniens, und bekanntlich gehörten dem Werk auch zahlreiche Minister Francos an.

 

Dank der Rechtsform der Personalprälatur ist das Werk Gottes direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt und damit der Jurisdiktion der Ortsbischöfe entzogen. Es unterscheidet sich gerne, unter Berufung auf die nomenklatorische Einbindung in die hierarchische Struktur der Mutterkirche, von katholischen „Bewegungen“. Obwohl es die Heiligung des gewöhnlichen Alltags propagiert, lebt es von einer Ausnahmegesetzgebung; denn die Rechtsfigur der Personalprälatur wurde eigentlich zum Zweck einer besseren Verteilung des Weltklerus geschaffen. Erst durch nachträgliche Interpretation wurde ausgearbeitet, daß die ihr angehörigen Laien ihrem jeweiligen Bischof unterstehen, hinsichtlich des Zieles der Prälatur – Bildung und Apostolat – allerdings deren Prälaten gehorchen. Eine noch größere Unabhängigkeit hätte das Opus Dei als „Personaldiözese“ genossen, eine Konstruktion, die einzelne Personen, die verstreut wohnen, seelsorglich zusammenfaßt, wie etwa die Militärdiözese eines Landes die ihr unterstehenden katholischen Soldaten unabhängig von ihrer Herkunft betreut. Man sagt, Opus Dei habe dies angestrebt, und der jetzige Papst habe, noch als Kardinal, im kleinen Kreis geäußert, das habe er, kraft seines Einflusses bei Johannes Paul II., eben noch verhindern können. So stellte Ratzinger im gleichen Dokument etwa klar, daß eine Personalprälatur kein Teil der kirchlichen Hierarchie sei, sondern („nur“) eine Vereinigung von Gläubigen; das Kriterium sei die Freiwilligkeit, denn einer Diözese gehöre man an, man trete ihr aber nicht bei – das Opus Dei ist allerdings vom Gegenteil überzeugt. (Vgl. „Acta et Documenta“ der Päpstlichen Kommission zur Interpretation des Codex Iuris Canonici, Vollversammlung vom 20. – 29. 10., Vatikan 1981, 402 f.; der betreffende lateinische Originaltext ist verfügbar unter http://www.opuslibros.org/libros/raztinger/CONGREGATIO_PLENARIA.pdf [sic])

 

Unter der Prämisse, daß die Gläubigen der Prälatur sich bemühen, unter Anleitung ihrer geistlichen Vorgesetzten „die Arbeit zu heiligen, sich durch die Arbeit zu heiligen und die anderen durch ihre Arbeit zu heiligen“, gehen sie ihrem jeweiligen Beruf nach. Wenn sie verheiratet sind oder sich auf die Ehe vorbereiten, leben sie ihre Berufung als „Supernumerarier“, das bedeutet, als veralteter Terminus, den „überzähligen“, außerordent­lichen Beamten. So sind die „Supis“, wie es nur natürlich ist, von der Belastung durch Familie und Beruf absorbiert; sie bemühen sich um die Gegenwart Gottes, beten und besuchen die Messe, im Gefüge des Werkes sind sie aber die Randerscheinung. Sie sind als „Fußvolk“ nicht voll darüber informiert, wohin die Marschrichtung geht, sie sind insofern wichtig, als sie Schlüsselpositionen in der Gesellschaft innehaben und zum Teil sehr gut verdienen, und sie sollten im Idealfall viele Kinder haben, die sie im Geiste des Opus Dei erziehen (lassen) und die der Gemeinschaft dann wie reife Früchte als „neue Berufungen“ in den Schoß fallen.

 

Die „Vollmitglieder“, die Numerarier, also im Amtsjargon die systemisierten Beamten, stehen der Organisation rund um die Uhr zur Verfügung. Obwohl von Seiten des Ordens ausdrücklich beteuert wird, alle Lebensformen seien Ausdruck derselben Berufung, so steht etwa in den Statuten von 1950, Art. 26, daß der Numerarier „das Mitglied des Opus Dei im strikten Sinn“ ist. Sie verpflichten sich zur Ehelosigkeit, leben in Gemeinschaft, geben ihr Einkommen her, und zwar nicht wie die Supernumerarier zehn Prozent, sondern alles; sie unterwerfen ihr Urteil in absolutem Gehorsam dem Gutdünken ihrer „Leiter“, und sie sind Akademiker. Die Gestalt des Numerariers ist, wie der spanische Soziologe und Ex-Numerarier Alberto Moncada angemerkt hat, ein Widerspruch in sich: Er lebt inmitten der Welt, elegant gekleidet, umgänglich, aber vom anderen Geschlecht streng abgewandt; laikal, weltlich, aber in einer klösterlichen Gemeinschaft lebend, die das gemeinsame Gebet pflegt; in der Regel an einen Beruf gebunden und gleichzeitig seinem Leiter völlig verfügbar, ein Diener zweier Herren, ständig zerrissen und überfordert, frustriert durch den Verzicht auf all das, was er im Alltag vor Augen hat und kennt, wenn er sich nicht resigniert darauf beschränkt, das Werk für sich denken zu lassen und das gepflegte Ambiente seiner Häuser und das liebevoll zubereitete Essen zu genießen. Die Numerarier, die innerhalb des Opus Dei die Priesterweihe empfangen, widmen sich als „Numerarier­priester“ den internen seelsorglichen Aufgaben der Prälatur; manche von ihnen machen „Karriere“ – als Regionalvikare, in den zentralen Leitungsgremien, aber auch als Bischöfe – im Augenblick sind dies etwa vierzig von ihnen, darunter die Kardinäle Herranz und Cipriani.

 

Daneben leben die Assoziierten, früher „Oblaten“, die volle Hingabe in Armut, Keuschheit und Gehorsam; sie sind nicht notwendigerweise Akademiker, und sie leben auch, aus bestimmten, dauerhaften Gründen, nicht in der Gemeinschaft eines Zentrums zusammen. Falls einer von ihnen zum Priester geweiht wird, lebt er als „Koadjutor“ weiterhin für sich und geht seiner, dann klerikalen, Arbeit nach. Diözesanpriester, die sich dem Opus Dei anschließen wollen, können dies durch die „Priestergesellschaft vom Heiligen Kreuz“, die mit der Prälatur untrennbar verbunden ist. Es kann also sein, daß man bei einem „gewöhnlichen“ Pfarrer beichtet, der, als Mitglied der „Priestergesellschaft“, dem Opus Dei angehört.

 

Die gleiche Einteilung gilt bei den Frauen: So gibt es die zölibatär lebenden, akademisch gebildeten Numerarierinnen, die Assoziierten und die Supernumerarierinnen, daneben, als weibliches Spezifikum, die Auxiliarinnen (bis 1965 hießen sie „Sirvientas“, „Dienerinnen“, vergleichbar den Laienschwestern in einem Orden). Sie nehmen ihren Numerarier-Brüdern und Schwestern die „Heiligung“ dort ab, wo es um schlichte Hausarbeit geht. Während das Opus Dei von ihrer Tätigkeit als dem „Apostolat der Apostolate“ schwärmt und ihren unbezahlten Dienst mit dem Euphemismus „Verwaltung unserer Häuser“ umschreibt, werden sie in strenger Zucht gehalten, sie müssen während ihrer Arbeit beständig Stoßgebete verrichten und dürfen niemals ohne Begleitung einer Numerarierin das Haus verlassen.

 

Dabei werden zwischen Männern und Frauen deutliche Unterschiede gemacht, die sich durch hundertfache Wiederholung tief in das Bewußtsein der Mitglieder eingraben. Nach jeder einzelnen „Norm“, jedem Gebet, jedem Vortrag im Werk schließt der ranghöchste anwesende Numerarier mit dem Stoßgebet „Sancta Maria, spes nostra, sedes sapientiae: ora pro nobis!“, „Heilige Maria, unsere Hoffnung, Sitz der Weisheit, bitte für uns!“ In der weiblichen Abteilung wird diese letzte Anrufung durch den Titel „Ancilla Domini“, „Magd des Herrn“ ersetzt. Daß dies keine Zufall ist, bestätigt Punkt 946 des „Weges“, in dem es heißt: „Frauen brauchen nicht gelehrt zu sein, es genügt, wenn sie klug sind.“

 

Die Bezeichnungen „Werk des hl. Michael”, „St. Gabriel” bzw. „St. Raphael” dienen als Chiffre für die unterschiedlichen Aufgaben der Vereinigung. Der Erzengel Michael, der Sieger über Satan, sowie der Apostelfürst Petrus, der in seinem Nachfolger, dem Papst, die rechte Lehre garantiert, stehen für die zölibatären Mitglieder; die Numerarier und Assoziierten. Der Erzengel Gabriel, der Maria die frohe Botschaft ihrer Mutterschaft überbracht hat, ist als Schutzpatron für die Arbeit mit verheirateten Erwachsenen bestellt, zusammen mit dem heiligen Paulus, der auf seinen Missionsreisen oft bei Ehepaaren einkehrte. St. Raphael ist jener Engel, der im Alten Testament den jungen Tobias begleitet und beschützt; gemeinsam mit dem Evangelisten Johannes steht er für die Jugendarbeit des Opus Dei.

 

Zwei Konzepte von dem, was das Werk Gottes in Wirklichkeit sei, stehen einander schroff und unvereinbar gegenüber – die Heiligkeit der gewöhnlichen Menschen, die, abgetötet und bedürfnislos, mit hinreißendem Charme um ihre Mitmenschen bemüht, ihre Arbeit perfekt und mit dem Blick auf Gott verrichten, und daneben die manipulierende Sekte, die halbe Kinder unter falschen Versprechungen anlockt und an sich bindet, sie finanziell ausnützt, vor schmutzigen Tricks, Kontakten zur Mafia und der Zusammenarbeit mit Diktatoren nicht zurückschreckt und daneben den Vatikan mit vielen Millionen zu beeinflussen sucht. Buch und Film „Sakrileg“ arbeiten mit solchen Klischees, der Autor Dan Brown stellt plastisch dar, was solchen Leuten zuzutrauen ist, wenn es auch nicht sein Anliegen war, explizit über Opus Dei zu schreiben. Er hat punktuelles Detailwissen, vor allem aus dem Internet, doch paßt manches in seiner Darstellung nicht: Kein Mitglied trägt eine Kutte, kein Albino hätte eine Chance, Numerarier zu werden – der elitäre Anspruch erstreckt sich auch auf das Äußere.

 

Faktum ist, daß das Opus Dei ganz auf die Person des „Vaters“ zugeschnitten ist, daß es einer autoritären Lebensweise in der Façon der vorkonziliaren Kirche huldigt und daß es für den allein entscheidenden Kern seiner zölibatären Mitglieder Menschen braucht, die die unbedingte Unterwerfung unter eine Autorität akzeptieren. Dabei gilt es, eine Menge Ungereimtheiten zu ertragen; kontrolliert, durch Beruf und eine Vielzahl interner Aufträge belastet, soll man als normaler Laie „in der Welt wirken“, soll den anderen, mit denen man nicht in ein Restaurant, Kino oder Theater gehen darf und für die man kaum Zeit hat, Christus vermitteln, in einem „Apostolat der Freundschaft und des Vertrauens“, in dem jeder Schritt und jedes Gesprächsthema vorher mit den „Direktoren“ abgesprochen und nachher jede Bemerkung des „Kandidaten“ vom „Örtlichen Rat“ analysiert und ausgewertet wird; und sollte sich der Freund tatsächlich vom Ideal der säkularen Heiligkeit angezogen fühlen und um die Aufnahme bitten, hat man die Pflicht, sich von ihm zurückzuziehen, damit die streng hierarchische Ordnung „zu Hause“ nicht durch „besondere Freundschaften“ gestört wird.

 

Die einzige Möglichkeit, hier halbwegs unbeschadet zu überleben, ist es anscheinend, dickfellig und pragmatisch die erlaubten Vergnügungen zu genießen, sich um nicht mehr zu bekümmern, als was angeordnet wurde, und rein äußerlich den Anforderungen eines Gott geweihten Lebens Genüge zu tun. Hinter der angepaßten Fassade aber leben so manche ihre persönliche Unordnung aus, sei es, daß sie trinken, exzessiv rauchen, den anderen gegenüber ihre Superiorität hervorkehren oder aber im Berufsleben Erholung von den ständig präsenten und nie ganz einsichtigen Anforderungen der Berufung finden. Nicht selten findet sich unter den Zölibatären im Werk jener leicht lenkbare Typus eines „hingegebenen“ Menschen, dessen Energien und dessen Lebensfreude durch Angst vor der eigenen Sexualität gehemmt sind und dessen Obsession sich in einer angstvoll geprägten, daher auch oft masochistisch orientierten Phantasiewelt auslebt.

 

Für alle diese Ausprägungen sind Belege beizubringen; die Gestalt des kettenrauchenden, spöttisch herablassenden, ja zynischen Numerariers auf der mittleren Leitungsebene ist notorisch, ebenso auch der betont freundliche, immer lächelnde „Sunnyboy“ mit dem Scherzwort auf den Lippen, der dann hinter verschlossenen Türen seine Dominanz auslebt und sein Gegenüber verbal bloßstellt. Ich kenne den Monsignore, der mehrere Liter Wein pro Tag braucht und dieses Suchtverhalten durch aufgesetzte, zerstreut sein sollende Intellektualität überspielt, den Priester, der seine Religionslehrertätigkeit dazu verwendet, sich in der Schule Spielfilme anzuschauen; es gibt aber auch den Wissenschaftler, der gelegentlich durch unreflektierte „witzige“ Bemerkungen einen Blick in sein Innenleben gestattet. Als junger Zölibatär hatte er einem Burschen, der mit einem Skateboard in den Jugendclub kam, den Weg zur nächsten U-Bahn-Station erklärt; es ging bergab, und an einer Straßenecke befand sich die Auslage eines Möbelgeschäfts. „Wenn du da nicht bremst“, erklärte der junge Herr lachend, „landest du gleich im Bett.“ Ein anderes Mal zeigte sich seine überhitzte Fantasie, als er den Bewohnern des Studentenheims eine Neuerung präsentierte: An der Stiege zwischen den Stockwerken war eine Kordel angebracht worden, durch die in Zukunft deutlicher angezeigt werden sollte, daß man jetzt nicht durchgehen könne, weil dort gerade die „Verwaltung“, also die Frauen, am Putzen waren. Er erklärte die Anpassung in der Hausordnung, nahm dann die Kordel in die Hand, führte damit einige Schläge in die Luft und äußerte launig: „Das kriegt die Verwaltung, und es wird so angewandt.“

 

Niemand soll behaupten, all dies seien Einzelfälle: Die Verformung, die eine Seele durch unqualifizierte, in der Kirche einzigartige Eingriffe in das Gewissen und das innere Leben erfahren hat, ist durchgängig. In diesem Buch beschreibe ich meine persönliche Geschichte: Als Schüler vom Religionslehrer angeworben und in Abhängigkeit gehalten, vom 19. bis zum 28. Lebensjahr als Assoziierter zur Verfügung der Organisation, habe ich viele Jahre gebraucht, bis ich wieder zu mir gefunden habe und auch wieder betend vor Gott treten konnte. Ich habe dabei der Vorgeschichte meiner Berufung breiten Raum gewidmet. Schließlich ist ja mittlerweile breit dokumentiert, was die gleichgeschaltete Menge der Mitglieder tut oder nicht tut, und es wird auch zum Teil von der Organisation als Beweis für Offenheit an eindrucksvollen Einzelschicksalen dokumentiert. Wie in aller Welt aber ein Mensch dazu zu bringen ist, daß er all dies tue, das ist die Frage, die oft gestellt und kaum je beantwortet wird.

 

Niemand soll sagen, es handle sich bei dem, was ich erlebt habe, um die bedauerlichen Miß­griffe einzelner Mitglieder. Selbstverständlich gibt es überall, wo Menschen zusammenleben, Mißbrauch und Manipulation; selbstverständ­lich gibt es auch überall dort, wo Menschen zu gläubiger Hingabe bereit sind, die Tendenz, diese Bereitschaft in ihrer blinden Wehrlosigkeit auszunützen – aber hier ist all dies nicht nur tendenziell, sondern organisiert vorhanden, nicht um einer erhöhten Wirksamkeit willen, sondern einzig zur Verherrlichung der Vaterfigur des Gründers, in blinder Nachfolge eines von sich und seiner Sendung manisch besessenen Priesters. Den Willen stärken und dann „¡caudillo!“, „Führer!“ sein – die deutsche Übersetzung von Punkt 19 des 1939 erschienen „Wegs“ umschreibt das Unwort diskret, mit „führender Mann“, aber die Parallelen sind schlagend: der Provinzler mit starker Mutterbindung, der verhinderte Künstler, der immer „etwas Besonderes“ war, der reden und faszinieren konnte, der autokratische Schreihals, dem die wirkliche Bildung fehlte und der sich gerade deshalb die Wirklichkeit zurechtbiegen konnte, der wenig Begabte, der fanatische Gefolgsleute fand und mit viel Glück zur richtigen Zeit am richtigen Platz war – in Nachkriegs-Spanien ebenso wie in der Krise nach dem Konzil.

 

Unter den Augen der Kirche, die in diesen Jahren der sklerotischen Einschrumpfung ihrer äußeren Machtstellung fasziniert auf diese „Laien“-Gemeinschaft gestarrt hatte, die sich nicht nur äußerst lebendig und erfolgreich zeigte, sondern auch Tausende Priesterberufe hervorbrachte, entfaltete sich eine Geistigkeit, die Psychosen hervorruft und Religion zerstört. Jede Woche wurden mir die Worte des Gebetes vorgeschrieben, die Zahl der Stoßgebete befohlen. Die Beziehung des Menschen zu Gott wird solcherart eingestampft, enteignet und organisierbar gemacht; die Gnade wird der Statistik geopfert. Der damalige Chef des Werkes, Alvaro del Portillo, ließ von seinen Priestern zusammenzählen, wie viele Messen sie für die Errichtung der Personalprälatur aufgeopfert hatten, als dieses Anliegen verwirklicht worden war – „Mathematik der Gnade“ heißt diese Form pervertierter Gotteskindschaft.

 

Sprach Ecrivá in den fünfziger Jahren gern vom beruflichen Prestige als dem Angelhaken (anzuelo de pescador), der die besten Köpfe anlocken sollte, so war in den Siebzigern nur mehr vom Grundschleppnetz (red barredera) die Rede. Seine Menschenfischer haben mit ihnen jedenfalls ver­heerenden Schaden angerichtet, der von den Oberhirten ange­sichts der auch sonst entmutigenden Gesamtsituation und dank der einstweilen noch da und dort reichen Ernte gnädig übersehen wird, mag sie auch durch Raubbau oder gar Schwindel zu­stande gekommen sein. Weltanschaulich unsichere, suchende oder aber religiös gefestigte, aber im praktischen Leben unsichere Jugendliche, die sich dem Apostolat des Opus Dei nä­hern bzw. von diesem erfaßt werden, finden sich ohne Rücksicht auf persönliche Umstände einem standardisierten Programm unterworfen, das den Keil­programmen aggressiv werbender Finanzdienst­leister ähnelt. So listet ein Papier vom 26. Juni 2004 27 Schritte auf, „damit jeden Monat ein Mädchen um die Aufnahme bittet“: kennenlernen, spazierengehen, gemeinsamer Sport bis zu genauen Anweisungen, wann die „Kandidatin“ mit welchen Gebeten beginnen oder beichten gehen soll (vgl. http://www.opuslibros.org/html/27_PASOS.htm). Einmal in den Fängen des „Octopus“, ist zwar weiterhin viel von Wachstum und innerem Leben die Rede; in Wahrheit geht es um das „Funktionieren“ des Rekruten in einer auf ein hübsches Zuhause hingetrimmten Miliz-Kaserne, auf deren Teppiche man nicht treten und an deren Polstermöbel man sich nicht anlehnen darf. Das Opus Dei betreibt keine Seel-Sorge, schon gar nicht an seinen Mitgliedern; Zahlen und Figuren sind ihm wichtig, es zählt seine Numerarier, ihre Einkünfte und Stoßgebete; aber die „Brüder“ sind einander fremd, sie kennen einander nicht und fühlen deshalb auch nicht miteinander, denn sie definieren sich nur vertikal, über ihre Leiter. Welches Mitgefühl kann auch es unter solchen „Geschwistern“ geben, denen es ausdrücklich verboten ist, sich einander mitzuteilen, denn in klarem Widerspruch zu Kanon 212 § 3 des geltenden Kirchenrechts, das den freien Meinungsaustausch unter den Gläubigen garantiert, heißt es: „Es wird niemals angebracht sein, daß die Gläubigen des Opus Dei untereinander über ihr inneres Leben oder persönliche Sorgen sprechen.“ (Katechismus des Werkes, Nr. 221)

 

Gott ruft beim Namen; der Teufel numeriert. Die ausgetretenen Mitglieder bleiben sich selbst überlassen; die Bitte um seelsorgliche Betreuung wird nicht beantwortet, Priestern wird viel lieber die Laisierung als die Inkardinierung in eine Diözese zugestanden. Das „Wachstum“ des Opus Dei gleicht einem Tumor, der sich ohne Rücksicht, ja zum Schaden des Gesamtorganismus entwickelt. Der Krebsschaden am Leib der Kirche ist evident; das Werk Gottes, so reich und mächtig es sich gerieren mag, ist trotz aller gegenteiligen Versicherungen in einem steilen Abstieg begriffen, und sobald die Fassade Risse zeigt, wird auch im Vatikan der vormalige Hoffnungsträger mit anderen Augen gesehen werden. Der Koloß steht auf tönernen Füßen; ein Federstrich des Papstes reicht aus, die „Personalprälatur“ in dieser Form Geschichte sein zu lassen.

 

Niemand soll sagen, es handle sich beim Inhalt meiner Aufzeichnungen um das Ressentiment eines Gescheiterten – so stellt es das Opus Dei gerne dar und immunisiert sich dadurch gegen Kritik. Ich habe das Spiel nicht verloren – die Spielregeln waren faul. Den aktiven, „treuen“ Mitgliedern steht die zehnfache Zahl an ausgetretenen gegenüber; obwohl es schwerfällt, sich den eigenen Irrtum und das Gefühl, mißbraucht worden zu sein, einzugestehen, gibt es mittlerweile zahlreiche Ehemalige, die sich zu ihrer Lebens­geschichte bekennen und die Dinge beim Namen nennen. 47 Personen haben sich an die vatikanischen Dikasterien gewandt mit der Bitte, einige Besonderheiten aus der Praxis des Werkes, die vom Kirchenrecht nicht gedeckt oder ausdrücklich untersagt sind, überprüfen. Sie stützen sich dabei auf das Dekret Leos XIII. „Quemadmodum“ vom 17. Dezember 1890, das kirchlichen Vorgesetzten ausnahmslos untersagt, die ihnen anvertrauten Gläubigen zu vertraulichen Mitteilungen über Gewissensangelegenheiten zu veranlassen. Das Opus Dei aber mißbraucht die spirituelle Betreuung für das „Aushorchen“ der Mitglieder und hat dies bis jetzt erfolgreich verschleiern können. Die eigenen Gläubigen durften sich über die innere Struktur nicht austauschen und nahmen alles als gottgegeben hin; die kirchliche Hierarchie, unter Johannes Paul II. wohlwollend und „auf dem rechten Auge blind“, ließ sich durch die kurze und sehr allgemeine Formulierung der „Statuten“ täuschen: „Die Askese und der Geist der Buße, den die Gläubigen des Opus Dei ausüben, bringt auch andere Anforderungen im Leben der Gläubigen der Prälatur mit sich, vor allem die tägliche Gewissenserforschung, die geistliche Leitung und die sakramentale Beichte.“ (Nr. 83 § 2) An keiner anderen Stelle der Statuten wird die geistliche Leitung erwähnt, allerdings sagt das unter Verschluß gehaltene „Handbuch für Priester von 1987“ („Vademécum de sacerdotes“): „Im Opus Dei kommt die geistliche Leitung in erster Linie den Laien der örtlichen Räte zu, mit denen auch die Priester ihr brüderliches Gespräch halten, dann auch den Priestern des Werkes durch die sakramentale Beichte. Die Priester wissen, daß sie im Sinne einer wirksamen Zusammenarbeit in der geistlichen Leitung der Gläubigen der Prälatur normalerweise in allem den Anordnungen zustimmen, die die übrigen im brüderlichen Gespräch erhalten.“ (47)

 

Das Werk Gottes macht heute, achtzig Jahre nach seiner Gründung, den Eindruck einer überalterten, schlecht gelaunten, inzestuösen (80% der Numerarier kommen aus Opus-Dei-Familien) und der Nabel­schau hingegebenen Sekte. Was ich hier vorlege, ist das Dokument eines „Einzelfalls“ – eines von Tausenden –, in aller Breite und Tiefe dargestellt, denn ich wollte nicht nur die bekannten Fakten darlegen, sondern auch den Versuch einer Erklärung liefern, „wie man zu so etwas kommt“.

 

Kindheit in Wien

 

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“ (Ein Mord, den jeder begeht, München 1987, 5) Was Heimito von Doderer in der Stadt Sigmund Freuds, die auch meine Stadt sein sollte, über die Herkunft jedes Menschen geschrieben hat, will ich auch meinen Bekenntnissen voranstellen. Das unverwechselbare Individuum mit der je eigenen Geschichte, die ihre Färbung und ihr Timbre hat, ist da, es lebt eine Zeit, und im besten Fall erkennt es etwas über sich selbst, das ihm hilft, seinen Platz in der Welt zu bestimmen. Nicht weil meine Lebensgeschichte wichtig ist, sondern weil sie so ist, wie sie ist, und weil die Geschichte eines Ichs, wenn nur der Standpunkt definiert ist, helfen kann, die Umgebung zu deuten, schreibe ich sie nieder.

 

Mein Zuhause war das einer bürgerlichen Familie der sechziger Jahre. Als ich als zweiter Sohn meiner Eltern, eines Lehrers und einer Sekretärin, geboren wurde, war dies der Anlaß für meine Mutter, den Beruf aufzugeben. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört der Anblick von Kondensstreifen am Himmel über der Fensterleibung des Kinderzimmers; die Sensation meiner Kindheit war der Schwarz-Weiß-Fernsehapparat, den die Großeltern besaßen, bei denen wir einmal in der Woche die Serie „Daktari“ ansehen durften. Sommers lebten wir alle zusammen in einem Schrebergartenhäuschen am Stadtrand; Anregungen kamen vor allem von Büchern. Ich als der Jüngste empfand die Autorität der vier Großen und des um viereinhalb Jahre älteren Bruders, der sich nicht mit mir beschäftigen mochte, als bedrückend. Brav, angepaßt und außerstande, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, verkroch ich mich in „mein“ Regal auf dem Treppenabsatz, saß auf einem Baum oder versteckte mich im Schuppen. Kontaktarm, mit gutem Gedächtnis und einigen Kenntnissen aus der Welt der Oper und der Philatelie, kam ich mit zehn Jahren ans Gymnasium.

 

Mein Weltbild war konservativ; ich war behütet, zur Sparsamkeit erzogen, kannte einige Plätze in Österreich und an der jugoslawischen Küste, wo wir Urlaub gemacht hatten; tonangebend war der Großvater, der schon durch seine sudetendeutsche Herkunft national geprägt war und ordnungs­politische Maßnahmen als wünschens­wert postulierte.

 

Die Einstellung zur Religion war gebrochen; zwar wurde am Bett der Kinder gebetet und die Sonntagsmesse besucht, aber der Grund war weniger persönliche Glaubensüberzeugung als die diffuse Ansicht, der Ordnungsrahmen der Religion sei gerade für Kinder notwendig, um in den entscheidenden Jahren charakterliche Orientierung zu geben. Diese Haltung, die der Entwicklung einer persönlichen Frömmigkeit wenig förderlich sein konnte, fiel mit den für die Kirche krisenhaften nachkonziliaren Jahren zusammen. Anfang September 1963 wurde ich in der barocken „Rauchfang­kehrer­kirche“ auf der Wiedner Hauptstraße getauft; kurz darauf wurde die Kirche abgerissen, um der „Unterpflasterstraßenbahn“ und einer sakralen Betonhalle Platz zu machen; der Taufkaplan verließ sein Priesteramt und heiratete. Mein Religionslehrer an der Unterstufe, ein ehemaliger Seminarist, erschien mir als ständig genervter, wenig authentischer Mensch, der durch Konzilianz in moralischen Fragen und mit Hilfe seiner Gitarre um Anerkennung warb. So war meine Haltung gegenüber der Kirche einerseits von spöttischer Ablehnung eines überkommenen, aber nicht mehr ganz ernst zu nehmenden Glaubens gekennzeichnet, andererseits spürte ich hier einen unbedingten Anspruch, den ich vor allem in alten Religions- und Andachtsbüchern artikuliert fand. Mit einer Art von Erwartungsangst dachte ich daran, daß ich im Kindergarten von einer Klementinerin gehört hatte, daß es Menschen gäbe, die alles für Jesus aufgegeben hätten; sie lebten in Armut, ohne Familie. Vor allem das Bild eines Einsiedlers stand mir dabei lange Zeit vor Augen. Daneben lag wohl auch etwas wie der Protest gegen die kleinbürgerliche Herkunft, das Bestreben, der duckmäuserischen Haltung der Eltern, wie ich sie verstand, die die Kinder in Zucht hielten, nach außen aber nicht zu rebellieren wagten, eine unbedingte Autorität entgegenzuhalten, die Sparsamkeit durch Askese, die Lebensangst durch Hingabe zu ersetzen und frontal das anzugehen, wovor ich zurückscheute. All das übte eine gruselige Attraktivität aus, wenn es mich auch nicht ansprach, denn die Kirche war für mich ein kalter, lebensfeindlicher Raum mit polternden alten Männern; die Sonntagsmesse war eine erduldete Mühsal, und ich brachte die Zeit hinter mich, indem ich mit halb zugekniffenen Augen in die blendenden Lampen starrte und die Texte der Kirchenlieder für mich parodierte.

 

Im Herbst 1977 trat ich in die Oberstufe des Gymnasiums in der Rainergasse ein, voll Erwartung, aber auch ein wenig bang angesichts der Änderungen im Lehrerkollegium. Es war in der Tat eine spannende Konstellation: Der Zeichenlehrer war Maoist, müde und verbraucht, aber messerscharf in seinen Formulierungen, eine Laus im Pelz der renommierten konservativen Schule; noch radikaler war die Französisch­professorin, die uns zur Abmeldung vom Religionsunterricht überreden wollte, wenn auch ohne Erfolg. Wir, die in den achtziger Jahren jung waren, empfanden die Ideale von 1968 nicht mehr als unser Anliegen; die langen Haare waren bei unseren älteren Brüdern, eine Schülergeneration vor uns, Ausdruck des Lebensgefühls gewesen und gingen uns nichts mehr an. Mit der Wahl Karol Wojtylas zum Papst 1978, mit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan im Jahr darauf war der Konflikt zwischen Ost und West heiß geworden, die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen dem Kommunismus und den abend­ländischen Werten präsentierte sich viel drängender als die Aufarbeitung von Alltags­faschismus und sexueller Entfremdung, wie sie zehn Jahre vorher diskutiert worden waren.

 

Neu als Lehrer für die Fächer Deutsch und Englisch war auch der Literaturwissenschaftler Dr. Kurt Adel. Als „Halbjude“ eingestuft, durfte er nach dem „Anschluß“ gemäß den Nürnberger Rassegesetzen nicht studieren, ja, ungeachtet seiner genialen Begabung und seiner unglaublichen Arbeitsleistung konnte er auch nach 1945 wegen des Widerstandes einiger deutschnationaler Professoren nicht habilitieren. Sein Unglück, das ihn zum Gerechtigkeitsfanatiker gemacht hatte, war das Glück seiner Schüler: Wir hatten einen deutlich überqualifizierten Lehrer; ich wußte, daß er außerdem ein eifriger Katholik war und jeden Tag zur Messe ging.

 

Auch unser neuer Religionslehrer war ein bemerkenswerter Mann: DDr. Ernst Burkhart, hoch gewachsen, asketisch, blond, selbstbewußt und durch seinen Clergyman deutlich als Priester zu erkennen. Seine dicke Brille zeugte von Belesenheit, entstellte aber sein von einer markant vorspringenden Nase gezeichnetes Gesicht noch weiter; aber weder dies noch sein Sprach­fehler, der ihm den Spitznamen „Jeschusch Chrischtusch" eingetragen hatte, hinderten ihn daran, das Gespräch zu suchen und lächelnd seine Netze auszuwerfen. Ich hatte ihn einmal, als Akt persönlicher Mutprobe, angesprochen, was er von Askese halte; er erwiderte: „Sehr viel!“ Einmal sei er in der Zeitung „Wie? Wo?" zitiert worden. Er hatte auf die Frage, was geschehen würde, wenn man eine Frau zum Priester weiht, nur geantwortet: „Gar nichts. Das ist so, wie wenn man einen Kater tauft."

 

Ich hatte über ihn erfahren, daß er „Weltpriester“ sei und dem „Opus Dei“ angehörte; das sagte mir nichts, aber ich faßte den Umgang mit ihm als persönliche Herausforderung auf. Seine unerschütterliche Selbstsicherheit imponierte mir. Als Soldat, so erzählte er, habe er sich beim Einkuppeln eines Anhängers den kleinen Finger abgequetscht; damals hätte er ausgezeichnet Geige gespielt (sein Vater war der Direktor des Wiener Konservatoriums), und um seinen Finger zu retten, habe man ein Stück Knochen von seinem Oberschenkel genommen. Er war graduierter Jurist und hatte als Redakteur der Wochenzeitschrift „Analyse“ gearbeitet, einer Vorläuferin des „Profils“; als er zum Abschluß seiner theologischen Studien nach Rom ging, sei die Zeitung eingestellt worden. Ich empfand diesem Mann gegenüber nicht nur Respekt, weil er einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit hatte als viele andere Pädagogen, die ich kannte, namentlich seine Fachkollegen, ich fühlte auch eine gewisse Genugtuung darüber, daß meine Kirche doch noch imstande sei, lebensvolle und kräftige Gestalten hervorzubringen. Ich ging bei der Schulbeichte zu ihm; sein ungewohnt strenges Nachfragen empfand ich als Ausdruck seines Bemühens um meine Seele, ich vertraute ihm und war froh, einen kompetenten und vorbildlichen Priester gefunden zu haben. In seiner Gemeinschaft, bei seinen Vorgesetzten, war er ebenfalls hochgeschätzt, vor allem wegen seines Eifers, Seelen zu gewinnen; zehn Jahre später, als Klaus Küng zum Bischof von Feldkirch geweiht wurde, bestimmte die zentrale Leitung des Opus Dei ihn zu dessen Nachfolger als Regionalvikar für Österreich.

 

Als Menschen achtete ich ihn, und ich versuchte seinen Ansprüchen zu genügen. Als er mir bei der ersten Beichte ein Gesätzchen vom Rosenkranz zur Buße aufgab, wagte ich nicht zu fragen, wie das ginge, und betete zehn Vaterunser. Einmal drehte mich während der Religions­stunde nach einem Mädchen um; Burkhart wies mich zurecht, aber was mir mehr zu schaffen machte als dieser Rüffel, waren die Tränen in seinen Augen. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß ich ihn enttäuscht hatte, daß er von mir „etwas Besonderes“ erwarte und daß ich alles tun mußte, um dieser Erwartung zu entsprechen.

 

Burkhart hatte sich die Adressen der Schüler verschafft und ihnen Einladungen zu den Veranstaltungen der Jugendclubs des Opus Dei senden lassen; manche gingen aus Neugierde hin, aber ich dachte nicht daran, mich dort sehen zu lassen. Einer meiner Freunde nahm mich schließlich in den „Jugendclub Delphin“ mit, weil sein Vater ihn hingeschickt hatte, er aber keine Lust hatte allein zu gehen. Wir ließen uns alles zeigen; besonders imponierte mir, daß hier junge Christen, die attraktive Berufe hatten, aus apostolischen Gründen zusammen lebten; selbstverständlich beeindruckte mich auch die Kapelle: ein grüner Marmorboden, die Altäre reichlich vergoldet, mit hohen Leuchtern und einem repräsentativen Kruzifix. Hinter dem Tabernakel befand sich als Altarblatt ein Relief der heiligen Familie, ein jugendlicher heiliger Joseph und eine freundliche Maria, die das Jesuskind, auf einem Polster stehend, dem Betrachter entgegenhielt. Auf der einen Seite befand sich ein Bild des Evangelisten Johannes mit einem Kelch, auf der anderen Seite war der Erzengel Raphael mit einem Fisch abgebildet; die Erklärung dazu bietet Punkt 360 von Escrivás Buch „Der Weg“: „Du hast herzlich gelacht, als ich dir riet, deine jungen Jahre unter den Schutz des heiligen Raphael zu stellen: damit er dich wie den jungen Tobias zu einer heiligen Ehe führe - mit einer guten und hübschen und reichen Frau, sagte ich im Scherz. Aber dann, wie nachdenklich wurdest du, als ich den Rat hinzufügte, dich auch unter den Schutz jenes jugendlichen Apostels Johannes zu stellen: für den Fall, daß der Herr mehr von dir verlangt.“ Das Werk braucht und sucht hartnäckig die Berufung von „Numerariern“, die alles hergeben, auf die Ehe verzichten und sich, zur höheren Ehre Gottes und zum Nutzen des Werkes, in die ganze Welt schicken, an jeden beliebigen Platz stellen und sich, mit den Worten des Gründers, „wie eine Zitrone“ auspressen lassen.

 

Drei Inschriften befanden sich in der Kapelle, die wie ein Programm für die waren, die hierher kamen: „DUC IN ALTUM“, „fahre hinaus ins tiefe Wasser“ (Lk 5,4) stand über der einen Tür; „UT EATIS" über der anderen, nach Joh 15,16 „Ich habe euch erwählt, daß ihr hingeht und Frucht bringt und daß eure Frucht bleibt"; auf dem Altar selbst waren die Worte eingemeißelt: „INVENERUNT MARIAM ET IOSEPH ET INFANTEM“, „sie fanden Maria und Joseph und das Kind“ (Lk 2,16). Ehrfurchtgebietend sprach uns da, inmitten eines modernen Betonbaus, die uns schon so fremd gewordene kirchliche Tradition an, mit einem suggestiven Anruf an die, die es lasen und verstanden.

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Das Schuljahr ging vorbei, ohne daß die Lockungen des Werks mich erreicht hätten und daß mehr geschehen wäre, als daß ich einige Male bei Burkhart zur Beichte gegangen wäre; dennoch war ich ein anderer Mensch geworden. Anfang Juni hatte ich mich firmen lassen, für mich keine Formalität, sondern ein Akt persönlicher Bekehrung. Von jetzt an nahm ich meinen Glauben ernst, war auch bereit, ihn nach außen zu vertreten und zu verteidigen, und als Ausdruck dieser Haltung ging ich jeden Morgen zur Messe. Jeder Tag begann mit dem bewegenden Erlebnis der Gegenwart Gottes, einem Gefühl von Geborgenheit, durchmischt mit der Ahnung, es könnte von mir noch mehr gefordert werden. Ich lebte in meiner eigenen Welt, die mich immer mehr von meinen Klassenkollegen isolierte. Daß ich in der Messe meinen Lehrer Kurt Adel sah, freute mich; Trost bedeutete es, wenn auf dem Schulweg die Kuppel der Karlskirche über dem Häusermeer der Wieden herübergrüßte oder ich irgendwo ein Marienbild entdeckte. Ich war so weit versunken, daß ich erschrocken zusammenzuckte, als mich meine Sitznachbarin am Ellbogen antippte, um mich etwas zu fragen – eine Frau hatte mich berührt!

 

Im Sommer hatte ich mit den Eltern eine Reise durch Frankreich unternommen; sehr gegen meinen Willen, weil ich dadurch an der Erfüllung meiner freiwillig übernommenen religiösen Verpflichtungen gehindert war. Während ich an den Stränden die Muße und Schamlosigkeit einer Überflußgesellschaft erlebte und mich bemühte, der optischen Anfechtungen Herr zu werden, sah ich die Zeugen einer christlichen Vergangenheit vergessen und mißachtet. In Carcassone, wo die Jugendherberge in einem aufgelassenen Kloster untergebracht war, befand sich der Schlafsaal in der ehemaligen Kapelle; das Presbyterium hatte als Bühne gedient und war durch einen Vorhang verdeckt. Aufgewühlt und vom Wunsch beseelt, der beleidigten göttlichen Majestät Genugtuung zu verschaffen, verbrachte ich eine schlaflose Nacht. Mindestens ebenso beschäftigte mich der Anblick der Kirchenruine von Maguelone; ich stieg ungesehen auf den Chor hinauf, ging in die Knie und schwor, alles zu tun, um die geschändete und beiseite geschobene Kirche Gottes wieder heben zu helfen.

 

Als ich im Herbst in die Schule zurückkam, war Burkhart als Religionslehrer an das „Theresianum“ gewechselt, wo er bald als eifriger Apostel ins Gerede kam. Sein Nachfolger, ebenfalls ein Priester des Opus Dei, war DDr. Wewerka. Gewisse Ähnlichkeiten waren da, denn Wewerka spielte Trompete, er war vor seiner Priesterweihe als Assistent für Pädagogik an der Universität von Navarra in Pamplona tätig gewesen, und er betonte, daß er gelegentlich in seiner Freizeit Faltboot fuhr. Allerdings fehlte ihm die Überlegenheit seines Vorgängers; er unterrichtete das erste Mal koedukativ geführte Jugendliche, und man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel. Die Atmosphäre von flirtenden Teenagern, frivole Äußerungen und mehr oder weniger freizügige Poster an den Wänden machten ihm zu schaffen; ein Schülerpärchen, das eng umschlungen die Stiegen hinunter ging, brachte ihn so aus der Fassung, daß er dies Tage später in einer Predigt erwähnte. Er durchlitt in diesem Jahr eine tiefe Krise; er schwitzte, zwinkerte mit den Augen und erwähnte öfter als nötig die Tatsache, daß er Priester sei, meistens in dem Zusammenhang, daß sich dieses oder jenes für ihn nicht schicke, zum Beispiel als er von einer Schülerin zu einer Ballettaufführung eingeladen wurde.

 

Mir persönlich tat er leid, vor allem weil er sich in der Klasse nicht durchsetzen konnte. Ich beichtete gelegentlich bei ihm. Nachdem ein Freund aus der Schultheatergruppe mir vorgeschwärmt hatte, daß es im „Jugendclub Delphin“ feierliche sakramentale Segens­andachten mit „Gregorianischen Chorälen in italienischem Latein“ gebe, begleitete ich auch ihn dorthin, und bald wurden die Besuche im Club für mich zur Gewohnheit. Einmal hatte ich zu Wewerka in der Beichte, vor seinem Schreibtisch kniend, über meinen Wunsch, Priester zu werden, gesprochen; als ich wieder Platz genommen hatte, zündete er sich eine Zigarette an und fragte, ob er einen Punkt aus meiner Beichte herausgreifen dürfe – meinen Berufswunsch. Er meinte, Gott brauche auch in der Welt Menschen, die sich ihm hingeben; das Opus Dei suche schließlich auch Berufungen, und es wäre eine Versuchung zu glauben, es gäbe einen Platz, an dem man seinen Glauben ungefährdet leben könne; man müsse die Menschen dort abholen, wo sie stünden, in der Welt, vor allem die Jugendlichen, denn wenn man die gewonnen habe, habe man die Zukunft erobert.

 

Ich war froh über diesen Zuspruch; andererseits war ich doch sehr verunsichert, wie mein weiterer Weg aussehen sollte. Offenbar hatte das Werk kein Interesse, mich Gott näherzu­bringen und zu einem selbstbewußten Apostel auszubilden. Niemand redete mich an, niemand verhielt sich spontan, und wenn jemand das Wort an mich richtete und ich ein religiöses Thema ansprach, fuhr man mir mit den Schlagwörtern „laikal“ und „klerikal“ über den Mund. Zu meinem Schrecken wurde ich einmal gefragt, was ich werden wolle; ich erwiderte verlegen „Philosoph“ und erntete hämisch-überlegenes Feixen; ich galt als seltsamer Vogel und hatte das eben wieder unter Beweis gestellt, weil ich auf eine normale Frage so reagierte.

 

Für mich war es nicht unterscheidbar, wer mir hier jeweils gegenübersaß, ein Numerarier oder ein Besucher; auch unter vier Augen und mit Erwachsenen, die eindeutig Mitglieder der Vereinigung waren, war es nicht möglich, ein religiöses Gespräch zu beginnen, obwohl dies doch den Mittelpunkt und Lebensinhalt dieser Menschen bilden mußte. Nach dem Gottesdienst in der Peterskirche, die vom Opus Dei betreut wurde, ging ich einmal mit Albrecht Gamillschegg, damals Jusstudent, in Richtung U-Bahn. Ich versuchte, mit ihm ein Glaubensgespräch zu beginnen, durchaus in der Intention, mich von ihm als dem Älteren belehren zu lassen; er ignorierte allerdings völlig meinen Gesprächsansatz und erzählte mir, wo es schicke und preiswerte Krawatten zu kaufen gab. — So konnte ich weder hoffen, als „Laienapostel“ in der Welt zu wirken und anderen auf attraktive Weise meine Ideale nahezu­bringen, noch „durfte“ ich die Welt verlassen und mich auf einen kirchlichen Beruf vorbe­reiten. Ich befand mich ein einem unerträglichen Niemandsland, denn Wewerka hatte zwar meinen vorsichtig geäußerten Wunsch nach dem Priestertum so weit zerstört, daß ich ihn nie wieder äußern sollte, aber er hatte nichts an seine Stelle gesetzt. Mit war auch angesichts des spöttischen oder abweisenden Verhaltens der anderen klar, daß ich im Opus Dei keinen Platz hatte; daß es Laienmitglieder gab und welchen Status sie hatten, darüber hatte man mit mir nicht nur nicht gesprochen, es war diese Frage so sichtlich mit einem Odium von peinlicher Verlegenheit behaftet, daß ich daran nicht zu rühren wagte. Ratlos machte mich ihre Haltung gegenüber den anderen Korporationen der Kirche. Während offiziell von Hochachtung und Toleranz die Rede war, „jeder Wanderer solle seinen Weg gehen“, keiner auf den anderen herabsehen, gehörte es zum Ton des hier üblichen und auch vom Gründer goutierten Machogehabes, sich über Nonnen lustig zu machen (vgl. Tapia 184), und Burkhart selbst merkte einmal launig an, das Kennzeichen klösterlichen Lebens seien Erbsensuppe und Schweißfüße. Ich sah jedenfalls, daß mein Weg nicht dieser war; dem­entsprechend suchte ich zwar den Kontakt mit dem Priester, dem ich vertraute, mied aber alle Aktivitäten des „Clubs“.

 

Der „Lokale Rat“ des Zentrums, von dem ich nichts wußte, der sich allerdings mit mir befaßte, war offenbar zu dem Ergebnis gekommen, daß ich nicht für das Werk tauge. Paradoxerweise lag das hauptsächlich an meiner tiefen persönlichen Beziehung zu Gott; da ich jeden Tag in die Messe ging, war ich offenbar, so meinte man, schon von anderen kirchlichen Gruppierungen beeinflußt worden – was so ja keineswegs stimmte; ich lebte eingetaucht in Gott und so beschaulich, daß ich häufig in der Messe, bei der Wandlung vor Ergriffenheit zu weinen begann. Da ich allerdings mit meiner Eigenart hier nicht willkommen war, suchte ich weiter. Einer Gruppe aus der Pfarre, die die verfolgte Kirche in der Tschechoslowakei unterstützte, sagte ich meine Hilfe zu; ein „Präsidium“ der „Legion Mariens“ an der Karlskirche warb mich an. Ich ging mit ihnen auf Straßenapostolat; wir verschenkten Marienmedaillen, baten Passanten um ihr Gebet, und ich verteilte die „Wunderbare Medaille“ auch an meine Mitschüler. Meine Hingabebereitschaft wuchs, allerdings schwand mein Vertrauen in die Lebendigkeit und Durchschlagskraft meiner Kirche. Einer nach dem anderen aus der „Legio“ verabschiedete sich, und besonders eigenartig dabei war, wie das vom „Präsidium“ aufgenommen wurde. „Michael ist jetzt beim Roten Kreuz“, hieß es etwa, als ob das eine ein Hindernis für das andere darstellte und als ob es nicht auch denkbar gewesen wäre, das „Rote Kreuz“ zu unterwandern, als Sauerteig auch in diesem Teig aufzugehen. Den Höhepunkt meiner Verwirrung markiert wohl die folgende Anekdote. Ich hatte mich zu einer Veranstaltung der „Legio“ in die Rochuskirche einladen lassen, saß dann bei der Agape, und mit dabei der geistliche Leiter, Pater Hermann aus Göttweig, derselbe, welcher später als Kardinal Groër wegen seiner pädophilen Übergriffe traurige Berühmtheit erlangen sollte. Groër, dem von mir erzählt worden war, sprach mich an: „Sie sind Mitglied von Opus Dei?“ Ich sah ihn offen an und erwiderte, wahrheitsgemäß: „Ich weiß es nicht.“

 

Zusätzlich oder auch infolge all dieser verwirrenden und zermürbenden Erlebnisse erkrankte ich an Morbus Crohn, einer chronischen Entzündung der Darmschleimhaut, ich litt an Bauchschmerzen, Fieberschüben und chronischen Durch­fällen und hatte stark an Gewicht verloren. Ich sehe diese Erkrankung, von der ich geheilt bin, heute mit anderen Augen, als psychosomatische Folge des Abscheus vor dem eigenen Körper und damit vor mir selbst; schließlich hat es die Kirche über Jahrhunderte hinweg verstanden, junge Menschen durch das Gebote der Keuschheit zu verunsichern und so lenkbar zu machen. Der Schule widmete ich zwar noch die nötige Aufmerksamkeit und bemühte mich fleißig, zu sein, aber ich war längst kein so glänzender Schüler mehr wie früher.

 

Eigenartigerweise geschah an dieser Stelle etwas, was für das Opus Dei typisch ist; offenbar mußte ein „von oben“ erteilter Befehl zur Intensivierung des Apostolats mit Jugendlichen umgesetzt werden, und das geschah dann jeweils ruckartig und rücksichtslos, mit der „heiliger Unverschämtheit“, aber auch mit der Angst dessen, der sich seinen Vorgesetzten ausgeliefert sieht. Nun, nachdem das Werk zehn Monate lang die Frage meiner Berufung ignoriert hatte, kam unerwartet eine Zumutung, die mich sprachlos machte.

 

Ich hatte im Club einen Priester gesucht, aber weil hier gerade ein Sommerkurs stattfand und die Damen der „Verwaltung“ putzten, bemühte man sich, mich möglichst schnell loszuwerden. Also ging ich, mit staubiger kurzer Hose, weil ich meinen Eltern bei der Räumung der Wohnung einer verstorbenen Tante geholfen hatte, abgemagert und nunmehr bereits erschöpft zu Fuß in die Peterskirche und fand dort den gesuchten Kaplan des Werks in seinem barocken Beichtstuhl. Nach meinem Bekenntnis, aber noch vor der Lossprechung eröffnete mir der Priester, ich solle, neben meinem gewohnten sakramentalen Leben auch Hilfe von Meinesgleichen, also das Gespräch mit einem Laien suchen – und er hatte eine ganz bestimmte Person im Auge –, denn es sei in der heutigen Zeit sehr schwer, den Glauben zu bewahren, und ich hätte eine große Verantwortung Gott gegenüber. Alles in mir sträubte sich gegen diesen Vorschlag, und ich sagte auch, daß ich das nicht wolle; die Herren, die ich in der Mittelgasse kennengelernt hatte, waren mir unsympathisch und wenig geheuer, ich wollte mich ihnen nach den Erfahrungen, die ich im Gespräch mit ihnen gemacht habe, keinesfalls anvertrauen.

 

Tränenüberströmt wartete ich nun, kniend, fast eine Stunde lang auf die Lossprechung; stattdessen sprach der Priester ruhig und beharrlich auf mich ein, meine Verpflichtung erwähnend, und es wirkte auf mich so, als verweigere er mir die Absolution, bis ich ihm versprochen hätte, mich seinen Wünschen zu fügen. An einen Besuch der heiligen Messe, wie ich ihn vorgehabt hatte, war nun nicht mehr zu denken, und ich fürchtete, daß für mich jede weitere Beichte ungültig sein müsse, wenn diese nicht ihr ordnungsgemäßes Ziel erreiche; die Folge, die sakramentale Trennung von Gott, würde mich in heillose Unordnung stürzen. Dazu kam noch, daß der Priester mich unterbrach, als draußen im Kirchenraum die Wandlungsworte gesprochen wurden – das erinnerte mich einerseits daran, wie gerne ich zur Kommunion gegangen wäre, andererseits verstärkte es die Dramatik der Situation. In einem Anfall von Verzweiflung versprach ich alles zu tun, was er verlangte; rasch sprach er die Absolutionsformel (er hatte Angst, ich könnte ohnmächtig werden), bat mich allerdings, im Beichtstuhl zu bleiben, bis die Meßbesucher die Kirche verlassen hätten, damit mein verheultes Gesicht keine Aufmerksamkeit errege. Ich ging, verwirrt und unglücklich, in den Händen die Telefonnummer eines jungen Wissenschaftlers.

 

Ich hielt Wort. Der Fünfzehnjährige erhielt einen Termin bei dem Universitätsassistenten, der an der Akademie der Wissenschaften arbeitete. Freundlich und im Bilde über meinen Anruf, beschied er mich in die Akademie und nutzte die ganze Autorität, die er aufgrund seines Alters­ und seines Bildungs­vorsprungs hatte, um mir das zu sagen, was ich schon vom Priester gehört hatte; niemand könne in der heutigen Zeit seinen Glauben ohne Hilfe bewahren. Wohl sagte ich manches, was mir nicht paßte, z. B. daß sich der Generalpräsident des Opus Dei mit „Vater“ ansprechen ließ. Aber er hatte auf alles eine Antwort, etwa die, daß „Padre“ im Spanischen die übliche Anrede für einen Priester sei. Er empfahl mir, jeden Tag Christus in einer Kirche zu besuchen, zusätzlich zur Messe, allerdings auch nicht öfter als einmal am Tag; und er erzählte mir, daß er selber die Gewohnheit hätte, sich beim Vorübergehen an einer Kirche zu bekreuzigen. Eine Ausnahme mache er nur, wenn ihm gerade ein Mädchen entgegenkomme, denn es könne das Handzeichen als Provokation oder als Anbiederung empfinden. Im übrigen solle ich vor den Frauen keine Angst haben, denn sie seien schwach; er habe selbst gesehen, wie eine Frau mit Stöckelschuhen auf einem Zebrastreifen „einfach umgefallen“ sei. Wenn die Männer mit ihrer Beziehung zu Gott ernst machten, würden auch die Frauen folgen; es sei nicht nötig, sich extra um sie zu kümmern.

Konditionierung

 

In gemeinsamer Anstrengung gelang es dem Priester und dem Laien, mich auf Linie zu bringen; seit Mai 1979 sprach ich regelmäßig mit dem auf mich angesetzten Herrn. Am ersten Samstag in den Sommerferien stand er plötzlich vor unserem Gartenhäuschen in Floridsdorf, wo wir kein Telefon hatten, und lud mich zu den Einkehrstunden für Schüler am kommenden Vormittag ein; schließlich, so war das Argument, macht der Teufel ja auch keine Ferien. Obwohl es meine Eltern auf das Äußerste befremdete, daß ich einen um so vieles älteren „Freund" hatte, beeindruckte mich dieser Einsatz doch, und ich fuhr hin.

 

Etwa ein Dutzend Burschen waren hier versammelt. Um neun Uhr vormittags begannen, mit einer „Betrachtung“ in der Kapelle, die Einkehrstunden. Mein Beichtvater hielt sie, wie es bei den Priestern des Werkes üblich ist, in der Soutane. Vor dem Altarbild brannten zwei Kerzen; ein altmodisches Beistelltischchen mit einem grünen Tischtuch und ein dazu passender Stuhl standen links vom Tabernakel.

 

Der Priester machte eine Kniebeuge vor dem Allerheiligsten, legte die Bücher und Zettel, die er sich als Grundlage für die halbstündige Meditation vorbereitet hatte, auf das Tischchen und begann, während er das kleine und das große Kreuzzeichen machte, mit ruhiger Stimme das Vorbereitungsgebet: „Durch das Zeichen des Kreuzes befreie uns der Herr von unseren Feinden, im Namen des Vater und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Mein Herr und mein Gott! Ich glaube fest, daß Du hier zugegen bist, daß Du mich siehst, daß Du mich hörst. Ich bete Dich in tiefster Ehrfurcht an. Ich bitte Dich um Verzeihung für meine Sünden und um die Gnade, diese Weile des Gebetes so zu halten, daß sie mir Frucht bringt. Maria, meine unbefleckte Mutter; heiliger Joseph, mein Vater und Herr; mein Schutzengel, bittet für mich.“

 

Schon die Atmosphäre war stimmungsvoll. Der aufgebotene rhetorische Ornat ist beachtlich; das ständige Oszillieren des priesterlichen Monologs zwischen einer Anregung zum Gebet und einem Lehrvortrag hatte manipulatorische Züge, da der Inhalt des eigenen Gebets quasi vorgegeben war; die private Andacht wurde durch Kleriker, Kerzen in der abgedunkelten Kapelle und die unmittelbare räumliche Nähe zum Altarsakrament quasi zur liturgischen Handlung. Das doppelte Kreuzzeichen zur Abwehr der „Feinde“, wodurch die Segensgeste in die Nähe eines apotropäischen Zaubers abgleitet, schafft eine Aura existenziellen Ernstes. Das Leben ist ein Kampf zwischen Gut und Böse, die Entscheidung muß jetzt und hier erfolgen; zum äußeren Ruhigwerden im Gebet tritt die Suggestion einer inneren Alarmbereitschaft. Die Liebeserklärung des Apostels Thomas (Joh. 20,28) an den Auferstandenen steht voran, in der klassischen Redefigur der Apostrophe, voll Theatralik, die Abwendung vom „Zuhörer“ hin zum göttlichen Adressaten auch körperlich vollziehend; und während des folgenden rhetorischen Feuerwerks stehen einander „Er“ und „ich“ gegenüber; auf das Bekenntnis zur Realpräsenz Christi folgt das anaphorische Trikolon „daß Du hier zugegen bist, daß Du mich siehst, daß Du mich hörst“; „Gott“ ist nicht für sich da, in tröstlicher Gegenwart, in die man sich in gelassener Zwiesprache vertiefen kann, sondern er fokussiert seine Gegenwart aufmerksam auf den Beter, der in der angemessenen Haltung der Unterwerfung reagiert. All dies ist antiquiert, „triumphalistisch“, „barock“; das Problem liegt darin, daß junge Menschen der Gegenwart, die dem vorkonziliaren kirchlichen Sprachspiel entfremdet sind und fasziniert in diese Welt eintauchen, sehr leicht einen Transfer vollziehen und diese Subordination, im selben Kreis, auch dort vollziehen, wo sie vollkommen frei sind. Mit der Bitte um Verzeihung der Sünden wird die eigene Inferiorität betont, aber anders als im Schuldbekenntnis der Messe nicht reguliert und in gemeinsamer Feier, die das Individuelle aufhebt, bewältigt. Die ehrwürdig patinöse Sprache tut ein Übriges, mit Attribut verstärkte Archaismen – „tiefste Ehrfurcht“, „Weile des Gebetes“, sowie die altertümelnde Metapher vom „Frucht bringen“. Hier zeigt sich das Angebot, eine verwirrende Welt auf einfache Formeln zu bringen, allerdings muß sich der Hörer dazu auf die Knie begeben. Die abschließenden Gebete, so einfach und „gut katholisch“ sie klingen, unterstreichen das traditionalistische Programm: Die „unbefleckte Mutter“, der patriarchalische „Vater und Herr“ und der Engel erinnern an die grundsätzlichen Spielregeln: Keuschheit und Unterwerfung sind vorgeschrieben, die Erwähnung des Schutzengels erinnert daran, daß wir im Kampf gegen „unsere Feinde“, übermächtige dämonische Mächte, stehen, denen wir voll und ganz ausgeliefert sind, wenn wir nicht treu und gehorsam das einlösen, was Gott von uns erwartet

 

So begann also die Betrachtung, eine Frömmigkeitsübung, wie sie jeden Tag in den Zentren des Opus Dei gepflegt wird, und die umso tiefer wirkt, weil ihre Aussagen von den Beteiligten in der Regel längst internalisiert wurden. Ich erinnere mich gut an die beiden Betrachtungen jenes Vormittags, die mich tief beeindruckten. Die erste handelte vom Apostolat; wir hätten die Verpflichtung, unsere Freunde auf einer schiefen Ebene nach und nach Gott näher zu bringen. So wie unsere Großväter, die im Ersten Weltkrieg an der Dolomitenfront gekämpft hatten, nicht auf Lastenaufzüge oder Hubschrauber warten konnten, sondern die zerlegten Kanonen Stück für Stück den Berg hinaufbefördern mußten, so müssen auch wir, unter Beschuß und Lawinenhänge querend, Christus zu den anderen bringen. Wir dürften uns nicht in unsere Bequemlichkeit zurückziehen, wir müßten uns den Anforderungen der Zeit stellen, den gebieterischen Befehl Jesu Christi befolgen, und der wolle uns eben zu Aposteln machen, uns aussenden, um mit weitem Wurf den Samen seines Wortes auszusäen.

 

Die Worte dieser Predigt trafen mich ins Herz, denn gerade die Fähigkeiten mangelten mir, die hier gefragt waren. Ich war weltfremd und menschenscheu, ich hatte kaum Freunde, und ich wagte es nicht, meine Gedanken vor anderen auszubreiten. Dazu hatte ich mir für die Sommerferien vorgenommen, den Schulstoff noch einmal durchzunehmen, vor allem Mathematik, das mir Schwierigkeiten bereitete, und viel zu lesen, denn ich hatte, dank meines ausgezeichneten Gedächtnisses, des anregenden Elternhauses und meiner wachen, analytischen Aufmerk­sam­keit für mein Alter bereits ein großes Wissen und ein noch breiter gestreutes Interesse. All das sollte ich nun aufgeben, um ein intensiveres Gebetsleben zu führen, andere anzusprechen und meine in alle Winde zerstreuten Klassenkollegen zusammen­zutrommeln und mit ihnen „Freundschaft zu pflegen“. Eben weil mir alles dies herzhaft gegen den Strich ging und mir das Hausieren mit meinen Idealen, an die ich mich eben erst herantastete, völlig zuwider war, glaubte ich hierin den Fingerzeig Gottes zu sehen. Die Menschen waren blind für die Werke Gottes und sein Heil, ich mußte ihnen, um den Preis des Opfers meines Lebens, die frohe Botschaft bringen, und eben weil ich mit diesem Bemühen heillos überfordert war, unterwarf ich mich um so bereitwilliger den Ratschlägen, die mein geistlicher Leiter mir geben würde.

 

Im Gespräch mit dem Priester, das der Beichte folgte, wurde ich belehrt, daß ich die Bücher vorlegen solle; ich sollte nichts mehr ohne den Rat meines Beichtvaters lesen, sollte hinausgehen, Sport treiben, schwimmen gehen (ich litt an ständigen, quälenden Durchfällen und wagte kaum, die Wohnung zu verlassen), nicht im Haus bleiben, sondern spazieren gehen, allerdings nicht allein, sondern immer mit einem Freund.

 

Meine Lebensperspektive verengte sich dramatisch: Mit dreizehn hatte ich „Wilhelm Tell“ gelesen,  zum Libretto gemodelt und zu komponieren versucht; ich hatte zwanzigmal den „Faust“ gelesen und überlegte, wie dieser gewaltige Text auf die Bühne gebracht werden könnte; nun reduzierte sich alles auf Gebet und Opfer. Mit vierzehn hatte ich ein Drama geschrieben, „Wieland der Schmied“, ganz im Stil Richard Wagners, und versuchte damit auszudrücken, was mich bewegte; die „Metamorphosen“ des Ovid hatten mich in ihrer poetischen Ausdruckskraft so beeindruckt, daß ich einige Passagen in leoninischen Hexametern nachdichtete. Mein Beichtvater tat diese Bemühungen ab; meine Zukunft läge sicher nicht im Schreiben von Büchern; ich solle mich den drängenden Dingen des Lebens widmen, dem Gebet und der Rettung der Seelen. Ich nahm mir vor, meine Dichtungen zu verbrennen; Tuschezeichnungen, mit Ölkreiden nachgemalte Ausschnitte aus Michelangelo-Gemälden, aber auch ein Aufklärungsbuch aus dem 19. Jahrhundert sowie meine umfangreiche Bierdeckelsammlung wanderten in den Ofen. „Todo es nada, Dios solo basta! – alles ist nichts, Gott allein genügt” – unter diesem Motto der Theresia von Avila sollte mein Leben in Zukunft stehen, und vieles, wozu ich Neigung gehabt hätte, wurde für lange Zeit unbrauchbar gemacht und verkümmerte.

 

Die zweite Betrachtung, die vom Priester an diesem Vormittag gehalten wurde, behandelte das Thema der „heiligen Reinheit“: „Wer sich vor der kalten Dusche fürchtet, wird ausgelacht.“ Was mich schon anfangs mit Ernst ergriffen hatte, betraf mich jetzt existenziell; von meinen Eltern nicht aufgeklärt, hatten mich die Wandlungen der Pubertät unvorbereitet getroffen, und ich empfand meinem Mannsein gegenüber nur Verstörung. Hier fand ich nun wenigstens Menschen, die zu mir über dieses Thema sprachen, wenn es auch darauf hinauslief, die Regungen des Geschlechts brutal zu unterdrücken. „Um seine Reinheit zu verteidigen, wälzte sich der heilige Franziskus im Schnee: „Dein größter Feind bist du selber.“ (Der Weg, Nr. 225)

 

Ich fühlte mich betroffen; meine Empfindung war, als wäre das Leben in der Welt ein Balanceakt über einem tiefen Abgrund, vom ständigen Absturz ins Bodenlose bedroht, als würde ich, ans Kreuz geklammert, über die Schlucht gehoben, und daß es vor der grauenvollen Angst nur Rettung gäbe, wenn ich mich ans Kreuz annageln ließe. – Als ich dann, nach der Messe, wieder an der Haltestelle der Schnellbahn stand, hatte ich das Gefühl, als hätte jemand in meinem Inneren umgerührt, als gehörte ich nicht mehr mir selbst.

 

Erst nach vielen Jahren – ich war Student, gehörte dem Werk an, hatte meine „apostolischen Aufträge“ zu erfüllen und nahm als „Staffage“ an Bildungsveranstaltungen teil, um erhöhte Frequenz vortäuschen zu helfen, – wurde mir schlagartig klar, daß diese Einkehrstunden ausschließlich für mich inszeniert worden waren; die Themen waren auf meine persönliche Situation und Befindlichkeit zurechtgeschnitten, alle anderen Teilnehmer waren bereits dem Opus Dei beigetreten, und ihre Teilnahme hatte nur den Zweck gehabt, mich ins Boot ziehen zu helfen und für meine Berufung zu beten. Ein anderes Déjà-vu hatte ich beim Lesen der „Passio Perpetuae“, der Vision einer Christin, die am 7. März 203 als Christin in Karthago hingerichtet wurde: „Ich sehe eine bronzene Stiege von wunderbarer Höhe, die bis zum Himmel reicht, und sie ist eng, sodaß man nur einzeln hinaufsteigen kann. An den Seiten der Stiege ist allerhand Eisengerät montiert; dort waren Schwerter, Lanzen, Haken, Messer und Spieße, und wenn jemand nachlässig war und nicht aufmerksam hinaufstieg, wurde er zerfleischt und sein Fleisch hing an den Metallteilen.“ (Pass. Perp. 4,3 f.) Die existenzielle Not eines Menschen, der sein Selbst aufgibt, drückt sich offenbar immer wieder in ähnlichen Bildern aus, und diese Angst kann planmäßig evoziert werden: Im Halbdunkel einer Kapelle habe ich auch schon den Satz gehört, ein Mensch ohne „inneres Leben“ sei wie jemand, der an die Tragfläche eines Flugzeugs geklammert fliegt. Diese Gleichnis beutet die Angst des Berufenen tendenziös aus, denn die Sicherheit, die hier versprochen ist, verlangt unbedingte Unterordnung unter eine Autorität, den „Vater“, wenn man „im Flugzeug“, „im Boot des Werkes“ überleben will.

 

Mein religiöses Leben intensivierte sich in diesen Ferien; um sieben Uhr früh ging ich zur Messe, zu Mittag machte ich den Besuch beim Allerheiligsten, und wenn ich ein drängendes Anliegen hatte und die Kirche bereits geschlossen war, kniete ich auf der Straße davor nieder. Dem Pfarrer blieb das nicht verborgen; er machte sich Sorgen um mich, lud mich ein zu ministrieren, schenkte mir ein Kruzifix und versuchte mäßigend auf mich einzuwirken; nachdem ich ihm einmal bei der Räumung des Pfarrhofs geholfen hatte, zeigte er mir die Dusche, und bevor er mich allein ließ, ermunterte er mich, mich im Spiegel zu betrachten, denn an einem nackten Körper sei nichts Sündhaftes, und ich solle keine Angst vor mir selbst haben; auch die sexuelle Befriedigung „tue ja gut“, es gelte nur, im Lauf der Zeit die richtige Ausrichtung dafür zu finden. Ich glaubte es besser zu wissen und hielt mich um so mehr an die geistige Führung, die ich im Opus Dei erhielt.

 

Hatte ich in früheren Sommern Radtouren unternommen, in der Alten Donau gebadet oder an deren Ufer Äschylos gelesen, den Anblick des Sonnenuntergangs mit allen Fasern genossen, die tausenden Schattierungen zwischen Rot und Blau am Himmel, in den Wolken und in der Spiegelung am Wasser zu erfassen versucht und Sonette über die vielfältigen Stimmungen und Gedanken, die mich beschäftigten und bewegten, gedichtet, so trachtete ich jetzt vielmehr danach, mein Gebet zu steigern. Ich wollte mich „abtöten“, das bunte Leben von mir fernhalten und Apostel sein. Gegen Ende des Sommers erhielt ich eine Ansichtskarte von meinem Ver-Führer, der mich einlud, auf ein Lager mitzufahren, weil ich es „in Wien nicht mehr aushalte“; meine Eltern waren über diese Manipulation verärgert und erlaubten es nicht. Die zweitausend Schilling, die ich dafür beiseite gelegt hatte, spendete ich für den Bau von Brunnen in der Sahelzone.

 

Im Herbst saß ich traumverloren im Unterricht, zeichnete und schraffierte Sonnenaufgänge im Gebirge, Kelche, Hostien und landende Tauben, taumelte von Kirche zu Kirche, nahm schwere Salizylpräparate gegen die ständigen Durchfälle, aß unregelmäßig und fügte meinen Eltern, die mir nichts mehr zu sagen hatten, Kummer zu, weil keiner, der „die Hand an den Pflug gelegt hat und noch einmal umschaut, für das Reich Gottes taugt“. (Mt. 19,21) Ich verachtete sie für ihre materiellen Bedürfnisse, für die Besuche eines Vermögensberaters. Mit meinem geistigen Leiter besprach ich Woche für Woche, was ich gebeichtet hatte; als ich ihm meine Religionshefte aus der Unterstufe zeigte, in denen stand, daß Wunder „keine Durchbrechung der Naturgesetze“ seien, sondern Dinge, über die man sich wundere, zerriß er das Heft sofort, ohne mich zu fragen. Die religiösen Heftchen, die meine geistige Nahrung über den Sommer gewesen waren, nachdem ich mir ja alle anderen „Genüsse“ versagt hatte, warf Franz weg mit der Bemerkung, sie seien „klerikal“, ich sei „der klerikalste Mensch, der ihm jemals begegnet sei“, er wolle mir nicht weh tun, aber „man könne mich, wenn man mich nicht besser kenne, für klerikal halten“. Er warnte mich vor den Freimaurern, weil sie die Kirche zerstören, und gab mir Literatur darüber; der laute, polternde Umgangston im Beisammensein, der teilweise ins Vulgäre ging, das viele Rauchen, das Wichtigtun und das abschätzige Klassifizieren aller anderen sollten „laikal“ und „männlich“ wirken. Das war allerdings auch die Kehrseite einer gewissen Erwartungsangst gegenüber dem Vorwurf der Homosexualität, der immer wieder laut wurde, weil es hier keine Mädchen gab.

 

Ich fühlte mich nicht wohl, fand die Atmosphäre eigenartig, befremdend, schwül, und ich hatte keine Lust mehr zu kommen. Ich hielt es aber für anständig, dies meinem „Betreuer“ persönlich zu sagen. Es war zwar der gewöhnliche Abend der „Betrachtung“, aber heute standen auf der Straße vor dem Club ungewöhnlich junge Männer, in dunklen Anzügen, mit blank geputzten Schuhen, bestens gelaunt, und sie hielten nach einem Auto Ausschau. Meine Frage nach der Betrachtung wurde lachend und ungnädig abgetan; die finde heute nicht statt, ich solle nach Hause gehen. Ich ließ mich aber nicht abwimmeln und bestand darauf, meinen „Freund“zu sprechen. Der kam eilends, lächelte, war aber sehr bemüht, mich in die Portierloggia zu bugsieren, denn „der Vater“ sei nach Wien gekommen, und man erwarte ihn jeden Augenblick. Ich erklärte, daß ich mit dem Getue im „Club“ nichts anfangen könne, daß ich nicht mehr kommen wolle und daß ich wohl das sakramentale Leben eines katholischen Christen führen, aber mir nicht ständig in mein Leben dreinreden lassen und mich noch dazu verwirrenden und einander widersprechenden Zumutungen aussetzen lassen wollte. Ich wollte gehen, und ich sei nur gekommen, um dies mitzuteilen. – Was nun folgte, war eine manipulative Meisterleistung; meinem Betreuer gelang es in der folgenden Stunde, während ich immer wieder in Tränen ausbrach – und draußen, vor den Milchglasfenstern der Loggia, der „Vater“ mit seinen Begleitern unter Blitzlichtgewitter vorbeiging, mich nicht nur davon zu überzeugen, daß ich allein meinen „Glauben nicht werde bewahren können“; er brachte mich auch wieder so weit, den „Club“ als Chance anzuerkennen, andere Burschen Gott näher zu bringen; und schließlich hatte er mich so weit, daß ich sogar die regelmäßige Teilnahme an Clubaktivitäten versprach und – weil dies ja eine Pflicht der Gerechtigkeit sei – daß ich auch dafür sorgen wollte, in Zukunft den Clubbeitrag von 200 Schilling zu begleichen.

 

Da ich von meinen Eltern das Geld dafür nicht bekommen würde, empfahl man mir, Nachhilfestunden zu geben. So gab ich Stunden, ging zur Messe, kam in den Club beichten, zur Betrachtung und, weil ich ja vor allem auch „laikal“ sein wollte und mich für alles interessierte, besuchte ich auch den „Arbeitskreis für Zeitgeschichte“. Da ich mir aber nicht zutraute, junge Männer nur zu dem Zweck anzusprechen, um sie in den Club zu locken, entfaltete ich weitere Aktivitäten: Ich bat den Direktor meiner Schule um die Erlaubnis, den Sportplatz am Wochenende benutzen zu dürfen, und organisierte zum Erstaunen meines Turnlehrers, der meine sportlichen Defizite kannte, Fußballspiele. Meine Teilnahme am Freigegenstand „Literaturpflege“ setzte ich allerdings, aus sittlichen Gründen, aus, als Dr. Adel mit meinen Freunden Robert Musils Novelle „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ las.

 

Im Dezember 1979 kam meine Großmutter auf Besuch, brachte Weihnachtsbäckerei und starb nach kurzer, heftiger Atemnot, während ich mit ihr allein war. Der Todesfall verkomplizierte meine Seelenlage. Einerseits geschah, was ich erhofft hatte – meine Mutter ging wieder in die Kirche –, andererseits folgten nun ständige Friedhofsbesuche, die mir keineswegs zu Gesicht standen, aber mein Beichtvater ermahnte mich, diese kleine Gelegenheit zur „Abtötung“ ja nicht zu verachten, denn schließlich seien wir alle nicht „auf Rosen gebettet“. Emotionell eingequetscht zwischen Aufbahrungshalle und Tabernakel, wurde ich noch vor Monatsende ernsthaft krank und kam nun in die Morbus-Crohn-Ambulanz des Allgemeinen Krankenhauses; der immer lächelnde Oberarzt, der mich unter­suchte, bemühte sich sehr; wie sich später herausstellte, verwendete er die an mir durchgeführten Versuchsreihen für seine Habilitation.

 

Im kommenden März fuhr meine Klasse auf eine Austauschfahrt nach Orléans; ich nützte die Freizeit, um Vokabel zu lernen, frequentierte die Kirchen, betete täglich den Kreuzweg, mehrmals täglich den Rosenkranz und versuchte mich verzweifelt, kurzsichtig, wie ich war, über Möglichkeiten des Meßbesuchs am Werktag zu informieren. Tapfer vertrat ich gegenüber meiner Gastmutter, einer geschiedenen sozialistischen Gewerkschafterin, meine Positionen, ging betend durch die Nacht, während am letzten Wochenende im Haus eine heiße „Boum“ stattfand, von der ich kaum etwas mitbekam, außer daß ich am nächsten Morgen durch klatschende Geräusche geweckt wurde: Die Mutter war heimgekehrt, hatte eine geleerte Hausbar und devastierte Wohnräume vorgefunden und züchtigte nun die kleine, pummelige Tochter, die doch auch einmal etwas hatte erleben wollen.

 

Geduckt und leise ging ich meinen Weg, öffnete mich nur wenig und langsam, und ich war schließlich, nun mit Brille, mit den Eltern in das neue Sommerhaus in Maria Enzersdorf übersiedelt; dann saß ich in der Abschlußklasse, fuhr als erfolgreicher Teilnehmer an einem Aufsatzwettbewerb zu einer Tagung der Reinhold-Schneider-Stiftung nach Freiburg im Breisgau, kannte manches, las vieles, war aber im Zweifel, ob ich es „verdiene“, die Matura zu schaffen; so groß war meine Hektik, daß ich mit hohem Fieber die mündliche Prüfung ablegte, danach ins Spital gebracht wurde und schließlich, wegen eines faustgroßen Abszesses in der Bauchhöhle, operiert werden mußte, und es war fast schon zu spät gewesen. In einem der letzten großen Bettensäle des alten AKH mit 18 Patienten hatte ich einen Einblick in die Wiener Volksseele gewonnen, den „kleinen Mann“ mit seiner Unangepaßtheit und seinem Schmäh kennengelernt, aber auch die vielen, zum Teil sehr jungen Alkoholkranken gesehen; in der einen Woche, die ich auf der Intensivstation verbringen mußte, vollzog sich die Initiation des Erwachsenwerdens. Das Kind hatte sich noch vor der Injektionsnadel gefürchtet, nun ging ich gekräftigt aus der Katharsis des Leidens, in die ich mich infolge meiner Lebensangst geflüchtet hatte.

 

Nach außen hin hatte sich vieles verändert; ich hatte Deutsche und Klassische Philologie inskribiert, war Student, besuchte eine Bekannte am Sezierplatz, ging gelegentlich mit Mädchen wandern oder schwimmen, hatte es mir angewöhnt, „Kent“ zu rauchen und Bier zu trinken; aber in Wirklichkeit war ich unsicher und hielt mich an der Gewohnheit aufrecht, in die Messe zu gehen und die Betrachtung zu besuchen.

 

Eine merkwürdige Erfahrung machte ich an meinem ersten Vorlesungstag: Da ich nicht, wie es für mein Studium notwendig gewesen wäre, Altgriechisch gelernt hatte, mußte ich es nun in einem Lehrgang nachholen. Der Vortragende war ein Bekannter meines Vaters, Hofrat Salomon, ein pensionierter Gymnasialdirektor, ein pedantischer Mensch, der jeden Tag zur selben Zeit seinen Spaziergang unternahm und fünf Zitrusfrüchte aß. Am 5. Oktober 1981 war nun auch die erste Einheit des Griechisch-Kurses; ich hatte lange überlegt, ob ich auch weiterhin in die Messe gehen sollte, denn immerhin mußte ich studieren und in einem Jahr eine neue Sprache dazulernen. Nun hatte Salomon diesmal aber einen Termin beim ORF, schloß die Lehrveranstaltung eine halbe Stunde früher, und ich eilte nach Hause, um zu lernen. Auf halbem Weg, am Karlsplatz, packte mich die Reue, ich fuhr in die Stadt zurück und kam gerade noch zum Beginn der Messe zurecht. Groß war meine Bestürzung, als ich den Text des Tagesevangeliums hörte: „Die Königin des Südens wird bei Gericht gegen die Männer dieser Generation auftreten und sie verurteilen; denn sie kam vom Ende der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören. Hier aber ist einer, der mehr ist als Salomo.“ (Lk. 11,31; Evangelium vom Montag der 28. Woche im Jahreskreis. Ich stehe nicht an, diese Erlebnis heute als Zufall zu werten; wer auf religiöse Konnotationen fixiert ist, wird diese allerdings auch immer finden.)

Pfeiftag

 

Alle Bemühungen, die das Opus Dei jungen Menschen gegenüber aufwendet, haben zum Ziel, daß sie „pfeifen“; damit ist gemeint, daß sie um die Aufnahme in das Werk bitten, dem Vater „den Brief schreiben“. Die burschikose Ausdrucksweise erklärt sich durch das spanische Wortspiel pedir (fordern; pedir la admisión – um die Aufnahme bitten), das durch das unverfänglichere pitar, „pfeifen“, ersetzt wird. Zu einem späteren Zeitpunkt, als ich, schon Mitglied, drei miteinander befreundete Gymnasiasten in den Club eingeladen hatte, die in ihrer Freizeit beim Österreichischen Fußballverband als Schiedsrichter arbeiteten, lud man sie zu einem Aktivität am Samstag Nachmittag ein. „Das geht nicht, da pfeifen wir!“, entgegnete einer von ihnen, und ich werde nie den verblüfften Gesichtsausdruck eines jungen Numerariers vergessen, der sich nicht auskannte.

 

Mein Betreuer hatte mich auf einen „Armenbesuch“ mitgenommen, eine Gewohnheit, die keinem sozialen Bedürfnis abhelfen soll, sondern den Kandidaten durch den Kontakt mit dem Elend zu einer inneren Wandlung bringen soll. Wir saßen bei einer völlig mittellosen Pensionistin, die auf zehn Quadratmetern hauste, brachten ihr Blumen und baten sie um ihr Gebet. Zusammen mit einem Studienkollegen, den ich angeworben hatte, besuchte ich einen „Bildungskreis“, der als Vorbereitung zum Beitritt gilt. Ein Evangelienkommentar, Gewissenserforschung und eine Reihe von Referaten über Lebensführung und einzelne Frömmigkeitsübungen führen den Kandidaten an die „Berufungskrise“ heran; durch die wöchentliche Kollekte wird er daran gewöhnt, dem Werk Geld auszuhändigen. Die Spielregeln sind klar: Diskutiert wird nicht, Fragen sind außerhalb in einem Gespräch unter vier Augen zu klären.

 

Als ich großjährig war und ich meine Eltern nicht mehr um Erlaubnis fragen mußte, konnte ich mit einigen Mitgliedern des Werkes zu Ostern nach Rom fahren. Anfang der siebziger Jahre hatte sich, ausgehend von einer Initiative der deutschen Region, die Gewohnheit dieser „Osterkonvivenz“ entwickelt, die sich als gute Gelegenheit erwies, junge Menschen aus dem Umkreis des Werkes die Universalität dieses Phänomens erfahren zu lassen. Um dem Treffen einen Rahmen zu geben, wurde der Kongreß „UNIV“ kreiert. Die Diskussionsbereitschaft hielt sich in Grenzen, ebenso das generelle Interesse am Kongreß, der vor allem einen Vorwand bot, viele Kommilitonen erstmals anzusprechen. Für die, die dann dabei waren und erlebten, wie viertausend Gleichgesinnte, Burschen und Mädchen sorgfältig separiert, in bester Stimmung das von Pilgern überquellende Rom erfüllten und das Straßenbild dominierten, wie überschwenglich viele Südländer einander in die Arme fielen und wie selbstverständlich alle ihre Frömmigkeit lebten, bedeutete diese „heilige Woche“ einen Anstoß, der oft eine Lebensentscheidung nach sich zog.

 

Ich erfuhr hier eine beglückende Atmosphäre und fühlte mich als Teil eines pulsierenden Ganzen, ich sah den „Vater“ und die „Villa Tevere“, das Zentralhaus, die auf Hochglanz gebrachte Auslage des Werkes. In eingehenden Gesprächen mit Dr. Burkhart erfuhr ich, daß ich wegen meiner chronischen Krankheit, aber auch wegen mancher persönlicher Eigenheiten nicht Numerarier werden konnte, sondern allenfalls Assoziierter; ich erfuhr, daß viele apostolische Initiativen mit Arbeitern in Spanien, Italien und Lateinamerika von Assoziierten ausgingen.

 

Aber ich hatte die Hoffnung aufgegeben, jemals für diese elitäre Gemeinschaft in Frage zu kommen. Ich freundete mich mit einer Studienkollegin an und begann einen Tanzkurs. Während mich mein „Tutor“, der offenbar auch nicht mehr an mich glaubte, dazu ermunterte, den unbefangenen Umgang mit dem anderen Geschlecht zu suchen, war mein Beichtvater konsterniert, als ich ihm davon erzählte. Auf seinen Rat hin brach ich den Tanzkurs wieder ab, aber ich hing weiterhin in der Luft. Aus heiterem Himmel traf mich dann, am 6. Dezember 1982, die Einladung, den „Brief“ zu schreiben. Man hatte mich ins Zentrum gebeten, weil der Vater in Wien sei, und ich sollte Gelegenheit erhalten, ihn zu sehen; das eigentliche Gespräch zur Sache dauerte nur kurz. Ich war zwar überrumpelt worden, aber die freudige Überraschung überwog; dazu kam die Begeisterung, so viele Begleiter und Freunde als „Brüder“ zu erkennen, dazuzugehören.

 

Wenige Tage zuvor, am 28. November, war das „Werk“ vom Papst in den Rang einer Personalprälatur erhoben worden, und es war durchaus ein Anliegen, dem „Vater“ aus Anlaß seines Besuchs in Wien eine Freude zu machen bzw. einen Tadel wegen des schleppend vorangehenden Apostolates abzuschwächen. Das Wohnzimmer der Regionalkommission in der Favoritenstraße war voll mit festlich gekleideten Männern; als die hohen Direktoren eintraten, erhoben sich alle; ich hörte zum ersten Mal im größeren Kreis den vertraulichen Gruß, den die Mitglieder des Werkes untereinander verwenden – „Pax!“ – „In aeternum!“ („Friede“ – „Auf ewig!“). Don Alvaro winkte, daß wir uns setzen sollten; mit sanfter Stimme sprach er zu uns, die dicht gedrängt auf dem Boden saßen, nur ganz wenige „Würdige“ konnten wie er auf einer Couch sitzen. In kleinen Gruppen waren die geschart, für die aus dem Spanischen übersetzt werden mußte. Als Don Alvaro seine Ansprache beendet hatte, war Gelegenheit zu fragen; selbstverständlich meldete ich mich, wie es von mir erwartet wurde, zu Wort und stellte mich als „rote Laterne“, als jüngstes Mitglied vor; der Vater sagte, daß ich heute einen entscheidenden Schritt getan hätte; das Werk würde mir wie eine gute Mutter die gute Nahrung, die notwendige Bildung im Überfluß zur Verfügung stellen; der Rest hinge von mir ab.

 

Die folgenden Tage erlebte ich als eine Hochschaubahn der Gefühle; ich hatte ein großes Ziel erreicht, der Wunsch meiner Jugendjahre hatte sich erfüllt. Andererseits mußte sich mein Leben jetzt den Erfordernissen der Berufung anpassen. Ich hatte eine Nachhilfeschülerin mit viel Erfolg betreut, die ich jetzt kommentarlos abgeben mußte. Nicht einmal meinen Eltern durfte ich meinen Beitritt mitteilen; sie merkten allerdings, daß ich öfter als sonst in den „Club“ ging, mich sorgfältiger kleidete und jeden Morgen kalt duschte, da ich die Verpflichtung hatte, mich so täglich für den „Vater“ abzutöten. Meine Studienkollegin, mit der ich Freundschaft geschlossen hatte, durfte ich nicht mehr sprechen; da ich ihr nicht erklären konnte, was mit mir los war, wich ich ihr aus. Aus den Vorlesungen flüchtete ich noch vor dem Ende, und ich kam spät, um mir einen Sitzplatz fern von ihr zu wählen. Einmal murmelte sie: „Du läufst vor mir davon“, aber ich unterdrückte, was ich für sie empfand, und sagte nichts. Eines Tages kam auch sie zu spät in die Vorlesung – wir lasen das vierte Buch von Vergils „Aeneis“, in dem Aeneas von Dido, mit der er einen verliebten Winter verbracht hatte, flüchtet, ohne sich ihr zu erklären, weil Jupiter es ihm so befohlen hatte. Sie setzte sich neben mich, und weil sie kein Buch mit hatte, schaute sie in meinen Text. Es war sehr hart, diesen geliebten Menschen an meiner Seite zu wissen und gleichzeitig innerlich ablehnen zu müssen, und verschärft wurde das Dilemma durch den hochpoetischen Text, den wir, Wort für Wort von Adolf Primmer mit akribischer Leidenschaft erklärt, durchgingen. Nebeneinander sitzend lasen wir, wie Dido Aeneas weinend um sein Bleiben oder zumindest um einen Aufschub seiner Abreise bittet: „solvuntur lacrimae inanes“ – „vergebens flossen die Tränen“. Ich schaute sie nicht an, und nach dieser Lehrveranstaltung raunten wir einander mit belegter Stimme ein leises „Servus“ zu.

 

Da das „Tagungshaus Hohewand“ im südlichen Niederösterreich in Bau war und Geld gesammelt werden mußte, um die notwendigen 80 Millionen Schilling aufzutreiben, leistete auch ich eine namhafte Spende. Wenige Tage darauf erhielt ich eine ungehaltene Zurechtweisung; da ich mich Gott hingegeben habe und nichts besäße, könnte ich auch nichts hergeben; wie ich dazukomme, Geld zu spenden, ich sollte ja ohnedies die vollkommene Armut leben. Erst so und erst jetzt erfuhr ich, was man mir vor dem „Pfeifen“ zu sagen vergessen hatte, daß ich alles Geld, die Einnahmen von Studentenjobs, Geschenke, aber auch überzählige Pullover etc. abzugeben habe; ich würde mir in der wöchentlichen Kassastunde beim Sekretär meines Zentrums ein Taschengeld abholen, das zu budgetieren sei und über das ich durch einen „Ausgabezettel“ Rechenschaft abzulegen hätte. Ich empfand dies als überaus frustrierend; ähnlich verhielt es sich mit der Zeitplanung, denn so sehr ich mich anstrengte, dem Studium die nötigen Stunden zu widmen, die Beanspruchung durch das Werk war rücksichtslos. Nicht nur die eigentlichen religiösen Verpflichtungen waren anspruchsvoll, es war durchaus auch gedacht, daß wir viel Zeit im Zentrum verbringen sollten, um den „Geist des Werkes“ von der Pike auf lernen, um kontrollierbar zu sein und Gelegenheit zur „brüderlichen Zurechtweisung“ zu geben. Außerdem war es notwendig, an Bildungsver­anstaltungen teilzunehmen, an „eigenen“ ebenso wie an solchen „von St. Raphael“, zu denen man Freunde einladen sollte. Daneben erhielt ich die Ausbildung, von der ja auch der „Vater“ zu mir gesprochen hatte, die am Anfang besonders intensiv ist und die aus 4 Vortragszyklen besteht. Die religiöse Bildung, die ein Mensch im Lauf eines ganzen Lebens im Werk empfängt, ist eine ständige Wiederholung und Umformulierung dieses Grundkurses; dementsprechend werden die Themen dieser Bildungsvorträge bei vertraulichen Mitteilungen über einzelne Mitglieder als Chiffren verwendet; „B 10, III, 28“ bedeutet dann etwa, daß jemand Probleme mit der Keuschheit hat.

 

Mein Studium war erschwert, da ich bei jedem Buch, das ich lesen wollte, erst um Erlaubnis bitten mußte, und es konnte viele Wochen dauern, bis eine Antwort eintraf. Nach Möglichkeit schaute der Priester in der internen Datei nach, und wenn es hier keinen Eintrag gab, wurde die Frage, zusammen mit anderen Informationen und Dokumenten, mit dem monatlichen Kurierdienst nach Rom geleitet. In der Praxis sah es so aus, daß ich auf gut Glück Bücher kaufte und las, oft auf eigene Rechnung, mit dem Geld, das ich von meinem Sparbuch abgehoben hatte, jenseits aller Binnenlegalität des Werkes – denn das „Patrimonium“, der stehende Besitz darf, ebenso wie Erbschaften, nicht angegriffen werden und sollte von jemand anderem verwaltet werden. Einmal kaufte ich mir mit schlechtem Gewissen eine verbilligte Klassikerausgabe, beichtete allerdings danach diese „schwere Sünde“; ein andermal machte die Rechnung für bestellte Bücher 333 Schilling aus, „die Hälfte der Zahl des Bösen“, wie der kabbalistisch versierte Buchhändler zu meinem Erschrecken anmerkte. Wann auch immer ich den Wunsch äußerte, ein Buch anzuschaffen, kam die Frage: „Brauchst du es?“ Die Entscheidung darüber, welches Buch man „braucht“ und welches nicht, beschäftigt die ganze Zunft der Kanonsforscher; daß man von Literatur aber nur dann etwas verstehen kann, wenn man viele Bücher kennt, gelesen hat und besitzt, von denen jedes einzelne „nicht unbedingt notwendig ist“, versteht sich. Dieses Faktum zeigt übrigens auch das gebrochene Verhältnis des Opus Dei zur Bildung. Ich war Zeuge, als dem derzeitigen Regionalvikar des Opus Dei in Österreich, DDr. Martin Schlag, der als junges Mitglied nicht nur Studienassistent für Römisches Recht war, sondern auch Archäologie und Kunstgeschichte studierte, coram publico ausgerichtet wurde, es entspräche nicht der „Armut“, wenn jemand glaubt, er müsse „auch noch jene  Vorlesung über alte Scherben“ besuchen; Schlag brach daraufhin seine schöngeistigen Studien ab. Als ich meine Dissertation zu schreiben begann, gab mir mein damaliger Leiter die Faustregel: „Nur nicht zu viel forschen!“ mit auf den Weg. Den geistigen Horizont des Gründers hat dankenswerterweise Adolf Sawoff in seiner Untersuchung zum „Weg“ ausgelotet: Bildung wird nur als Mittel zum Seelenfang akzeptiert (Der Weg 345), Musik als liturgischer Zierat, als gregorianischer Gesang (523), Velazquez wird als prestigeträchtiger Bezugspunkt benannt und als Zeuge für ein statisches Weltbild vereinnahmt (624), aber moderne Maler zeigen eine „krankhafte und subjektive“ Sicht (451); Bücher sind entweder „Nahrung für die katholische Bildung“ (467) oder „eine Ladung Schmutz“ (339; vgl. Sawoff 7 f.).

 

Viele Schriften sind mir im Lauf der Zeit von Leitern des Opus Dei abgenommen und nicht mehr zurückgegeben worden, vom Jahrbuch der Katholischen Akademie bis hin zu einer Beschreibung der Caracalla-Thermen; es gehört es zur Logik der apostolischen Armut, sich die Dinge dieser Welt gratis zu verschaffen. (Als ich das Zentrum der männlichen Abteilung in Graz kennenlernte, wohnten dort ein Oberarzt, ein Polizeijurist und ein Unternehmer. Das Haus verfügte über eine ausgezeichnet eingerichtete Hausapotheke, über knopflose Bettwäsche, wie sie in Spitälern üblich ist; die benötigten Kopien wurden im Polizeipräsidium hergestellt, und die gesamte Einrichtung des Zentrums stammte aus dem bewußten Kaufhaus, das die erste Zeit auch noch die Kosten für die Reinigung übernahm und als Betriebsausgabe steuerlich geltend machte.) Was die Bücher betrifft, so verfügt das Opus Dei über eine zentrale Datei des Bestandes in seinen Zentren auf der ganzen Welt. Außerdem gab es aber auch im Tagungshaus Hohewand, wie uns versichert wurde, einen Ofen zur Verbrennung von Büchern. Einmal fragte ich wegen eines Romans, der in Südamerika zur Zeit der Conquista spielt; da keine Aufzeichnungen darüber vorlagen, erhielt ich den Auftrag, das Buch zu lesen und eine Rezension darüber zu verfassen. Nach etwa dreißig Seiten hatte ich genug; eine Reihe von einschlägigen Beschreibungen hatte das Buch als unsittlich ausgewiesen, und ich hielt meine Beobachtungen auf einem Zettel fest, den ich meinem Beichtvater abgab. Wochen später erteilte mir dieser – aufgrund meiner eigenen, von ihm angeforderten Beurteilung! – mit ernster Miene eine brüderliche Zurechtweisung, weil ich ein pornographisches Buch gelesen hatte.

 

Ich konnte mich weder in ruhigen Stunden auf der Institutsbibliothek dem dort aufgestellten Handapparat zum jeweils laufenden Seminar in Ruhe widmen noch mich im prächtig ausgestatteten Lesesaal der Universitätsbibliothek einlesen; ich sauste hin und her, gewöhnte es mir an, in Straßenbahnhaltestellen stehend zu arbeiten und während der einen Vorlesung gleichzeitig mitzuschreiben und alte Exzerpte reinzuschreiben. So lernte ich Zeitreste auszunützen, andererseits konnte ich mich niemals wirklich konzentrieren, und das Studium begann sich in die Länge zu ziehen. Neben dieser Inanspruchnahme standen lähmende Leerläufe; in einer internen Christologie-Vorlesung, die mir nichts Neues bot, setzte ich mir in Kurzschrift eine Bücherliste für meine zukünftigen Oberstufenklassen auf, während eines Ausflugs mit meinen „Brüdern“ stuckte ich gotische Vokabel, und während der unerträglich langweiligen Besinnungstage sperrte ich mich am Klo ein und lernte Horaz-Oden auswendig. Dabei war ich ständig übermüdet, und es genügte oft, daß ich mich in einen Bus setzte, um sofort einzuschlafen. Das Nachmittagsgebet verrichtete ich dementsprechend, je nach augenblick­lichem Eifer, kniend oder dösend.

 

Die Brüder

 

Da das Opus Dei, wie immer wieder versichert wird, nicht nur eine Miliz, sondern auch eine Familie ist, lebt niemand seine Berufung allein, sondern zusammen mit seinen „Brüdern“ oder „Schwestern“. Ein guter Teil der Freude, den ich empfand, als ich „gepfiffen“ hatte, bestand im Bewußtsein, nun kein Einzelkämpfer mehr zu sein, sondern zusammen mit anderen, die die gleiche Berufung von Gott erhalten haben, unterwegs zu sein. So war es denn ein Moment peinlicher Stille, als ich mich beim Sekretär meines Zentrum (meinem ehemaligen Spanischlehrer) erkundigte, wie viele Assoziierte es in Österreich gäbe, und die Antwort erhielt „Du bist der dritte.“ Das Zentrum „WA“ (abgekürzt Wien – Assoziierte) bestand nämlich seit der Mitte der sechziger Jahre und war lange Zeit mit Richard identisch gewesen, einem amerikanischen Konvertiten, der in Wien das Werk kennengelernt hatte, und Michael, einem Angestellten in einem Familienbetrieb, der etwas jünger als ich war, aber fast drei Jahre vor mir gepfiffen hatte.

 

Richard stammte aus einer Kleinstadt in Pennsylvania; mit siebzehn war er katholisch geworden; zur Zeit der Berlin-Blockade hatte er sich freiwillig als Meteorologe gemeldet. Als er die Ausbildung abgeschlossen hatte, war die Berlinkrise beendet, und er konnte sich einen Standort in Europa aussuchen. Da seine Großmutter einmal in Wien gewesen war und von den Kaffeehäusern geschwärmt hatte – der Kellner goß dem Gast in hohem Bogen Milch und Mokka zugleich in die Tasse –, wollte er die Stadt sehen, in der Milch und Honig so reichlich flossen, und er genoß das Phäaken-Leben hier, wenn es auch in der Nachkriegszeit noch eher dürftig um die Wiener Kaffeehauskultur bestellt gewesen sein dürfte. Zunächst arbeitete er auf dem Fliegerhorst Langenlebarn; später, nach dem Militärdienst, blieb er, studierte Welthandel und brachte es zum Prokuristen einer Teppichfirma.

 

Er war genau so alt wie das Opus Dei, und zufällig hatte er das Werk auch sehr früh kennengelernt. 1957 waren die ersten Mitglieder nach Wien gekommen, zwei Priester sowie, zwei Studenten; der eine ist heute ein renommierter Journalist (und, nach eigener Angabe, „arbeitsloser Kommunismusexperte“), der andere heute Diplomat. Die kleine Herde hauste in einer winzigen Bleibe in der Barnabitengasse im Stadtteil Mariahilf; die Wohnung war so schmal, daß sie bei den Bewohnern den Spitznamen „Wagon-Lit“ (Schlafwagen) erhielt und daß die Vier nicht ungehindert die abendlichen drei Ave-Marias mit ausgebreiteten Armen beten konnten. Kardinal König hatte die Erlaubnis erteilt, ein Prälat an der Domkirche hatte die Statuten geprüft und die kleine Gemein­schaft visitiert, und nun gab es eine erste Keimzelle des Werkes in Wien. Auf diesen Monsignore stieß Richard, als er eines Sonntags nach der Messe einen Geistlichen ansprach, ob es eine Gemeinschaft für Laien gebe, die ihren Glauben ernst nehmen. Der Priester fand das Notizbuch mit der entsprechenden Telefon­nummer und einen Bleistiftstummel, Richard hatte als starker Raucher eine Zigaretten­packung bei sich, und auf diese notierte er sich die Nummer. Als er dort anrief, sich mit seinem amerikanischen Akzent vorstellte und anmerkte: „Ich möchte von Opus Dei sein“, herrschte zunächst einmal Verwirrung am anderen Ende der Leitung, denn niemand hatte damit gerechnet, daß in Wien jemand bereits von ihnen Notiz genommen hätte.

 

Bald aber hatte er seinen Weg in das Werk gefunden, und angeblich war er viele Jahre der einzige Assoziierte – sollte es andere neben ihm gegeben haben, die wieder gegangen sind, so wird darüber geschwiegen. Allerdings gab es das „Universum Center“ im 20. Bezirk, einen Jugendclub mit Betrachtungen, Ausflügen, Sommer­lagern, und den Trägerverein „Österreichische Sozialgemeinschaft“. Ich hatte einmal ein Fotoalbum in Händen, mit Namen und Gesich­tern, die mir nichts sagten. Der immer wieder erwähnte Leiter des Zentrums, ein Numerarier, wie mir Richard erzählte, war durch wirres Verhalten aufgefallen; er habe begonnen, Konserven zu kaufen, um sich „auf die schlechten Zeiten vorzubereiten“, und Russisch zu lernen, weil er das als zukünftiger Bundeskanzler können müsse; schließlich mußte er das „Werk“ verlassen und habe sich vor einen Zug der Schnellbahn gestürzt.

 

Weil es in Österreich noch keine Veranstaltungen für Assoziierte gab, konnte Richard häufig zu Jahreskursen ins Ausland fahren – so nennt man die Mischung aus Urlaub und Studium für die Mitglieder, eine Art des Beisammenseins, die vor allem bei denen, die nicht „in der Familie“ leben, die sozialen Umgangsformen abschleifen und den „Geist des Werkes“ vertiefen hilft. So kam er in die USA, oft nach Irland, gelegentlich auch nach Italien. Einmal, in Palermo, spazierte Richard am 15. August, Maria Himmelfahrt, zu Mittag zurück ins Zentrum, nachdem er sich in Konditoreien umgesehen hatte, denn er wollte den anderen zum Kaffee „Turrones“, mitbringen, eine Süßspeise aus Nüssen, Mandeln und Honig. Plötzlich setzte sich ein uralter Mercedes neben ihn, am Steuer ein verschwitzter Bursche im Anzug, der Neffe des lokalen Mafiabosses. Der Pate, über den Besucher im Bilde, fragte Richard, wie es ihm gehe. Schlecht, erwiderte dieser. Was, denn, schlecht? Am großen Marienfeiertag? Ja, schlecht, weil er in ganz Palermo keine Turrones gefunden habe. Das gebe es nicht, das könne nicht sein. – Mit einem freundlichen Bedauern schieden sie voneinander, Richard kehrte ins Zentrum zurück, es gab Mittagessen, ein ausgedehntes Beisammensein mit Likör und Kaffee, anschließend den gemeinsamen Rosenkranz – und als Richard in sein Zimmer zurückkehrte, stand auf seinem Nachttisch eine große Portion frischer Turrones. So habe ich es von ihm gehört – die Gewohnheit des „Beisammmenseins“, der „Tertulia“, sich nach den Mahlzeiten zusammensetzen und auszutauschen, führt gelegentlich auch dazu, daß Ankedoten erzählt werden, die bei näherer Prüfung ein eigenartiges Licht auf das Werk werfen. Wenn schon ein Besucher so zuvorkommend behandelt wird, dann bleibt es der Phantasie des Lesers überlassen, sich weitere mögliche Gefälligkeiten unter befreundeten Familien auszumalen.

 

Richard verstand es, das Dasein eines Assoziierten des Opus Dei kultiviert und mit Selbstverständlichkeit zu leben, er kochte, führte seinen Haushalt und hatte sich auch seine gemütliche Wohnung selbst eingerichtet. Ab seinem sechzigsten Jahr trug er einen gepflegten Vollbart, und dank seines Lodenmantels und seines Steirerhutes mit prächtigem Gamsbart war er längst nicht mehr als Amerikaner zu erkennen. Mit Dankbarkeit denke ich an Richards freundliche Art, seine Anekdoten und seine sanften Zurechtweisungen zurück; ich glaube, daß einst im Himmel Richards türkischer Kaffee serviert werden wird.

 

Michael, ein fescher Bursch aus gutem Haus, arbeitete im Familienbetrieb. Da er der erste Assoziierte des Opus Dei in Österreich gewesen war, hatte er ein noch vom Gründer geweihtes Holzkreuz erhalten; als man ihm später den Austritt erschwerte und Geld von ihm zurückhielt, benützte er die Rückgabe dieser Reliquie als Druckmittel.

 

Nach mir kam Alexander ins Zentrum, ein Beamter, den ich durch die Politik kennengelernt hatte; er war ein lieber Kerl bis zu dem Augenblick, als er die Numerarier zu imitieren begann – der freundliche Sachbearbeiter mutierte zum gequälten Krawattenträger. Schließlich beging er den Fehler, seine unkündbare Stelle aufzugeben, um Jus zu studieren; ich sah ihn zuletzt vor dem Arbeitsamt.

 

Jakob war ein distinguierter Herr, ein echter Gentleman und ein vorbildlicher Katholik. Als Sohn eines Tapezierers in der Monarchie geboren, war er in den Schlössern der Adeligen aufgewachsen, deren Residenzen sein Vater renovierte – im Winter auf dem Land, im Sommer restaurierte er Tapeten und Polstermöbel in den Stadtpalais; zu den Auftraggebern gehörte auch Bertha Zuckerkandl, in deren berühmtem Salon „Österreich war“. Einmal, mitten im Dezember, so erinnerte er sich, hatte der russische Botschafter ein „Frühlingsfest“ gegeben; zu diesem Anlaß waren Tapeten, Vorhänge und Sessel passend neu bezogen, der Parkettboden abgedeckt und mit Rasenziegeln belegt worden. Er hatte die Grundsätze, wie ein geschmackvolles Ambiente auszusehen hatte, gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen und wurde, als Schüler von Josef Hoffmann, Innenarchitekt; er war ein eleganter Herr, der das Leben zu genießen verstand, und der „Anschluß“ traf ihn hart, da er ihn seiner besten Kunden beraubte. Geheiratet hatte er nie, weil er zwar gut verdiente, aber, nach den Vorstellungen der Zeit, drei Schwestern zu versorgen hatte. Die waren nun verstorben, und Jakob, mit seinen 83 Jahren überaus rüstig, hatte eine Freundin, mit der er sich zum Plaudern und Wandern traf. Im Kreis seiner Bekannten war er als eifriger Katholik ausgewiesen – er besuchte täglich die Messe, einmal in der Woche widmete er sich im Krankenhaus der „Barmherzigen Brüder“ einsamen Patienten. Als eines Tages das Opus Dei im „Profil“ angegriffen worden war, sprachen ihn Freunde darauf an. Jakob kaufte sich die Zeitung und ging kurz entschlossen in die Karlskirche, deren Pfarrer Dr. Burkhart vor kurzem geworden war, um sich aus erster Hand zu informieren. Aus dem Interesse wurde Sympathie; Richard, der sich regelmäßig mit ihm traf, bat uns, diese neue Hoffnung zu „empfehlen“; nach wenigen Monaten war Jakob einer von uns und fühlte sich im Ambiente des Werkes wohl. Mit Eifer widmete er sich dem Apostolat; als er einmal, bei der Weihnachtsmesse, in Ohnmacht fiel und der zufällig neben ihm Stehende sich um ihn bemühte, nutzte er die Gelegenheit, den hilfsbereiten Herrn zu Einkehrstunden einzuladen.

 

Raphael war unsere jüngste Berufung, ein siebzehnjähriger, frecher Lehrling, begabt und sehr selbständig – er wird uns noch begegnen. Nach meinem Austritt haben übrigens, bis auf Richard, alle anderen ebenfalls das Werk verlassen.

Normen

 

Unter den „Normen“, dem „Lebensplan“, versteht man im Opus Dei die vorgeschriebenen Frömmigkeitsübungen; man erfüllt sie im Idealfall mit Liebe, mit innerer Hingabe, sonst wird, wie ein spanisches Wortspiel sagt, das „cumplimiento“, die Erfüllung, zum „cumplo y miento“, ich erfülle und lüge. Daß man den Lebensplan nicht als Last empfinden, sondern lieben soll wie ein Adler seine schweren Flügel, unter­streicht folgende Anekdote. Eine Supernumerarierin hatte Probleme, ihre Gebete zu erfüllen und besprach dies mit ihrer Leiterin; diese hatte ihr empfohlen, sich eine Haushälterin zu nehmen. Da es offenbar nicht so einfach war, eine geeignete Hilfe zu finden, sollte sie sich im Gebet an den Gründer wenden. Die Dame habe den „Vater“, mit einem wenig feinfühligen Ausdruck, um die Lösung des Problems der „Normas“ gebetet; kurz nacheinander hätten sich dann drei Hausgehilfinnen gemeldet, die alle drei „Norma“ hießen…

 

Der Lebensplan beginnt mit der „Aufopferung des Tagwerks“. Mit dem ersten Läuten des Weckers springt der Gläubige aus dem Bett, küßt den Boden und betet „Serviam“ („Ich will dienen“). Immer wieder wird berichtet – und mir ist es selbst einmal in einer Dachkammer in Salzburg passiert –, daß der Sodale, wenn er einmal in einem anderen als dem gewohnten Bett liegt und reflexartig herausspringt, mit vollem Schwung gegen die Wand kracht. Hintergrund ist, abgesehen von dem asketischen Aspekt, die Angst vor sexuellen Anfechtungen im warmen Bett.

 

Escrivá hat immer davon gesprochen, daß er unausgeschlafen sei, daß er sich dadurch abtöte, daß er zur festgesetzten Zeit aufstehe, auch wenn er wenig oder nichts geschlafen habe und daß er nicht so wie jeder andere Siebzigjährige Siesta halten könne. Der „Heilige“ dachte nicht daran, demütig um die Erlaubnis zu bitten, sich für eine Stunde hinzulegen; die Story vom heroischen „Gehorsam“ des Opus-Dei-Gründers hat den Charakter eines Rollenspiels. Seine beiden „Kustoden“, ihm unbedingt ergebene Priester, die er sich als Beichtvater ausgesucht hatte und die das Recht hatten, ihn zurechtzuweisen, verlangten von ihm wohl nur das, was vorher ausgemacht worden war; denn mit Alvaro unterhielt sich Escrivá vor allem schreiend, und von seinem zweiten „Aufpasser“ und Nachfolger, Javier de Echevarría, wird erzählt, er habe einmal in der halbfertigen „Villa Tevere“, in der die Heizung noch nicht funktionierte, bei einem Beisammensein nach Tisch so sichtlich gefroren, daß der „Vater“ ihm gesagt habe, er solle die Hand in den heißen Kaffee stecken, und er habe dies auch unverzüglich getan. Wie mir selber von einem älteren Numerarier erzählt wurde, habe er den „Vater“ einmal in Spanien an einem Nachmittag erlebt, vollkommen erschöpft, mit geschlossenen Augen, und eine Gruppe junger Männer sei um ihn bemüht gewesen, um ihm starken Kaffee einzuflößen; aber er habe ihn nicht halten können, und der Kaffee sei ihm über die Soutane geronnen. Die erste Priestergeneration, die in Rom ausgebildet wurde, habe übrigens tagsüber ihr Zivilstudium absolviert und in der Nacht Theologievorlesungen gehört; die morgendliche Messe mußte stehend absolviert werden, wobei die Männer wie Bäume im Wind schwankten, weil sie ständig einschliefen. Ich selber erinnere mich daran, daß ich im August 1991, eben erst von einer vierwöchigen „Dienstreise“ nach Spanien zurückgekehrt und von der Pflege meiner Wäsche und der Wohnung erschöpft, Pedro Herrero auf einer Reise nach Polen begleiten mußte und von ihm mit einem Faustschlag geweckt wurde; entsprechend „human“ sind da noch die Weckmethoden, die etwa beim Nachmittagsgebet in einer sommerlich heißen Kapelle üblich sind: Der einnickende Nachbar wird mit dem Finger am Ellbogen oder an die Rippen getippt. Ältere, ausgelaugte Numerarier schlafen dem Vernehmen nach überhaupt sehr gerne in der Kapelle ein, denn ich hörte einen Priester sich darüber beklagen, wie frustrierend es sei, vor älteren Brüdern zu predigen.

 

Das Gebet nimmt die erste Stelle im Lebensplan ein, die Berufung zum Opus Dei ist eine beschauliche Berufung. Gedanken werden „mit dem Herrn besprochen“, manchmal in Form einer vom Priester gehaltenen Betrachtung, im Normalfall mit Hilfe eines geistlichen Buches. Meist ist dies ein Text von Escrivá, ein Brief des Vaters oder der Leitartikel aus einer internen Zeitschrift. Da alles im Werk geregelt ist, kommt Spontaneität auch Gott gegenüber kaum auf; als Betroffener nimmt man dies aber nicht als Fehler des Systems wahr, sondern sucht die Schuld bei sich, in der eigenen „Lauheit“. Während Escrivá in seinen Schriften erwähnt, wie inbrünstig er in der Straßenbahn, vor seinem Bett kniend oder „in der Nähe einer spanischen Stadt“ betete, sollen sich seine Nachfolger darauf beschränken, in der Kapelle zu beten – so ist die Einhaltung dieser Norm leichter zu überwachen, vor allem, weil man sich die „Lektüre“ beim Leiter des Zentrums abholen muß. Ich persönlich erinnere mich gerne an eine einsame Gebetsstunde an der Donau bei Carnuntum. Als ich einmal im Sommer, als es kaum anders möglich war und ich eine weite Strecke durch den Wald gehen mußte, um die Messe besuchen zu können, um die Erlaubnis bat, diesen ohnehin halbstündigen Weg für das Gebet zu nützen, wurde mir dies schroff untersagt.

 

Die heilige Messe ist eine tägliche Norm; die Mitglieder des Werkes geben sich die größte Mühe, sie auch unter schwierigen Umständen zu erfüllen. Fernando Espinell besuchte in den siebziger Jahren den isoliert lebenden katholischen Bischof von Peking; er interviewte ihn in lateinischer Sprache und fragte ihn anschließend, wann es eine Messe gäbe. „Quandocumque quis venit“, war die Antwort des Hirten – „immer, wenn jemand kommt“ – und der Journalist diente dem greisen Bischof am Altar. Selbstverständlich waren all diese Anekdoten beeindruckend, seien es jetzt Geschichten von einer christlichen Gemeinde im Libanon oder die Erfahrungen eines Priester aus Yauyós in den peruanischen Anden, der als erster Geistlicher nach sechzig Jahren in ein Hochgebirgsdorf kam.

 

Im Alltag ist die tägliche Messe das „Schibboleth“, das Erkennungszeichen für den Escrivaner: korrekte Kleidung, Sakko und geschlossenes Hemd auch im Hochsommer, pünktliches, wenn auch manchmal atemlos knappes Eintreffen, stramme Haltung, meist mit vor der Brust verschränkten Armen, zackige, oft am Kirchenboden detonierende Kniebeugen, Reminiszenzen an die vorkonziliare Liturgie wie die Verneigung beim Credo an der Stelle „geboren von der Jungfrau Maria“, das beharrliche Übergehen des Friedensgrußes und das Übersehen des Kollektenkorbes, die selbstverständlich kniend empfangene Mundkommunion, auch wenn dies in der betreffenden Gemeinde nicht üblich sein sollte, und die exakt zehn Minuten dauernde Danksagung nach der Messe. Auf viele Menschen wirkt eine solide Gebetshaltung allerdings, zumal in Zeiten liturgischer Beliebigkeit, faszinierend. Als im September 1983, während der Papstmesse im Wiener Donaupark, die Gemeinde Wien auf Initiative des Werkes zwölf Citybusse als Beichtstühle und Tabernakel zur Verfügung stellte, erinnere ich mich, wie ein junger Buschauffeur fasziniert die vielen und jedes Mal mit ganzem Ernst vollzogenen Kniebeugen beobachtete, die Priester und Ministrant jedes Mal vollführten, wenn ein Ciborium mit dem Allerheiligsten abgegeben wurde; am Ende, als alles vorbei war, nahm er den Priester beiseite und bat ihn, ihm die Beichte abzunehmen.

 

Auch die Kommunion ist eine tägliche „Norm“; da es für einen Katholiken erforderlich ist, „im Stande der Gnade“, also ohne schwere Sünde zu sein, wenn man an den Altar tritt, um den Leib des Herrn zu empfangen, setzt diese Gewohnheit voraus, daß sich tatsächlich alle Mitglieder des Werkes jeden Tag im Stand der heiligmachenden Gnade befinden. In den Zentren des Opus Dei wird zudem, häufig nach dem Mittagessen, das Allerheiligste aufgesucht. Das führte einmal zu einem freundlichen Mißverständnis; ein kanadischer Freund, der sich für das Werk interessierte und einige Male im Studentenheim zu Gast war, fragte: „Why must Opus Dei members always have coffee after having visited the holy sacrament?“

 

Die „Preces“ („Gebet“) sind das Tagesgebet innerhalb des Opus Dei; „er betet die Preces“ ist ein Synonym für „er ist Mitglied des Werkes“. Sie werden kniend verrichtet und beginnen, so wie die „Aufopferung des Tagewerks“, mit dem Kuß des Fußbodens und dem Stoßgebet „Serviam!“ Bei festlichen Messen, die „in der Familie“ begangen werden, singt die Gemeinde diese Bitten zu gregorianischen Melodien. Selbstverständlich verführt das gemeinsame Niederbücken einer Gruppe von Männern oder Frauen zu schalkhaften Nebengedanken; der langjährige Pfarrer der Wiener Peterskirche, DDr. Torelló, pflegte zu Beginn der „Preces“ regelmäßig zu murmeln „Gemma schwimmen!“; Richard brachte eine ganze Gebetsrunde zum Lachen, als er in einem Raum, in dem unter dem Tisch in der Mitte zur Dekoration ein Ziegenfell lag, zu dem sich alle kußbereit hinunterbeugten, äußerte: „Wir lieben diese Ziege!“

 

Die Lesung des Evangeliums und eines geistlichen Buches nimmt eine Viertelstunde ein; das Evangelium wird stehend gelesen, das Lesungsbuch wird in der Aussprache festgelegt. Die Mitglieder des Werkes beten täglich den Rosenkranz, und zwar montags und donnerstags die Freudenreichen, dienstags und freitags die Schmerzhaften und mittwochs, samstags und sonntags die Glorreichen Geheimnisse. Der Rosenkranz ist die einzige Norm, von der nicht dispensiert wird, wenn es sich bei der abendlichen Gewissenserforschung ergibt, daß man Teile des Lebensplans noch nicht erfüllt hat. Als „Füllstoff“ dient das Rosenkranzgebet vielen Mitgliedern, wenn sie auf die Straßenbahn warten oder abends nicht einschlafen können; in der ersten Zeit des Opus Dei pflegten die „Burschen von St. Raphael“ den Rosenkranz zu beten, wenn sie mit ihren Eltern im Kino saßen.

 

Im Opus Dei pflegt man täglich drei Gewissenserforschungen. Beim Aufstehen vergegen­wärtigt man sich das „Partikularexamen“, jenen Punkt des persönlichen Kampfes, den man im Gespräch mit seinem Leiter in der Aussprache festgelegt hat. Zu Mittag zieht man kurz Bilanz über den bisherigen Verlauf des Tages; ausführlicher ist dann die Prüfung am Abend. Fast jeder sitzt dann mit seinem „Success“-Kalender, einer Ringmappe mit austauschbaren Einlageblättern, und notiert die Vorsätze bzw. die Punkte, die er im Gebet oder beim wöchentlichen „brüderlichen Gespräch“ zur Sprache bringen will.

 

Für diejenigen, die zusammenleben, gibt es die Gewohnheit des abendlichen Evangelien­kommentars. Dabei kann es zu vergnüglichen Abschweifungen kommen, die mehr oder weniger gewollt die strenge Atmosphäre auflockern, bevor sich alle in das „Große Stillschweigen“ zurückziehen. „Neuen Wein füllt man in neue Schläuche“, zitierte ein Bruder in der Kapelle das Evangelium des Tages, und er fügte hinzu: „Bitten wir Gott, daß er uns auf diesen Besinnungstagen erneuert, damit wir viel neuen Wein in uns aufnehmen können.“ Zu Mittag um zwölf, wenn überall in der katholischen Welt die Glocken läuten, wird schließlich der „Angelus“ („Der Engel des Herrn“) gebetet. Man kommt also, wenn man diese 16 Gebetsnormen zusammenzählt, auf täglich gut drei Stunden religiöser Andacht.

 

Eine wöchentliche Norm ist die Beichte; während Frauen unbedingt den Beichtstuhl benützen müssen, knien die Männer vor dem Priester nieder, nehmen seine Belehrung entgegen und küssen dann, was sonst nicht üblich ist, seine Stola. Die körperliche Abtötung und das Gebet des Salve Regina sind eine Norm, die samstags gepflegt wird. Obwohl stereotyp behauptet wird, „einzelne Mitglieder dürften dies mit Erlaubnis ihres Beichtvaters tun“, gilt die „körperliche Abtötung“ doch als Norm, die verpflichtend ist und in der Regel so aussieht, daß man sich mit einer geflochtenen Schnur selbst das entblößte Gesäß geißelt. Für Mitglieder, die noch bei den Eltern wohnen, sind Ersatzhandlungen vorgesehen; etwa Sitzen ohne Benützen der Rückenlehne. Das Bußband (Bußgürtel, Cilicium) wird werktags für zwei Stunden getragen, ein Metallstraps, der am Oberschenkel getragen wird, vorzüglich im Sitzen während des Studiums, sodaß sich die zwei Millimeter langen Dornen ins Fleisch bohren und rote Punkte hinterlassen.

 

An monatlichen Einkehrtagen, in jährlichen Besinnungstagen wird der gutwillige Gläubige an die immer gleichen Themen erinnert; wenn man Glück hat, predigt ein Priester mit Bildung und Humor. „Normen von immer“ sind die „Gegenwart Gottes“, die „Betrachtung unserer Gotteskindschaft“, „Geistige Kommunionen“, also der explizit ausgesprochene Wunsch, daß man gerne kommunizieren möchte, wenn das möglich wäre, „Danksagungen“, „Sühneakte“ und Stoßgebete. Alle diese Normen, die man naturgemäß nicht immer verrichten kann, wenn man etwa einer intellektuellen Arbeit nachgeht, die man aber verrichten könnte, bewirken eine innere Anspannung und eine gewisse Grunddepression, da man zwangsläufig hinter den Erwartungen zurückbleibt. Die Stoßgebete müssen explizit formuliert werden, sie sind mit dem Leiter abzusprechen und sollen gezählt werden; so wird das Mitglied einer ständigen (Selbst-)Kontrolle unterworfen, es konditioniert sich wie durch ein Mantra, vor allem während des „Großen Stillschweigens“, in der Nachtzeit, zwischen der Gewissenserforschung am Abend und der Danksagung nach der Messe des nächsten Morgens; hier darf weder gesprochen, gelesen, gearbeitet noch gar ferngesehen werden; diese Zeit ist ausschließlich dem Gebet gewidmet.

 

Die Abtötung, ebenfalls eine „Norm von immer“, wird durch einzelne Gewohnheiten, etwa das sogenannte „Sleeping“, das Schlafen auf einem Holzfußboden konkretisiert; wer mit Nichtmitgliedern zusammenlebt, kann es durch Schlafen ohne Polster ersetzen, um nicht aufzufallen, allerdings hat in Deutschland auch schon einmal ein übereifriges junges Mitglied mit einem quer gelegten Besenstiel im Bett geschlafen. Die zölibatären Frauen im Werk schlafen prinzipiell ohne Matratze. Ab einem gewissen Alter brauchen diese Bußübungen nicht mehr ausgeübt zu werden bzw. sind zu unterlassen – das Sleeping ist ab dem 40. Lebensjahr optional, ab dem 45. soll es im Interesse der Gesundheit unterbleiben. Außer Gebrauch gekommen sind das Zurückhalten des Harns während des „Kleinen Stillschweigens“, der Studierzeit am Nachmittag, weil es sich als gesundheitsschädlich erwiesen hat; Steinchen im Schuh wiederum zerreißen die Socken.

 

Studium, Arbeit und Ordnung sind ebenfalls „Normen von immer“; die zuletzt genannte kommt den Perfektionswahn des Gründers entgegen, der einmal einen Kandelaber im Zorn aus der Wand riß und einen frisch verlegten Marmorboden wieder herausstemmen ließ, weil sie seinen Qualitätsvorstellungen nicht genügten. Von Prälat Ungar, dem langjährigen Leiter der österreichischen „Caritas“, wird jedenfalls der launige Ausspruch über das Werk zitiert: „Wenn es aus Spanien kommt und von der Heiligung der Arbeit spricht, dann muß es von Gott sein.“ Daß es schließlich auch eine „Norm der Freude“ gibt, gehört in die Reihe der blanken Zynismen, die von den Mitgliedern gar nicht mehr bewußt wahrgenommen werden.

Geheime Dienste

 

Richard Estarriol kam als einer der ersten beiden Laien des Opus Dei nach Österreich; er ist international anerkannter Journalist, Träger des Silbernen Verdienstkreuzes um die Republik Österreich, und kaum jemand wird hierzulande so sehr mit dem Werk identifiziert wie er. Wenn er allerdings nach seiner Mitgliedschaft gefragt wird, lautet seine Antwort stets ausweichend: „Ich kenne das Opus Dei sehr gut, mein Bruder ist Priester des Opus Dei.“ Seine Mitgliedschaft ist auch im „Who is who?“ nicht erwähnt.

 

Peter Berglar, einer der prominentesten Verteidiger des Werks in Deutschland, erwähnt in seinem Standardwerk „Opus Dei“, der deutschsprachigen Biographie des Gründers, mit keinem Wort, daß er selbst Mitglied ist. Wenn er auf 214 vom Gespräch eines Supernumerariers mit einem Kollegen erzählt, so weiß nur der Eingeweihte, daß er von sich selber spricht.

 

Der Austritt eines Mitglieds wird auch gegenüber den „Brüdern“ geheimgehalten; sogar die Möglichkeit des Austritts wird dezidiert geleugnet. In Spanien wird den Mitgliedern im Augenblick eine Schmierenkomödie vorgespielt; zahlreiche Numerarier, auch geweihte Priester, die gehen wollen, werden versetzt, gehen „ins Ausland“, „weil es das Apostolat erfordert“; in Wahrheit wird auf diese Weise der Aderlaß camoufliert. Der Priester Antonio Petit Líbero hatte nach 43jähriger Mitgliedschaft das Opus Dei verlassen und war in die Diözese Barcelona übernommen worden; er starb am 12. Februar 2007, von seinen „Brüdern“ bis zuletzt schikaniert; nach seinem Tod beeilte sich das „Werk“, sein Begräbnis auszurichten, und feierte ein von 18 Priestern konzelebriertes Totenamt; er wird weiterhin als „treues Mitglied“ geführt.

 

Alles aber, was außerhalb des Werkes geschieht, wird mit Argusaugen verfolgt: Die Agenda eines Geschäftmannes, die Arbeitsaufträge eines Diözesanpriesters, alles, was eine Putzfrau in einem Gerichtsgebäude, der Chauffeur eines Politikers oder eines Bischofs hört, was ein Kellner in einem Lokal erfahren hat, alles das wird gesammelt wie das Wasser in einem Stausee. Als ein ehemaliger Schulkollege von mir in das Benediktinerstift Göttweig aufgenommen worden war und eine Romreise unternommen hatte, erzählte er einem Bischof beim Abendessen, er sei mit einem Mitglied des Werks befreundet. Dieser habe gelacht und den Kalauer von sich gegeben: „Opus Dei, qui tollis pecuniam mundi, dona nobis partem.“ – „Du nimmst hinweg das Geld der Welt, gib uns eine Teil davon.“ Sehr dringend wurde ich von meinem damaligen Leiter ermahnt, ich müsse herausfinden, um welche Exzellenz es sich hier gehandelt habe, wir seien verpflichtet, Fehleinschätzungen unserer „Mutter“, des Werkes, zurechtzurücken. Ebenso wurde ich gebeten, einen Funktionär der ÖVP, der damals unserem Apostolat nahestand und der, als ausgezeichneter Autofahrer, zwei prominente Politiker chauffiert hatte, daraufhin anzusprechen, ob er nicht Fahrer des Nuntius werden wolle; ebenso „versorgte“ das Opus Dei den Salzburger Erzbischof Gernot Eder mit einem Chauffeur, einem dem Werk nahestehenden Gendarm, aber auch mit einem Redakteur für sein Diözesanblatt und mit einem Regens für sein Priesterseminar.

 

Ich hatte im Februar 1986 Besinnungstage gemacht, die Dr. Torelló predigte; wir hörten mit Begeisterung seine leidenschaftlichen Betrachtungen, und besonders beeindruckte mich sein Vortrag über die Laikalität. „Ich liebe die Welt“, schrie er mit Stentorstimme in die Kapelle und zog mit Häme über eine weltfremde Haltung her, sich von den Bedürfnissen der Zeit, Politik, Wirtschaft, Gewerkschaft absentieren und nur süffisant aus der Ferne darüber befinden zu wollen. Zwar nahm uns allen am Ende dieses Kurses unser Leiter unsere Aufzeichnungen ab; aber mich hatten die Ausführungen Torellós doch so weit beeindruckt, daß ich mich bei der ÖVP in meinem Bezirk meldete und meine Mitarbeit beim Präsident­schaftswahlkampf anbot. Da es gerade keine aktive Jugendgruppe im Bezirk gab, wurde ich zum provisorischen Obmann ernannt und erhielt bald darauf auch ein Bezirksratsmandat.

 

Selbstverständlich versuchte ich auch meine politische Arbeit für das „Apostolat“ zu nützen; als sich ein Landtagsabgeordneter in meiner Anwesenheit zufällig bei seiner Sekretärin erkundigte, was denn eigentlich das geheimnisvolle „Opus Dei“ sei, war es eine Frage von Stunden, bis sich der Beauftragte für das Apostolat der öffentlichen Meinung auf meine Vermittlung hin bei ihm meldete; als sich die Freundin des Landesobmanns der Jungen ÖVP und Inhaberin eines Referats in der Bundeszentrale abfällig über die „Methoden“ des Opus äußerte, erschien ich unangemeldet in ihrem Büro und wies sie zurecht.

 

Bekannt ist das Bemühen um den Heiligen Vater und die Bischöfe. Als Johannes Paul II. im September 1983 das erste Mal nach Wien kam, wurden zwei Numerarierinnen in die Nuntiatur eingeschleust; die Firma „Kastner und Öhler“ ließ Willkommens­transparente drucken, die wir an allen Ecken der Stadt und, in halsbrecherischen Aktionen auf Fensterbrettern turnend, hoch in der Luft montierten; die polizeilichen Absperrungen in Mariazell wurden von dem erwähnten Numerarier, der in der Grazer Polizeidirektion arbeitete, organisiert – und natürlich so manipuliert, daß ausschließlich Angehörige des Werkes nach vorne gelangten. Deren „Huldigungen“ wurden schließlich sogar der Entourage des Papstes zuviel; ein junger Supernumerarier, der den Großteil der Strecke vom Hubschrauberlandeplatz bis zur Basilika laufend an der Hand der Papstes zurückgelegt hatte, wurde schließlich durch die Ohrfeige eines Schweizergardisten in Zivil außer Gefecht gesetzt. Ich selbst ließ mich durch einen älteren Bruder dazu anstiften, dem Heiligen Vater die Anwesenheit von tschechischen Sympathisanten des Opus Dei vorzutäuschen. Eine solche Form der Mimikry hat im Werk Tradition; María Tapia erwähnt (Hinter der Schwelle, 218), daß sich im Zentralhaus beim Besuch eines Bischofs die Spanierinnen versteckten, während eine Mexikanerin, eine Französin und eine Japanerin sowie einige Irinnen vorgeführt wurden; so sollte Universalität vorgetäuscht werden. Der Bekannte führte mich zu einer Rechtskurve in der Walfischgasse, in der das Papamobil abbremsen mußte, und lehrte mich, auf Tschechisch „Hoch lebe der Papst und Kardinal Tomašek!“ zu rufen. Im geeigneten Moment sprang ich, meinen Spruch rufend, vor, überwand die erste Motorrad­reihe, und als ich dem Papst ein tschechisches Bildchen Escrivás in die Hand drücken wollte, hatte ich auch schon eine Hand am Rücken – und war kurzfristig festgenommen worden. Für brave Buben, die nie Indianer gespielt haben, bietet das Werk also eine willkommene Spielwiese, und ich hörte, wie ein junger spanischer Priester sich damit brüstete, an einem drückend heißen Augusttag, als nur noch die Vertretung der Vertretung anwesend war, ins Archiv der Jesuiten im Borgo Santo Spiritu eingedrungen und so überzeugend als Kirchen­historiker aufgetreten zu sein, daß man ihm ein die Societas Jesu kompromittierendes Manuskript ausgehändigt habe.

 

Auf ähnliche Weise wurde auch Benedikt XVI. „eingekocht“. Kardinal Ratzinger, der dem Werk reserviert gegenüberstand, wurde in den achtziger Jahren in das internationale Seminar „Cavabianca“ bei Rom eingeladen; sein Empfang war generalstabsmäßig geplant. 400 Seminaristen feierten eine Gregorianische Messe, danach gab es Ratzingers Leibgericht mit seinem Lieblingswein, und im Anschluß daran ein – ebenfalls sorgfältigst geprobtes – geselliges Beisammensein, in dem, bunt gemischt und spontan wirkend, Mitglieder aus der ganzen Welt sangen, musizierten, aber auch durch anekdotisch vorgebrachte Zeugenberichte das universale Apostolat des Werkes anschaulich machten.

„Priesterliche Seele" und „laikale Mentalität"

 

Kurz nachdem das Werk Gottes seine erste Niederlassung in Graz, eine Wohnung in der Glacisstraße, eingerichtet hatte, läutete es an der Wohnungstür. Draußen stand ein jovialer Rauchfangkehrer, der sich, wie stets, bei seinen Kunden mit einem freundlichen „Der schwoaze Moo ist doo!“ ankündigte – diesmal blieb ihm sein Spruch allerdings im Hals stecken, als ihm, in einem ganz gewöhnlichen Wohnhaus, ein Priester im Talar die Tür öffnete. Die Beziehung des Opus Dei zu seinen Priestern ist zwiespältig. Einerseits betont man den laikalen Charakter des Werkes, andererseits liebt man die Wirkung, die die traditionelle Kleidung des „Hochwürden“ hervorruft – „wegen des Respekts, den der Talar verdient“. (vgl. Nr. 9, Pkt. 7 der „Guiones doctrinales de actualidad“, der internen Abhandlung über aktuelle doktrinelle Fragen zum Thema „Bekleidungsvorschriften für Priester“) Die einzige Stelle, an der in Escrivás „Weg“ der Humor angesprochen wird, ist negativ: „Witze und Witzeleien über den Priester sind, auch wenn dir die Umstände noch so mildernd erscheinen, zum mindesten eine Ungeschliffenheit und Geschmacklosigkeit.“ (Nr. 70) Allerdings zitiert man dankbar, wenn die ernst vorgebrachten Ermahnungen mancher muttersprachlicher Spanier für Erheiterung sorgen. So rief einmal ein Prediger, der nicht wußte, daß ein Fluß im Deutschen „über die Ufer tritt“, eindringlich ins Dunkel der Kapelle: „Euer Gebet muß sein wie ein Fluß, der aus der Mutter kommt!“ Ein anderer beschwor leidenschaftlich die Arbeitsmoral seiner Zuhörer: „Wir dürfen keinen Pfutsch machen!“– Dr. Torelló wiederum lachte schallend, als er im Tagungshaus Hohewand sein Zimmer zugewiesen bekam: Damit im Tagungshaus keine Hotelatmosphäre aufkommt, heißen die Gänge dort nach Bundesländern, die Zimmer sind nach bekannten Orten benannt. Der Spanier hatte auf seinem Türschild „Kaprun“ stehen; in seiner Muttersprache heißt „cabrón“ allerdings, dezent übersetzt, „Stinkbock“.

 

Ein älterer spanischer Priester, der in Österreich lebt, erzählte mir, daß er vor seiner Übersiedlung in das Seminar nach Rom Dokumente unterschrieben habe, ohne sie durchzulesen; erst als er dann einmal Escrivá auf einem Gang begegnete, ihm höflich ausweichen wollte und dieser ihn mit einem freundlichen „Komm, Pfäfflein!“ vorbeiwinkte, dämmerte ihm, daß er geweiht werden solle. Wie sorgfältig Escrivá mit dem Ruf Gottes zum Priestertum bei anderen umging, sollen zwei weitere Beispiele zeigen. Boro ist Numerarier; er reist in der ganzen Welt umher, um die Altarbilder für die Kapellen des Opus Dei zu malen, und damit er die Häuser der weiblichen Abteilung betreten darf, wurde er zum Priester geweiht. Ähnlich verhält es sich mit einem Techniker, der die Druckmaschine in der Villa Tevere warten sollte. Als der von den Frauen betreute Apparat streikte, meinte der „Vater“ zu ihnen: „Wir müssen einem eurer Brüder die Soutane anziehen“. (Tapía, 227)

 

Herrlich sind die Anekdoten, in denen sich der Glanz eines laikalen Apostolats in der Welt widerspiegelt. Da ist der Juwelier, der zu Mittag seine Kunden einlädt, mit ihm den „Angelus“ zu beten; da ist der Taxifahrer, der sich alle paar Minuten aufs neue als „Apostel“ in das Leben seiner Fahrgäste einmischt; da ist auch jener Student, der nach der Vorlesung den Historiker fragte, ob für ihn „Gott der Herr der Geschichte sei“ – so lernte Professor Peter Berglar in Köln das Opus Dei kennen. Bekannt ist die Geschichte von dem Lastwagenfahrer, der einen Autostopper mitnahm. „Fahren Sie allein?“ hatte ihn der Mann am Straßenrand gefragt; der Fahrer zögerte kurz, sagte dann „Ja“ und lud den anderen zum Einsteigen ein. Es versteht sich, daß er ihn fragte, warum er gezögert habe, und der Fernfahrer erwiderte: „Ich habe nicht das Gefühl gehabt, allein zu sein; ich fahre nämlich nie allein. Ich habe heute morgen Jesus Christus in der heiligen Kommunion empfangen, und Er ist immer bei mir.“ Die Legende berichtet, daß es der Mitfahrer nun plötzlich sehr eilig gehabt habe, auszusteigen und umzukehren – er war der Pfarrer des Dorfes gewesen und wollte sich aus dem Staube machen.

 

So oszillieren Funktion und Bedeutung von Priestern und Laien im Werk. Zwar können Laien „nur Schüler sein“ (Der Weg, 61) – als würde das Sakrament Studium und ehrliches Bemühen des Ratgebers ersetzen – dafür müssen auch die geweihten Priester – kirchenrechtlich ein Unding! – ihr „brüderliches Gespräch“ mit einem Laien führen. Beiden ist eine Rolle zugewiesen, die ihrem innersten Sein widerspricht; die Kompetenzen sind bewußt unklar gehalten, damit im Zweifelsfall immer der „Vater“ bzw. der ihn stellvertretende „Leiter“ gefragt werden muß, wer Recht hat; damit wird der Zweifelsfall zum Normalfall. „Teile und herrsche“ – dieses Prinzip war schon immer der Schlüssel, mit dem Rom die Welt im Schach gehalten hat, und das Geheimnis des Opus Dei ist vermutlich deshalb so schwer zu durchschauen, weil der legendäre „Geist des Werkes“ in der institutionellen Unlogik begründet ist. Man kann ihn nicht erlernen, er kann gar nicht kodifizierbar sein, weil er der vollkommenen Willkür entspricht: der Herrschsucht des „heiligen Gründers“, der sich selbst niemals an Regeln gebunden fühlte. Es hat auch Tradition im Werk, sehr junge – und sehr unselbständige – Numerarier in verantwortungsvolle Leitungsfunktionen zu hieven, damit die zentral ausgegebenen Direktiven in beharrlicher Sturheit durchgezogen werden. Die psychotische Doppelbindung hat System: Nie kann man sich sicher sein, das Richtige zu tun. Als ich kurze Zeit dem Werk angehörte, kam der Hinweis, wir sollten Meßbücher benützen, um uns während des Gottesdienstes besser konzentrieren zu können; einige Jahre später kam der Hinweis, die Benützung des Meßbuches soll unterbleiben, da diese Praxis wenig laikal sei.

 

Wie auch immer man es dreht – es paßt nicht, man hat niemals jenen Frieden, der laut Augustinus „die Ruhe der Ordnung“ ist. Man baut in kleinräumige Wohnhäuser kostbar geschmückte Kapellen ein, um „dem Herrn“ alle Ehre zu geben, man inzensiert Weihrauch für den feierlichen Segen; dann aber, weil der sakrale Geruch nicht zum säkularen Ambiente passen will, lüftet man und hängt das Weihrauchfaß zum Abkühlen aufs Klo. Das Leben der Numerarier und Assoziierten ist das Leben umgepolter Ordensleute; die „evangelischen Räte“, die klassischen Mönchstugenden Gehorsam, Keuschheit und Armut bestimmen ihren Alltag; die folgenden Untersuchungen sollen dies zeigen.

 

Gerne wird die Spontaneität im Umgang mit Gott als Ziel propagiert; als der Gründer einmal gebeten wurde, ein Stoßgebet zu empfehlen, reagierte er temperamentvoll: „Eine Backpfeife habt ihr verdient … Stoßgebet…? Ja, ist es denn möglich, daß ihr nicht aus dem Herzen zu einem anderen Menschen sprechen könnt? So wie mit eurer Verlobten? Was wollt ihr, – soll ich euch vielleicht zuflüstern, was ihr eurer Braut sagen könntet?“ (Bernal, 51) Die Wirklichkeit sieht anders aus. Nach einer zerknirschten Beichte empfahl mir der Priester, geistige Kommunionen als Partikularexamen zu verrichten, das heißt im Klartext, ich solle mich den Tag über besonders bemühen, mich in Gedanken mit Jesus in der Eucharistie, in der Hostie zu verbinden. Ich trug dieses Anliegen meinem damaligen Leiter vor und erzählte ihm, daß ich häufig das Gebet des Hauptmanns von Kapharnaum (vgl. Mt. 8,8) verwendete: „Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Mit Entrüstung schmetterte er „mein“ Ansinnen ab; wenn der Priester mir empfohlen habe, geistige Kommunionen zu verrichten, so werde es damit schon seine Richtigkeit haben; ob ich aber denn nicht wüßte, daß uns unser Vater dieses Gebet beigebracht habe: „Ich möchte Dich empfangen, Herr, mit jener Reinheit, Demut und Andacht, mit der Deine heiligste Mutter Dich empfing, mit dem Geist und der Inbrunst der Heiligen“? Dieses sollte ich verwenden, jenes bleiben lassen, auch wenn es sich um einen Text aus dem Evangelium handelte.

 

Dieser Leiter, der damalige Sekretär unseres Zentrums, war das Paradebeispiel eines unerleuchteten und verständnislosen „Seelenführers“. „Und worüber hast du mit dem Herrn im Gebet gesprochen?“ war die Standardfrage, mit der er indiskret und vollkommen unzulässig Woche für Woche mein Inneres durchwühlte. Nirgends in der Kirche ist diese Frage üblich, nicht einmal in den strengen beschaulichen Orden; sie pervertiert das Eigentliche, die lebendige Beziehung zu Gott, in etwas Kontrollier- und Organisierbares. Mit einem strahlenden Lächeln versuchte er seine Impertinenz zu überspielen; ohne mir über meine Gefühle, die ich mir nicht gestattete, Rechenschaft zu geben, haßte ich ihn doch aus ganzem Herzen, und wahrscheinlich habe ich es vor allem ihm zu verdanken, daß ich bei meinem Austritt an Gallensteinen litt. Die Aspekte marianischer Frömmigkeit wie das Rosenkranzgebet, die Verehrung für Marienbilder und die Liebe zur Lauretanischen Litanei habe ich lange vor meinem Beitritt gekannt und gepflegt, so wie ich sie auch jetzt noch, nach meinem Austritt und als Kontrapunkt skeptischer Intellektualität liebe und übe; ihm blieb es vorbehalten, mich im Ton des Vorwurfs damit zu quälen, ob ich denn nicht die Mutter Gottes in meinen Gebeten „Mama“ nenne. Als ich 1987 wieder einmal erkrankte und längere Zeit im Spital verbrachte, kam er nach meiner Entlassung am 31. Mai, einem Sonntagabend, in das Sommerhaus meiner Eltern nach Maria Enzersdorf, machte es mir quasi zum Vorwurf, daß ich in diesem Monat keine Wallfahrt gemacht hätte, und zwang mich, obwohl ich bettlägerig war und unter Bauchschmerzen litt, aufrecht und ohne mich anzulehnen im Bett zu sitzen und mit ihm zusammen die hundertfünfzig Avemarias zu beten.

 

Ich kam mit ihm so wenig zurecht, daß ich bat, die Aussprache statt mit ihm mit dem damaligen Direktor meines Zentrums machen zu dürfen; ich entwickelte erstmals Haßgefühle gegen das Opus Dei, schleuderte die Escrivá-Biographie von Berglar gegen die Wand, zerriß sie und warf sie weg, und ich dachte an einen Austritt. Da alle Anfechtungen im Bereich von Glaube, Keuschheit und Berufung sehr ernst zu nehmen waren, suchte ich den nächsten Priester des Opus Dei auf, dem ich in der Beichte meine Berufungskrise eingestand. Er beruhigte mich, empfahl mir, diese Fragen auch mit meinem Leiter zu besprechen, und gab mir die Absolution. Als ich allerdings am selben Abend, seinem Rat folgend, im Bildungszentrum Petersplatz meinem Direktor die genannten Probleme geschildert hatte, die Kapelle aufsuchte und dann, klapprig und erschöpft, aber wieder „auf Linie“ das Haus verlassen wollte, mußte ich im Flur des Erdgeschoßes noch Spießruten laufen, denn dort standen die älteren Numerarier, die im Haus wohnten, alle mit einem Glas Milch oder Fruchtsaft und einem Keks in der Hand, als „Betthupferl“ vor der abendlichen Gewissenserforschung. Nicht genug damit, daß meine Anwesenheit im Zentrum zu dieser ungewöhnlichen Stunde für alle ersichtlich machte, daß etwas Außerordentliches vorgefallen sein mußte, was mir jetzt und hier, vor versammelter Mannschaft, doch einigermaßen unangenehm war; der Priester rief mir laut und für alle vernehmbar mit seiner fast singenden, modulierenden Stimme nach: „Dietmar, verlaß mich nicht!“ Im Zusammenhang war dies allerdings nur in einer Hinsicht zu verstehen, für alle nachvollziehbar und somit ein Bruch des Beichtsiegels.

 

Was die Keuschheit betrifft, so brachte mir mein Beichtvater eine Verhaltensmaßregel im Umgang mit Frauen bei: Wenn sich schon ein Gespräch mit einer Frau gar nicht vermeiden ließe, solle ich meiner Gesprächspartnerin entweder auf die Nasenwurzel sehen oder mir neben ihrem Kopf ein Marienbild vorstellen, das ich gut kannte. Wenn ich die Augenfarbe einer Frau gesehen hätte, dann wäre es an der Zeit, beichten zu gehen, denn dann hätte ich zu genau hingesehen. Nun, wer es schafft, sein Leben auf diese Weise zu verkomplizieren, der lebt dann immerhin wieder problemfrei; und wer in einem der von RAI finanzierten Propagandafilme des Opus die zentrale Direktorin Marlies Kückering beobachtet, die beharrlich am Kameramann vorbeispricht, kann erahnen, wie „natürlich“ ein geschulter Gesprächspartner des Werkes wirken kann.

 

Vor meinem Beitritt hatte man „vergessen“ mir zu sagen, daß ich mich zur Armut verpflichte; in einem anderen Fall, der als Anekdote erzählt wurde, ging es um die Keuschheit. Ein Wiener war, in einem langen Gespräch, in dem die beiden Jünger Christi mehrmals die Ringstraße umrundeten, als Numerarier angeworben worden. Als dies nun gelungen war, stellte sein „Betreuer“ fest, daß er vergessen hatte, den Freund über die damit verbundene Verpflichtung zum Zölibat aufzuklären. Er teilte dies dem Leiter seines Zentrums mit, fügte dann aber rasch hinzu: „Eigentlich macht das nichts, denn den Gehorsam habe ich ihm genau erklärt.“

 

Nun, ich hatte die Tugend der Armut im nachhinein als Kriterium meines Lebens „zu Hause“ kennengelernt. Man hatte mir erklärt, daß es im Werk keine gemeinsame Kasse gebe und daß unser Geld verwahrt werde, damit wir uns nicht damit beschäftigen müssen. Als ich nun erfahren hatte, daß Assoziierte „einen möglichst stabilen Wohnsitz“ haben sollten und daß andererseits ein Numerarier, ein Wiener Arzt, vom Werk einen Kredit bekommen hatte, um sich eine Praxis einzu­richten, fragte ich nach, ob ich die ehemalige Wohnung meiner Großeltern, die ich benützte, kaufen könne; immerhin hatte ich Aufzeichnungen über meine abgegebenen „Apportationen“ geführt und wußte, daß das Werk im Lauf der Jahre ca. 800.000 Schilling (58.000 €) von mir bekommen hatte.

 

Es war aber nicht daran gedacht, mir meinen Wunsch zu erfüllen; das Geld war weg. Als ich meinen Leiter noch einmal dazu befragen wollte und sein Zimmer betrat, war er kurz hinausgegangen, und ich sah auf dem Bildschirm des PCs, der auf dem Schreibtisch neben der Tür stand, den Text: „DS quiere comprar su vivienda“ – DS möchte seine Wohnung kaufen. Somit war mir klar, daß der Inhalt des vertraulichen „brüderlichen Gesprächs“ nicht nur Thema des wöchentlichen „Örtlichen Rates“ war, sondern daß darüber auch Protokoll geführt wurde.

 

Umgekehrt wacht das Werk rigide und kleinlich über seine materiellen Vorteile; so wurde ich streng zurechtgewiesen, als ich mir von Richard eine Tapetenwalze ausborgen wollte – Mitglieder des Werks „verborgen nichts“, weil sie selbst nichts besitzen. Als eine Witwe, deren beiden Kinder bereits dem Opus Dei beigetreten waren, ihr Auto im Frühjahr 1991 dem Werk schenken wollte, ließ man sie wissen, daß man diese Gabe nur annehme, wenn das Auto durchgecheckt wäre und eine Automatik einbaut war. Also ließ es sich Frau B. noch einmal 10.000 Schilling kosten, und nun durfte sie „Mandarinchen“, so hieß das Auto, dem Werk schenken. Pedro Herrero und ich fuhren damit im August nach Polen; damit hatte der Wagen seine Schuldigkeit getan und wurde im gleichen Herbst wieder verkauft.

 

Durch diese Gier verlor das Opus Dei schließlich aber auch die Freundschaft Jakobs, des freundlichen alten Herrn, der noch hoch in den Achtzigern die Berufung erhalten hatte. Man verzichtete zwar klugerweise darauf, ihm, wie üblich, das Bargeld abzunehmen, aber die Kommission verlangte eine „Sicherstellung“. Also machte sich ein Mitglied im Auftrag in wiederholten Anläufen daran, ihn zu Hause aufzusuchen und um die Nummern seiner Aktien zu bitten; als er nicht und nicht lockerließ, verließ Jakob verärgert nach drei Jahren die Gemeinschaft wieder, die ihn mit so großer Freude aufgenommen hatte. Eine weitere, besonders schäbige Variante der Gewinnmaximierung erlebte ich allerdings erst nach meinem Austritt aus der Gemeinschaft. Raphael hatte als Siebzehnjähriger „gepfiffen“ und wurde durch verständnislose Leiter bis an den Rand des physischen Ruins gequält. Er lebte in der „Schwarzlackenau“, am äußersten Stadtrand, ein gutes Stück entfernt von der Endstelle der Buslinie; er mußte mit der Schnellbahn ans andere Donauufer fahren und weiter mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Klosterneuburg. Vor Arbeitsbeginn mußte sich die Messe ausgehen; als Lehrling hatte er oft nach Büroschluß noch die Post zu besorgen, konnte also oft nicht pünktlich bei Abendveranstaltungen sein und wurde deshalb jedesmal gerügt; von regelmäßigen Mahlzeiten konnte bei diesen Lebensumständen keine Rede sein. Er verließ das Werk ebenfalls nach drei Jahren. Als Vollwaise hatte er finanziell nur wenig beitragen können. Als er aus dem Opus Dei ausschied, wurde er mit einer Usance konfrontiert, die sonst nicht besprochen wird. Jedes Zentrum des Opus Dei, so wie auch jedes einzelne Mitglied, muß für sich selber sorgen; ein gewisser Prozentsatz der Einnahmen ist an die Regionalkommission bzw. an die Zentralleitung in Rom abzuliefern. Im Fall Raphaels war nun also ein „Defizit“ entstanden, da er kaum die materiellen Mittel für sein Überleben aufbringen konnte. Nun wurde ihm mitgeteilt, daß sein Austritt das Zentrum „WA" mit einem Defizit belastet habe und daß er die fehlenden 20.000 Schilling (1.458 €) ersetzen möge.

 

Unmittelbar danach besuchte mich Raphael – bleich, mager, mit hektischen Flecken –, und berichtete mir alles. Ich sah es als meine Aufgabe, meinem ehemaligem „Bruder“ zu helfen und aktiv an der Klärung dieser mißlichen Lage zu arbeiten. Also verfaßten wir ein Schreiben an die Finanzkammer der Erzdiözese Wien mit der Bitte, ihm für drei Jahre die Kirchensteuer zu erlassen, mit der Begründung, es seien für ihn als Lehrling nahezu unerschwingliche Forderungen von Seiten des Opus Dei gerichtet worden, aus dem er vor kurzem ausgetreten sei; die genaue Zahl war genannt. Die Folge war, daß die Erzdiözese gleich direkt bei der Zentrale des Werkes in Rom nachfragte, ob es üblich sei, Geldforderungen an ausgetretene Mitglieder zur richten; die Beantwortung wurde den Herren sehr peinlich, und knieweich wurde Raphael zugesichert, es sei alles das nur ein Mißverständnis gewesen.

 

„Aristokraten der Liebe“

 

Ronald hatte viele Jahre lang im „Jugendclub Delphin“ für die Kleineren den Chemiekurs geleitet; es gab, als Spende eines Gönners, ein gut ausgestattetes Labor mit säurefestem Ausguß, und ohne sich erkennbar für das Opus Dei zu interessieren, arbeitete er auf seinem Platz mit. Einmal hatten wir zufällig den gleichen Weg; er sprach mich an, ob ich vom Werk wäre und wer „mich vorgeschlagen habe“. So, wie er das sagte, dachte er wohl, daß es einer Empfehlung wie beim CV bedürfe, um beitreten zu können, und daß er sich das wünsche; natürlich meldete ich diese Beobachtung so schnell wie möglich dem Leiter des „Clubs“. Die Antwort verblüffte mich: Ronald könne nicht Numerarier werden, denn er sei durch einen ausgeschlagenen Schneidezahn entstellt; leider hätten sich seine Eltern nicht rechtzeitig darum gekümmert, aber so sehe er unmöglich aus.

 

Abgesehen davon, welche Kriterien hier für ein Gott hingegebenes Leben als maßgeblich erachtet werden – das Werk scheint panische Angst davor zu haben, sich einen Pflegefall als Numerarier an den Hals zu hängen oder auch nur Geld für medizinische Behandlungen ausgeben zu müssen. Streng und ausdrücklich wurde mir die Behandlung meiner chronischen Krankheit mit Homöopathie untersagt, und das, obwohl meine Mutter die Kur bezahlte – es „entspricht nicht der Armut“. Das ist die Kehrseite eines Lebens in herrschaftlichen Häusern, in denen die „Verwaltung“ kocht und bügelt und wohin die Nöte der „Blutsfamilie“ nicht reichen, weil man die „Bande“ durchschnitten hat. Als ich das Werk verließ, mußte mein Leiter für kurze Zeit einen von mir begonnenen Englischkurs weiterführen; seine Empörung war sehr groß, daß er, der Akademiker, sich mit inferioren Schülern aus einem Arbeiterbezirk abgeben mußte. Ein Priester, der das Opus Dei verlassen wollte, gestand Maria Tapia, warum er dennoch geblieben und nicht Diözesanpriester geworden war: Er wollte den Lebensstandard nicht aufgeben und hatte keine Lust, als Pfarrer in Vallecas „den Kindern die Rotznasen zu putzen“ (Hinter der Schwelle, 396 – dort allerdings unkorrekt übersetzt).

 

Nicht einmal gegenüber den eigenen „Brüdern“ übt man Toleranz. Die Kontakte der „Älteren“ im Werk mit jüngeren Mitgliedern sind peinlich und sollten vermeiden werden. Als Alexander erst ganz wenige Monate dem Werk angehörte, mußte ich ihn auf Weisung meines Direktors mit der Lüge abweisen, die monatlichen Einkehrstunden (immerhin eine Norm des Lebensplans!) seien abgesagt, weil sie diesmal zusammen mit älteren Numerariern im Zentrum am Petersplatz abgehalten wurden und man den „Herren“ den Anblick des unbefangenen Tolpatsches ersparen wollte. Ausnahmen bilden allenfalls einmal „Familienfeste“ wie ein Beisammensein mit dem „Vater“, bei dem alles reguliert ist, auch jede Wortmeldung.

 

Die Sichtweise des Lebens als Kampf, als Kriegsdienst führt bisweilen bis hin zur Mißachtung gesundheitlicher Erfordernisse. Als ich im Jahr 1987 zur Absolvierung des „Jahreskurses“, also der theologischen Studien, mit der Bahn von Wien nach Köln fahren sollte, befand ich mich gerade in einer akuten Phase meiner Krankheit und hatte 38° Fieber. Man erwartete dennoch mit Selbstverständlichkeit von mir, daß ich losfahre, und zur Bestätigung, daß dies wirklich kein Irrtum sei, suchte ich den damaligen Regionalvikar DDr. Klaus Küng auf, immerhin ein promovierter Mediziner; der bestätigte mir, daß ich die Reise anzutreten habe, denn „unsere Bildungsmittel sind auch für Kranke“. Immerhin wußte ich, daß Küng selbst noch mit 40 Grad Fieber die Messe las; ich fuhr jedenfalls die sieben oder acht Stunden mit der Bahn nach Köln, erlebte dort schlimme Tage, mußte in der Früh ein fiebersenkendes Mittel einnehmen, um die Messe besuchen zu können, fiel während der Wandlung in Ohnmacht; dazu mußte ich mir noch die törichte Frage eines Mitbruders gefallen lassen, ob ich denn nicht „Naturbursch“ genug sei, um das „Sleeping“ einzuhalten; dazu versicherte mir ein Mediziner aus dem Opus Dei, daß meine akute Erkrankung keinesfalls einen Grund darstelle, die tägliche kalte Dusche für den Vater zu unterlassen.

 

Die Hingabe führt dazu, anderen Gewalt über sich einzuräumen; auch wenn im Werk die ständige Freiwilligkeit dieser Unterwerfung betont wird, ist die Versuchung doch groß, einen erwachsenen Menschen, der ohne Schlüssel, Paß und ohne Geld lebt, zu gängeln. Dazu kommen als weiteres Druckmittel die internen Studien; wer im „Werk“ einen akademischen Grad erworben hat und dann austritt, hat Schwierigkeiten, seine Dokumente ausgehändigt zu bekommen, wie dies ja auch Maria del Carmen Tapia berichtet.

 

Abgesehen von dieser „Zweiklassengesellschaft“ derer, die etwas zu sagen haben, weil sie die Gunst der Vorgesetzten besitzen, und den ewig „abhängigen“ Marionetten, denen das auch immer in Erinnerung gerufen wird, existiert im Opus Dei eine Kultur verbaler Gewalt. Escrivás Herumbrüllen ist legendär, und er durfte als Chef auch laut werden; seine Jünger geben es diskreter und subkutaner, aber nicht weniger wirksam, vor allem, wenn das Kraftwort die geistliche Gewalt noch zusätzlich unterstreicht. „Ich glaube, ich muß dich verprügeln“, sagte der – mittlerweile verstorbene – Dr. Marcelino Diaz nach einer zerknirschten Beichte zu mir. „Wer behauptet, daß ich Jugendliche manipuliere, bekommt eine Ohrfeige“, verkündete Fernando Espinell vollmundig, als ob dies die Qualität seiner Argumentation stütze. Pedro Herrero, dessen Seidensocken sprichwörtlich wurden, benutzte privat das vulgär-genitale Schimpfwort „Coño“: „Arschloch, deutsches Arschloch“ gab er von sich, als er auf der Autobahn von einem Mercedes geschnitten wurde. Wo war in diesem Augenblick die Gegenwart Gottes?

 

Handgreiflichkeiten passen nicht in das Bild, das das Werk über sich verbreiten möchte; physische Gewalt wäre undelikat und widerspricht dem eleganten und urbanen Image der Gemeinschaft. Die latent vorhandene Aggression bricht jedoch immer wieder durch. Der Gründer habe einmal ein Mitglied, das ihm den Wunsch nach Austritt mitteilte, mit der Bemerkung geohrfeigt: „Aber du hast Berufung!“ Der Sohn eines ehemaligen Handelsdelegierten in Madrid, dessen halbe Familie dem Werk angehört und der natürlich alle Gebräuche im Opus Dei kennt, erhielt in Torreciudad eine Ohrfeige, weil er Mitglieder des Werkes, die ihn nicht kannten, zum Spaß mit einem vertraulichen „Pax, wie geht´s?“ begrüßt hatte und diese glauben machte, er wäre ebenfalls „von Zuhause“.

 

Dazu kommen allerlei Dummheiten und Machismen. Bei einem der ersten Einkehrkurse des Werkes im Winter wurde die Parole ausgegeben, wer nicht schwul sei, müsse mit in den Pool – der eine Eiskruste trug. Im Studentenheim Moncloa wurde ein im Haus lebender Dozent, ein Supernumerarier, trotz seiner lebhaften Proteste nachts unter Absingen des „Dies Irae“ in den Garten getragen und in den Swimmingpool geworfen. Im Jugendclub Delphin wurde ein frecher Schüler, Sohn eines Supernumerariers, bei dem man die Hoffnung schon aufgegeben hatte, er könnte dem Werk beitreten, unter Anleitung des Direktors gepackt und in den Hausmistkübel geworfen; man erklärte mir, es sei in Spanien durchaus üblich, übrig­gebliebene Burschen von St. Raphael, die sich nicht dem Werk anschließen wollten, auf diese Weise zu „sakrifizieren“.

 

Entscheidender als alle diese Beispiele ist aber die „strukturelle Gewalt“, die vollkommene Überwachung und Selbstkonditionierung. Der ständige Streß, der durch Bußübungen und Überforderungen gesteigerte Adrenalinspiegel und ein durch Schlafentzug, Sauerstoffmangel in kleinen, ungelüfteten Kapellen mit brennenden Kerzen und ein durch die ständige Wiederholung von Stoßgebeten herabgemindertes Bewußtsein kann, ebenso wie die kollektive Psychose einer „Gemeinschaft“, die immer gehorcht, niemals kommuniziert, durchaus zu Wahrnehmungsstörungen führen. Folgendes wird berichtet: Als Alvaro del Portillo einmal in Privataudienz bei Johannes Paul II. war und von diesem gefragt wurde, ob er den Teufel schon einmal gesehen habe, antwortete er dem Papst: „Gesehen nicht, aber gespürt.“ „Ja, ich auch“, erwiderte Seine Heiligkeit. Wenn es nicht wahr ist, so ist es treffend erfunden; zumindest wurde dies den Mitgliedern so aufgetischt.

 

Wer sich davon überzeugen ließ, daß sein Leib „den Tod bringt“ (Röm 7,24), wer glaubt, daß ein einmaliges Nachgeben in einer Versuchung der „Unreinheit“ den ewigen Tod der Seele in der Hölle zur Folge hat, wer immer Weihwasser bei sich haben muß, um im Kampf gegen den Dämon gewappnet zu sein, wird diesem unweigerlich auch begegnen. Eines Nachts, gegen ein Uhr früh, als ich allein in meiner Wohnung schlief, wurde ich durch das laute Geräusch klappernder Hufe wach; überdeutlich war es zu hören, so laut, daß ich annehmen mußte, daß es aus dem Raum selbst kam. Ich war wie gelähmt vor Angst und wagte nicht, aufzustehen und Licht zu machen; nach einige Minuten hörte der grauenvolle Lärm auf. Ein ähnliches Erlebnis hatte Raphael; ich hatte ihn eingeladen, sich um seine Berufung ins Werk zu bemühen, hatte ihm versprochen, daß es ein großer Sieg sein würde, wenn er diesen Schritt getan hätte, daß der Teufel aber mit aller Wut versuchen würde, ihn zu verhindern. Ja, meinte Raphael, das sein ihm auch klar, und das habe er auch schon gemerkt; als er bei seinem letzten Urlaub, bevor er sich dem Werk anschließen wollte, mit Freunden auf Kreta gezeltet habe, habe der Feind mit kalten Klauen nach seinem Fuß gegriffen…

 

Viele Monate später, ich hatte das Werk bereits verlassen und trank bei der Nachbarin in der Wohnung über mir Kaffee, erzählte sie mir von den Eigenheiten ihres Sohnes. Er wolle nie allein schlafen, erzählte sie, und manchmal sei er mitten in der Nacht auf allen vieren zu den Eltern ins Bett gekrabbelt. Und weil die Großeltern eine Parkettbodenfirma hatten – die ganze Wohnung war mit einem „hellhörigen“ Belag versiegelt – wollten sie dem Kleinen als erstes Spielzeug auch einen Bohrer und einen Hobel schenken. Das Buberl habe diese beiden Dinge auch sehr gern gehabt und überall hin mitgenommen, auch ins Bett. – Plötzlich hatte ich die Szene vor Augen, die mir solches Grauen eingejagt hatte: ein etwas über einjähriges Kind, in jeder Hand ein massives Holzspielzeug, nachts über einen hallenden Fußboden krabbelnd.

 

Für das Opus Dei, das läßt sich als Resümee folgern, interessieren sich vor allem unselbständige Menschen, oft mit starker Mutterbindung, die vom Alltagstrott und der Müdigkeit der Mutterkirche enttäuscht sind, die von der Ordnung, der Schlagkraft und der Internationalität der Gruppe fasziniert sind; die Prälatur wiederum interessiert sich ausschließlich für junge, intelligente Leute mit reichen Eltern, mit nettem Äußeren und sicherem Auftreten; allerdings kommen für eine Numerarierberufung nur Menschen ohne sexuelle Erfahrung in Frage, und ich füge hinzu, Menschen, die sich lenken lassen, weil sie Angst vor einem selbstbestimmten Leben haben. Angst und Mißtrauen, vor allem sich selbst gegenüber, sind der Grundton eines Lebens „zu Hause“.

 

In Bedrängnis

 

Das Leben im Werk war schwierig für mich geworden. Ich  litt darunter, wie Raphael behandelt wurde; seine Schwester war auf schlimme Weise in die Drogenszene am Karlsplatz abgerutscht, die Mutter starb völlig verarmt an Krebs, und mir wurde befohlen, mich nicht um ihn zu kümmern. Andreas Benedikt, unser Leiter, schäumte vor Wut, als ich ihm offen sagte, daß ich Raphael zum Standesamt und auf den Friedhof begleitet hatte, um Totenschein und Grabstelle zu besorgen, daß ich ihm beim Übersiedeln half und ihn, der vollkommen verhärmt und abgemagert war, immer wieder zum Essen einlud. Allerdings wurde ich auch selbst aus unerfindlichen Gründen gemobbt. Ein neunzehnjähriger Student aus meinem Freundeskreis war unter tragischen Umständen gestorben. Da der zuständige Pfarrer dem Opus Dei angehörte, rief ich ihn an und informierte ihn über den Todesfall; der Bursche habe begonnen, an der Bildungsarbeit des Werks teilzunehmen, und die Eltern seien dem Werk nicht fremd. Mein Versuch, die pastorale Arbeit des Pfarrers zu unterstützen, sollte ungeahnte Reaktionen zeitigen. Der Priester nahm mich ins Verhör: Wie alt war der junge Mann? Wie alt sei ich selbst? Ich sei Lehrer, Magister? Wie könnte ich, angesichts eines solchen Alters­unterschiedes, behaupten, ich sei mit ihm befreundet gewesen?

 

Ich war vor den Kopf geschlagen. Nach so vielen Jahren, in denen man mir eingeschärft hatte, die Arbeit mit Jugendlichen sei die Lebensader des Opus Dei, von der alles abhinge, mußte ich mir nunmehr sagen lassen, ich sei zu alt. Wie? War nicht auch immer gesagt worden, das Apostolat mit den Jungen sei Aufgabe aller, auch derer, die schon vor Alter umfallen, und war nicht zuletzt auch, halb im Scherz, aber immer auch ernst gemeint, auf Jakob hingewiesen worden, der, über achtzigjährig, noch „in den Weingarten des Herrn berufen worden sei“?

 

Erst viel später, im Abstand der Jahre wurde mir klar, was hier passiert war. Ich trug, schlecht beraten von meinen „Freunden“, einen wenig kleidsamen, billigen Anzug, im Sommer eine weiße Hose mit Sakko, dazu eine Fliege, weil ich, als junger „Professor“, proper aussehen wollte; dazu kam, daß ich seit der „Fidelitas“, der endgültigen Eingliederung in das Werk, einen Brillantring trug. Weil es aber die Tugend der Armut nahe legt, die Kleider zu schonen und sich nicht die Taschen vollzustopfen, hatte ich mir, nach dem Vorbild Richards, der aber ein „gestandener Mann“ war und bei dem das nicht eigenartig wirkte, eine Herrenhandtasche zugelegt, um darin Ausweis, Geldbörse, Schlüssel und den „Success“-Kalender zu verwahren. Außerdem ließ es sich so auch leichter kaschieren, daß man dahinter auch ein Meßbuch in der Hand hielt. Ich sah also, mit einem Wort, recht eigenartig aus, aber keiner der Brüder fand es der Mühe wert, mich auf diesen schwulen Touch aufmerksam zu machen.

 

Ich selbst war über mein Erscheinungsbild zwar unglücklich, aber ich hatte die Hoffnung, irgendwann einmal vielleicht doch für die Priesterweihe vorgeschlagen zu werden und damit aller Be­klei­dungs­sorgen enthoben zu sein. Eines Abends, als ich nach der Messe mit einem jungen Italiener in ein intensives Gespräch kam, aber noch einen Besuch vorhatte, lud ich ihn ein, mich zu begleiten. Nach etlichen Versuchen meinerseits, ihn auf die Möglichkeit eines christlichen Lebens mitten in der Welt im Geist des Opus Dei hinzuweisen, bot er mir an, die Nacht mit ihm zu verbringen. Als er auf meine Entrüstung hin erklärte, ich solle mich nicht aufregen, viele Priester seien wie er, forderte ich ihn auf zu verschwinden und sich nie mehr blicken zu lassen; sofort rief ich in allen Wiener Zentren an, verlangte den Leiter, erzählte ohne Umschweife, was ich erlebt hatte, und bat dringend, dem jungen Mann Hausverbot zu erteilen. Nun aber war es an einem meiner Vorgesetzten, der auf mein Apostolat eifersüchtig war, tätig zu werden, und er meldete den Verdacht, ich selbst könnte homosexuell sein. Die Folge war, daß ich „zu Hause“ geschnitten wurde, niemals wieder gemeinsam mit den Brüdern meines Zentrums verreisen durfte und – Glück im Unglück! – bei Konvivenzen nur mehr Einzelzimmer zugewiesen bekam. Allerdings war ich nie auf diesen Verdacht hin angesprochen worden.

 

Es gab noch ein Detail, das nicht geplant gewesen war: Ich war im Zuge meiner politischen Aktivitäten auch in einigen Zeitungen als Opus Dei-Aktivist gebrandmarkt worden (AZ Nr. 130, 7. 6. 1990, 14 und Nr. 131, 8. 6. 1990, 14; Profil Nr. 37, 10. 9. 1990, 46–48); meine Mitgliedschaft war öffentlich bekannt. Deshalb, weil es bei mir nichts mehr geheimzuhalten gab, wurde ich im August 1991 als Delegierter zum Jugendforum des Päpstlichen Laienrates nach Tschenstochau geschickt, einer begleitenden Aktivität zum Besuch des Heiligen Vaters; allerdings nicht als Vertreter des Werkes, sondern für die „Vereinigung der Mitarbeiter des Opus Dei.“ Um mich darauf vorzubereiten, mußte ich nach der Entscheidung der Regionalkommission die Statuten des „Werkes“ lesen – neun Jahre nach meinem Beitritt. (Im allgemeinen ist es üblich, daß jemand, der sich für eine kirchliche Gemeinschaft interessiert, gleich zu Beginn Einsicht in die Statuten erhält, um deren Geist und Gewohnheiten kennenzu­lernen). Ich sollte deshalb während meines Jahreskurses den Codex Iuris Particularis studieren – allerdings nur für zehn Minuten täglich, denn ich mußte mir den Text, der nur in lateinischer Sprache verfügbar ist, mit 40 anderen Studenten teilen. Als ich das Exemplar einmal über Nacht bei mir behielt, erhielt ich einen strengen Verweis, denn die internen Schriften sind jeden Abend vom Leiter abzuzählen und einzuschließen. Vermutlich bin ich auch eines der wenigen Mitglieder, die den Text überhaupt vollinhaltlich verstanden haben: Immerhin sind die Lateinprofessoren in der Minderheit. Glücklicherweise fiel mir der Passus auf, daß einem Mitglied, das die Ausgliederung wünscht, die Dispens in jedem Fall zu gewähren ist.

 

Dazu kam noch, daß ich mich in eine fleißige Mitarbeiterin aus der Partei verliebt hatte, die aus ihrer Neigung keinen Hehl machte und ohnehin schon für meine Freundin gehalten wurde. Ich war bereit, alles zu tun, um meine Berufung zu retten, und entschloß mich, noch von Spanien aus brieflich aus der Partei auszutreten, nach meiner Rückkehr mein Telefon abzumelden und sofort nach meiner Heimreise die Fernsprechleitung aus der Wand zu reißen, um für „sie“ nicht mehr erreichbar zu sein. Aber weil ich gelernt hatte, den „Amtsweg“ einzuhalten, tat ich nicht, was ich für richtig hielt, sondern wollte mich der Entscheidung meines Leiters in Wien fügen. Fürs erste versuchte ich, mir das Mädchen dadurch fernzuhalten, daß ich sie ins „Studentinnenhaus Währing“ schickte. Ich wußte, daß dort eine Studienkollegin von mir als Numerarierin wohnte; sie verstand mein Anliegen, bemühte sich um die junge Frau, und meine Bekannte übernahm, mir zuliebe, einen Deutschkurs für junge Tschechinnen, die im Haus wohnten. (Die Mädchen weinten sich bei ihr aus: Sie hatten gehofft, in Wien etwas zu erleben, gelegentlich auszugehen; die Damen vom Werk hielten sie aber unter Verschluß, vergatterten sie zum Beten und hätten es am liebsten gesehen, wenn sie sich ihnen als Auxiliarinnen angeschlossen hätten.) Pikanterweise wurde sie dann auch einem Priester vorgestellt, bei dem sie zu beichten begann – wir hatten also, obwohl ich ihr ausweichen wollte, denselben Beichtvater, eine Situation, wie sie Boccaccio erfunden haben könnte.

 

Mein Leiter riet mir von außerordentlichen Maßnahmen ab; er selbst war sichtlich überfordert, und außerdem weidete er sich daran, daß ich Schwierigkeiten hatte. Offenbar rechnete das Werk mit der Möglichkeit, daß ich doch noch politisch „Karriere“ machen könnte, andererseits hatte Pedro Herrero in mir einen bequemen Helfer gefunden, denn völlig unvermittelt begann er mich Tag für Tag anzurufen und in die Kommission zu bestellen, damit ich ihm bei der Abrechnung der Opus Dei-Gruppen, die zum Papstbesuch nach Tschenstochau gefahren waren, behilflich wäre. Er war sehr schlecht gelaunt, weil er sich bei der großen Zahl der Teilnehmer und den unterschiedlichen Währungen, in denen diese bezahlt hatten, ständig verrechnete; als ich ihm zu zeigen versuchte, daß es auf dem PC auch eine Tabellenfunktion gäbe, mit der man Kolonnen automatisch addieren könne, wurde er noch ungehaltener und machte es zu einer Frage des Gehorsams, daß ich die Additionen trotzdem auf einem Taschenrechner durchführte und das Ergebnis händisch eintrug. Normalerweise wäre dieser Einsatz mit meinem Leiter abzuklären gewesen, aber als ich diesen auf diese Unordnung hinwies, blitzte er mich nur an und meinte, Herrero wäre „auch ein Direktor“. Auf jeden Fall kam der Wunsch, ich solle mein Telefon ja nicht abmelden, von dieser Seite. Sogar als ich einen Studienkollegen, der dem Opus Dei sehr freundschaftlich gegenüberstand, im Waldviertel in seinem Sommerhaus besucht hatte, wurde ich von beiden „Leitern“ heruntergemacht, weil sie mich an dem Tag gerne kurzfristig für interne Arbeiten in der Kommission eingesetzt hätten und ich wohlweislich nicht zum Telefon gegangen war.

 

Die Ferien waren vorbei, und nun trafen mich einige Schläge. Das eine war mein Ausschluß aus der Jungen ÖVP – ich hatte heftig, öffentlich und scharf gegen eine Aktion einiger Mitglieder der damaligen Bundesleitung der Jugend protestiert, die in einem abgekarteten Vorgehen den damaligen Bundesparteiobmann Dr. Josef Riegler vor laufenden Fernsehkameras desavouierte und demontierte. Diese meine Einschätzung der Dinge teilte übrigens auch der damalige Wirtschaftsminister Dr. Wolfgang Schüssel, wie er mir in einem persönlichen Brief schrieb. Dies geschah offenbar in der Hoffnung einiger Nachwuchsfunktionäre, als Königsmacher für den von ihnen neu vorzuschlagenden Parteichef Görg Parlamentssitze zu lukrieren. Dieser Versuch war fehlgeschlagen, es war Erhard Busek, der die Partei in der Folge übernahm. Nachdem nun bei einem Landestag der Jugend in Wien die „alte“ Mannschaft bestätigt worden war, wurde ich wegen „parteischädigenden Verhaltens“ hinausgeworfen.

 

Die zweite Enttäuschung wog viel heftiger, da ich, nach Absolvierung meines Studiums und des Probejahres – und nachdem mein Leiter mir eingeschärft hatte, ich müsse mich bemühen, eine Lehrverpflichtung an einem Gymnasium zu bekommen – „nur“ aushilfsweise Arbeit als Volksschullehrer für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache bekam. Ich sah das zwar als Arbeit an, die man auch heiligen könne, und genoß die relativ anspruchslose und für mich neue Beschäftigung mit kleinen Kindern, aber intern bedrängte man mich, dies zu ändern. Nachdem ich einen alten Freund aus der Wiener ÖVP gebeten hatte, für mich zu intervenieren, bot man mir nach zwei Tagen eine Stelle am traditionsreichen Schottengymnasium an. Ich war selig, bedankte mich bei meinem Bekannten, informierte meine Eltern, aber auch die Regional­leitung des Werkes – und wurde kurze Zeit später vom „Defensor“, der über die Einhaltung des „laikalen Geistes“ zu wachen hat, zurückgerufen, der mir erklärte, ich dürfe diese Arbeit nicht annehmen, da es sich um eine Ordensschule handelte und die Benediktiner eine andere Spiritualität hätten. Besonders unangenehm war es für mich, die Persönlichkeit, die sich für mich verwendet hatte, vor den Kopf zu stoßen; keinesfalls aber durfte ich den wahren Grund offenlegen, denn ich hatte den „normalen Staatsbürger“ zu spielen und den Gehorsam so weit zu verinnerlichen, daß jeder von außen kommende Befehl als meine ureigenste Entscheidung zu gelten hatte. Ich ging also schweren Herzens zu Hofrat Spitaler und bat ihn, die Rückziehung meiner Bewerbung zu akzeptieren.

 

Deprimiert kehrte ich zu meinen Vorschulkindern zurück und begleitete sie in den Park; für mich persönlich legte ich ein Arbeitsprogramm zurecht, denn ich wollte mich geistig fit halten für den Augenblick, wo sich mir eine anspruchsvollere Tätigkeit bot. Vier Stunden veranschlagte ich als tägliches Arbeitspensum für meine Dissertation; dazwischen lernte ich abwechselnd Englisch, Französisch und Spanisch. Immerhin gehörte ich ja, wie ich meinte, einer Gemeinschaft an, die sich der „Heiligung der Arbeit“ verschrieben habe, für die die Arbeit eine „Norm von immer“, eine „unheilbare Krankheit“ sei, und ich hatte ja jetzt, nach Abschluß meines Studiums sowie nach dem erzwungenen Ende meiner politischen Geschäfte viel Zeit. Brav, wie ich war, erzählte ich auch diese Ambitionen meinem Beichtvater, erhielt jedoch von ihm eine Abfuhr: Ich sei „Voluntarist“, wolle alles nur aus eigener Kraft schaffen, kurz, es mangle mir an Demut, und er verbot mir mein privates Studienprogramm.

 

Nun war ich erst recht tief unglücklich und sah keine Perspektive mehr. 28 Jahre war ich alt, in allen Bestrebungen gescheitert, von meinen Brüdern im Werk verachtet und beiseite geschoben, ohne daß ich den Grund dafür ahnte; meinen Lebensunterhalt verdiente ich damit, daß ich mit kleinen Kindern spielte und spielerisch lernte, aber ich selbst hatte noch nie ein Mädchen geküßt, noch keine Frau umarmt; ich war Akademiker, aber „zu Hause“ wurde ich wie ein Kind behandelt. Es hatte mich große Überwindung gekostet, dem „Vater“ zu schreiben, daß ich gerne Priester werden möchte, aber weder in die eine noch in die andere Richtung erhielt ich eine konkrete Antwort. Preisgegeben, mit Verantwortung für die Kirche beladen – ich pflegte Brieffreundschaften mit jungen Männern in Kanada, Schweden, Griechenland, Litauen und mit einem Musiker auf der Insel Man, die ich alle, alle für das „Werk“ gewinnen wollte – aber ohne die Erlaubnis, die Verantwortung für mein Leben, meinen Beruf, meine Zukunft in die Hand zu nehmen, saß ich an meinem Schreibtisch und überschaute die Trümmer, die mich umgaben. Während einer kürzeren Abwesenheit hatte ich Raphael meine Wohnungsschlüssel überlassen, weil er mich gebeten hatte, an meinem Computer arbeiten zu dürfen; er, der selbst kaum Zeit für sich hatte, arbeitete die Nacht durch, und als er am Morgen, zu Tode erschöpft, eine mitgebrachte Diskette formatieren wollte, griff er auf die Festplatte zu. Die ersten 80 Seiten meiner Doktorarbeit waren verloren, ich mußte auch damit ganz von vorne anfangen.

 

Heftig kämpfte ich mit mir, ob ich im Werk bleiben sollte, denn dem jungen Berufstätigen erschienen die Anforderungen absurd und kindisch, und die Menschen, die sie mir stellten, konnte ich immer weniger ernst nehmen. Trotzdem wollte ich alles versuchen, den begonnenen Weg zu Ende zu gehen; ich versuchte einen Bekannten, Prälat Holenstein, zu erreichen, um ihn um Vermittlung einer Arbeitsstelle in Bregenz zu bitten, weit weg von den Versuchungen, die mich hier umgaben. Einmal rief ich in einem nahen Kloster der Klarissen an, um die Schwestern um ihr Gebet zu bitten; um unangenehmen Fragen vorzubeugen, bat ich um „für einen Freund, der sich für das Priesteramt entscheiden wolle, aber noch nicht klar sehe“. Die resolute Nonne, die meinen Anruf entgegennahm, erkundigte sich zunächst einmal, ob „mein Freund“ denn schon ins Seminar eingetreten sei, und auf meinen abschlägigen Bescheid meinte sie, ich solle meinem Freund doch abraten, überhaupt einzutreten, „wenn er jetzt schon Schwierigkeiten mit seiner Berufung habe“. – Ich hatte damals und habe bis heute keine Zweifel daran, daß der Zölibat eine Lebensform ist, die möglich ist und Glück und Erfüllung schenken kann. Dazu ist es allerdings nötig, daß sich der Mensch, der diesen Weg gehen und beibehalten will, entweder dem hingebenden Dienst an seinen Mitmenschen verschreibt, wie es dies etwa Mutter Teresa vorgelebt hat, oder aber in seiner wissenschaftlichen Arbeit aufgeht; aber beides war mir von meinen Vorgesetzten verwehrt worden.

 

So kam ich zu der Überzeugung, daß ich für das Leben im Werk nicht geeignet wäre, daß ich „zu schwach“ sei, und wenn ich schon anstelle des Zölibats die Ehe als die mir entsprechende Lebensform ansehen sollte, dann dachte ich keineswegs daran, mich „umzusehen“, sondern mich vielmehr an meine Bekannte zu halten, die mir schon gestanden hatte, daß sie mich mochte, wenn sie auch von meinen persönlichen Umständen wußte, die eine Beziehung zunächst unmöglich machten. Ich versicherte mich also bei ihr, meiner späteren Frau, mit der ich zuvor kein Wort in dieser Richtung gewechselt hatte, daß sie zu mir halten würde, und einen Tag später, am 31. Oktober 1991, erschien ich im Büro meines Leiters und gab ihm meinen Entschluß bekannt, das Werk zu verlassen.

 

Er „nahm“ meinen Wunsch „zur Kenntnis“; der Numerarierpriester, mit dem ich kurz darauf sprach, verabschiedete sich mit Handschlag von mir. Ich hatte gedacht, daß damit bereits alles abgetan war, daß ich wohl mit mir und meinem Gewissen den Schritt, zu dem ich mich nun entschlossen hatte, überdenken müsse, daß aber aufgrund meiner Willenserklärung nur mehr das formale Procedere der Auflösung des Vertrags ausstand. Eben weil ich so sehr mit mir selbst gerungen hatte und die im Werk betonte „Unantastbarkeit“ der Berufung mich so lange von diesem Schritt zurückgehalten hatte, sah ich all dies nun als endgültig erledigt an. Ich sollte mich getäuscht haben.

Der Austritt

 

Mein Beichtvater bat mich zu einem Gespräch. Von Weinkrämpfen geschüttelt, zündete er sich eine Zigarette an der andern an und versicherte mir, daß er es noch nie erlebt habe, daß ein Mitglied nach der Fidelitas ausgetreten sei – wenige Monate vorher war allerdings ein prominenter Numerarier aus Wien nach 17 Jahren gegangen und hatte geheiratet; man hatte ihn aber anstandslos gehen lassen, schließlich war er Anwalt und wußte sich zu wehren.

 

Nachdem die Leitung des Opus Dei meinen Wunsch anscheinend akzeptiert hatte, wurde ich zunächst hingehalten; dann wurde ich unter falschen Vorwänden zu Gesprächen gelockt. Es begann damit, daß ich zum Mittagessen eingeladen wurde; mein vorgeblicher Seelenretter  hatte sich für den Nachmittag frei genommen, und ohne mir vorher Bescheid gesagt zu haben, fuhr er mit mir, als wäre nichts geschehen, ins „Bildungszentrum Augarten“. Am Abend bat er mich, noch einmal mit ihm in den „Jugendclub Delphin“ zu fahren, um mit dem Priester zu sprechen; dort wurde ich von beiden „weichgeklopft“, und zwar so erfolgreich, daß ich meiner Verlobten einen Absagebrief schrieb. Ich war nämlich so sehr davon überzeugt, daß durch meine Bitte um Dispens bereits alles gesagt und getan war, daß ich völlig ahnungslos in die Falle tappte. Das Werk wollte mich nicht gehen lassen; obwohl ich meine Berufung in Frage gestellt hatte und ich innerlich bereits gegangen war, gab man mir zu verstehen, daß das keineswegs so einfach sei, daß ich meine Berufung ja leben könne und wolle und daß Gott mich weiterhin beim Namen rufe. Zwar war ich von Geschmack­losigkeiten verschont, wie sie Klaus Steigleder in seinem Bekenntnisbuch erwähnt („Du schreibst, daß du keine Berufung zum Opus Dei hast, und wir legen diesen Zettel über Nacht in den Tabernakel.“), aber mir wurde eine „Reliquie“ in die Hand gedrückt: ein Gebetszettel, mit einem aufgeklebten winzigen Stückchen braunem Stoff, dem Rest von einem Pyjama oder Handtuch Escrivás. Vor allem aber fühlte ich doch die Last der Verantwortung auf mir, das nicht preiszugeben, was ich neun Jahre hindurch heiliggehalten hatte. Man schlug mir vor, nicht mehr nach Hause zu gehen, um nicht erreichbar zu bleiben, sondern bei Richard zu schlafen – obwohl man sich doch vor meiner angeblichen Homosexualität in Acht zu nehmen hatte! Nach einer schlimmen Nacht auf einer viel zu kurzen Couch war mir am nächsten Tag klar, daß mit mir ein falsches Spiel gespielt worden war – die Berufung, die wir immer als „jungfräulich“ und undiskutierbar ernst nehmen sollten, war plötzlich verhandelbar geworden. Die Willensäußerung wurde nicht gehört und nicht akzeptiert; man wollte mich überreden, überrumpeln, einschüchtern. Mein Wunsch nach Ausstieg war vom Tisch gewischt worden, als hätte ich nie etwas dergleichen gesagt; nachdem ich monatelang darum gebeten hatte, ins Studentenheim übersiedeln zu dürfen, weil ich mich dort, auch in meiner Rolle als zölibatärer Laie, sicherer fühlte, und man dies abgelehnt hatte, kam man mir plötzlich darin entgegen. Als dann auch noch ein verzweifelter Anruf meiner Verlobten kam, die meinen Brief erhalten hatte, hielt mich nichts mehr; ich beschloß, auf meinem ursprünglichen Wunsch zu beharren und teilte noch einmal meine Bitte um Dispens mit. Man lächelte überlegen, weil mir noch nicht klar war, daß diese Bitte der Schriftform bedurfte, und weil die Herren sich meiner Nachgiebigkeit und der antrainierten Unterwerfungsreflexe sicher waren. „Wir nehmen deinen Wunsch ernst“, meinte mein Leiter freundlich, „aber es ist eine schwer wiegende Entscheidung, die du in Ruhe und aller Freiheit treffen solltest. Melde dich morgen früh krank, ich habe mir ebenfalls freigenommen und fahre mit dir nach Salzburg, damit du aus dieser belastenden Umgebung herauskommst und dich in Ruhe entscheiden kannst.“ Ich bedankte mich, meinte aber, vorsichtig geworden, ich werde die Angelegenheit mit meinen Eltern besprechen. „Nein, die Eltern betrifft das nicht, die sollen nichts davon erfahren“, erwiderte er, und zwar so rasch und heftig, daß ich hellhörig wurde. Wenn niemand wußte, wo ich war, hätte ich spurlos untertauchen können; und immerhin ist mir später ein solcher Fall bekannt geworden...

 

Ich zog es vor, dieses Angebot nicht in Anspruch zu nehmen, und hütete mich in Zukunft, ans Telefon oder an die Gegensprechanlage zu gehen. Ich fühlte mich wie im Belagerungszustand, meine Nerven lagen blank, nichts war gewonnen, es war, wie ganz am Anfang, eine Pattstellung im Niemandsland, aber wenn mir die Mitglieder des Werkes gelegentlich wie seltsame Vögel vorgekommen waren, so hatte ich jetzt, in der Krisensituation, das wahre Antlitz der Institution kennen gelernt, die auf Einwände nicht reagierte und auf ihrer kalten Machtposition beharrte.

 

Als dann ein Brief in der Post lag, auf meine Bitten sei eine Antwort gekommen, meldete ich mich wieder und vereinbarte einen Gesprächstermin. Der Vorwand, mit dem ich wieder zu einem Treffen in die Regionalkommission gelockt wurde, war allerdings eine glatte Lüge, denn jetzt warteten mein Leiter und der Regionalvikar darauf, mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Stundenlang redeten sie auf mich ein, immer abwechselnd; wenn der eine fertig war, kam der andere herein. Ich sei ein Judas, verrate meine übernatürliche Berufung, speie Gott, der mich mit so viel Liebe auserwählt habe, ins Gesicht; noch sei es nicht zu spät, aber mein Erstgeburtsrecht hätte ich wie Esau für ein Linsengericht verraten – in Anlehnung an Gen. 25,29–34 hat die kirchliche Tradition unter Esaus „rauem Gewand“ der Habit der Ordensleute verstanden; das bedeutet, daß die Zölibatären reichere Gnaden erhalten als die „gewöhnlichen“ Laien. — Der Priester, der meine spätere Frau kannte, meinte, „sie könnte ja sterben“.

 

Auf meinen Einwand, meine Mitgliedschaft sei Gegenstand eines Vertrages zwischen der Prälatur und mir und könne wieder aufgelöst werden, wurde nicht eingegangen; mein Argument, eine christliche Ehe sei immerhin ein Sakrament, wurde vom Priester vom Tisch gefegt mit der Bemerkung, ja, das sehe ja so aus, aber es werde dann ganz anders, und auch unser Vater habe es noch niemals erlebt, daß jemand das Werk verlassen habe und je wieder glücklich geworden sei. Er fügte noch die geschmacklose Bemerkung hinzu, Freundschaften zwischen „guten Christen“ unterschiedlichen Geschlechts verliefen meistens wie das Credo, sie begännen mit „Ich glaube an Gott“ und endeten mit der „Auferstehung des Fleisches“; ich sei zu Höherem berufen, aber wenn ich meinen Weg und meine Würde als Sohn Gottes vergesse, gelte für mich das Wort der Schrift „Der Hund kehrt zu seinem Gespei zurück, und das Schwein, das gebadet wurde, wälzt sich wieder im Dreck.“ (2 Petr. 2,22) Höhnisch weidete sich mein Gesprächspartner daran, daß ich zwar wußte, daß ich das Recht hatte, entlassen zu werden, aber keine Ahnung über das Procedere hatte. Nach sechs Stunden hatte ich genug, stand auf und sagte, daß ich jetzt gehen wollte. Mein Mantel war griffbereit; mein „Bruder“, der sich in der Hitze des Gefechtes gerade Marscherleichterung verschafft hatte, verfolgte mich – es war Dezember, und es herrschte dichtes Schneetreiben – in Hemdsärmeln durch den ganzen Bezirk. (Wie der ehemalige deutsche Numerarier Widmar Puhl in der Dokumentation ZDF.reporter vom 8. 10. 2002 ausführte, dauerte bei ihm ein solches Verhör 24 Stunden; als er um ein Glas Wasser bat, wurde ihm ein Lexotamil, ein süchtig machendes Beruhigungsmittel gereicht.) Noch am selben Abend formulierte ich mein Abschiedsschreiben und gab es am Nachtpostamt am Westbahnhof auf; als ich, gegen 22 Uhr, wieder auf die Gasse trat, rotierten am verhangenen Nachthimmel Lichtkreise. Meine spontane Reaktion war die Erkenntnis: Du hast deine Berufung von dir geworfen, den Weg Gottes verschmäht, jetzt holt dich der Teufel. (Erst später wurde mir klar, daß es sich um eine Lasershow vor der Wiener Stadthalle gehandelt hatte, in der Jörg Haider die Schlußkundgebung vor der Gemeinderatswahl abgehalten hatte.)

 

Burkhart versuchte mich immer wieder hartnäckig zur Beichte zu drängen; ich erfüllte zwar nach wie vor alle meine religiösen Pflichten, ging zur Messe und überwies sogar mein Geld auf ein Konto des Opus Dei, aber ich sprach mit niemandem mehr über meine Angelegenheiten; der Regionalleitung war es vor allem wichtig zu erfahren, ob ich in der Zwischenzeit schon Sex gehabt hätte. Der einzige Numerarier, dem es gelang, mich in dieser Zeit am Telefon zu sprechen und mit dem ich mich aus alter Freundschaft dann doch noch im Kaffeehaus traf, nahm es ebenfalls als gegeben an, daß nur ein sexueller Notstand der Grund für mein Ausscheren gewesen sein konnte. Sein Kommentar erleichterte es mir, mich innerlich endgültig zu verabschieden: „Und wenn sie ein Kind von dir bekommen sollte – wir bringen dich nach Südamerika, und du arbeitest dort weiter. Anständigkeit ist kein übernatürliches Kriterium.“

 

Eine Woche nach der anderen verstrich, keine Antwort kam – eine Zermürbungstaktik, der ich mit Gewißheit erlegen wäre, wenn ich niemanden gehabt hätte, mit dem ich mich aussprechen konnte. Schließlich vertraute ich mich einem befreundeten Priester an; ich sei zwar sehr unglücklich auf meinem Weg, aber immerhin hätte ich mich zum apostolischen Zölibat verpflichtet. „Wofür soll denn das gut sein?“ war die Antwort, Worte die mir wohltaten, vor allem aber auch der Rat, kaltschnäuzig meine kirchliche Trauung beim eigenen Pfarramt anzumelden und von dort beim Opus Dei anfragen zu lassen, ob die Dispens denn schon erteilt sei.

 

Am 6. Jänner 1992 schließlich wurde ich in eine kleine Wohnung im Haus der Kommission gebeten; ein magerer Numerarier beschimpfte mich im Vorbei­gehen als „kleines Monster“; man teilte mir mündlich mit, daß die Dispens erteilt worden sei; zwei Monate hätte ich noch Bedenkzeit, um meinen Austritt rückgängig zu machen.

In Freiheit

 

Ich hatte das „Werk“ verlassen und fühlte große Erleichterung. Mit 28 Jahren und einem abgeschlossenen Studium war ich nun endlich Herr über meine Zeit, mein Geld, meine Lebens­entscheidungen; der erste Weg führte mich, etwas voreilig, aufs Standesamt, um meine Trauung anzumelden. Innerlich fühlte ich mich dem Werk weiter verbunden; ich ließ nichts über meine Brüder kommen, wollte weiterhin für das „Bildungszentrum Augarten“ die Miete übernehmen und bat meine Braut sogar, für die Geburtstage „zu Hause“ die Torten zu backen; aber die Entscheidung, ob ich weiter freundschaftlich mitarbeiten solle, wurde mir abgenommen. Die „Brüder“ schnitten mich, sahen an mir vorbei. Mein Ersuchen, mir einen Priester für den Brautunterricht zuzuteilen, blieb unbeantwortet. Gleichzeitig blühte ich körperlich und seelisch auf; meine Stimme wurde tiefer, das Wegfallen des Drucks führte dazu, daß ich nun um zwei Zentimeter größer wurde.

 

Erst nach und nach gingen mir die Augen auf, und die unreflektierte, ferngesteuerte Tolpatschigkeit, wie das Opus Dei in corpore auf Probleme reagiert, half mir dabei. Nachdem ich monatelang ignoriert worden war, bekam ich einen freundlichen Brief. Er informierte mich, daß der ehemalige Leiter des Studentenhauses Birkbrunn zum Priester geweiht werde. „Wir haben darüber nachgedacht, wie wir ihm eine Freude bereiten können, und sind auf die Idee gekommen, ihm einen Kelch zu schenken“; ich solle mich mit 2000 Schilling (145 Euro) daran beteiligen. Ich wußte aber natürlich noch, daß im Sinne der apostolischen Armut innerhalb des Werkes keine Geschenke gemacht würden und daß die Priester keinen „eigenen“ Kelch haben.

 

So kappte ich die letzten Verbindungen, sagte zuletzt auch einem „guten Freund“ ab, der mich im Auftrag aushorchen wollte, zum Beispiel, bei wem ich jetzt beichten ginge. Der erste Schritt zu einem Leben in Freiheit und Eigenverantwortung war getan.

 

Ausblick: das Ende einer Legende

 

Wie geht es weiter? In den deutschsprachigen Ländern stagniert die Arbeit des Werkes; hatte das Opus Dei zu Beginn der achtziger Jahre in der BRD ca. 1000 Mitglieder, 500 in Österreich und 350 in der Schweiz, so halbierte sich die Anzahl in den folgenden Jahren. In Österreich sieht es traurig aus; gäbe es nicht die Frauen und die Mitglieder der „Priestergesellschaft“, so hätte sich das Grüppchen grauhaariger Numerarier längst verlaufen, denn die Berufungen unter Männern haben auf sich warten lassen oder, besser gesagt, sie gingen wieder. „Häuser mit Betten, aber niemand drin“ – so hat Enrique Prat das Opus Dei in Österreich Ende der achtziger Jahre charakterisiert, und heute gilt das mehr als je.

 

Im Oktober 2002 wurde Ramón Herrando zum Regionalvikar von Spanien berufen, der mit 35.000 Mitgliedern bei weitem größten Region. Einige Monate später gab der Prälat des Werkes bekannt, daß in jeder Region 500 neue Berufungen „pfeifen“ müssen: Das Vorbild Spaniens solle die anderen mitreißen. Herrando gab die Parole aus, die Fristen abzukürzen, die normalerweise beim Beitritt von Kandidaten eingehalten werden; er rief dazu auf, die Anstrengungen zu verdoppeln, zweimal in der Woche die Geißel zu verwenden und auf dem Boden zu schlafen, vier Stunden statt der üblichen zwei das Bußband zu tragen. Dies führte dazu, daß Jugendliche übereilt angesprochen wurden, „Sommer­berufungen“, die nicht über die erste Phase der Begeisterung aushielten. Dazu kam, daß sich viele junge Numerarier, die dieses unwürdige Schauspiel eines „Ausverkaufs“ miterlebten und sich durch den Druck, ihre Freunde gegen jede Vernunft und gegen ihr Gewissen zum Beitritt zu pressen, abgestoßen fühlten und ebenfalls gingen.

 

Die Studienzentren, die der theologischen Ausbildung der Numerarier dienen, werden im Normalfall eröffnet, wenn eine Region mindestens 50 neue Berufungen hat. Weil man auf Nachwuchs gehofft hatte, wurde das Studienzentrum in Galizien aufrechterhalten, obwohl es dort nur mehr einen Numerarier gab; ähnlich waren die Verhältnisse in Sevilla, Valladolid und Saragossa. Das Steuer wurde, aufgrund eines übereilten Ukasses aus Rom, nun herumgerissen; knapp vor Beginn des Herbstsemesters 2005 wurden die obsolet gewordenen Studienzentren aufgelöst und in Studentenheime umgewidmet; zu den genannten kamen Granada und Madrid-West. Für deren Betreuung mußten andere Studentenhäuser geschlossen werden, um junge Numerarier freizustellen; trotzdem standen die Residenzen fast leer, weil die Werbung zu spät angelaufen war. Im Studienjahr 2006/07 konnten dann, trotz einer teuren Werbekampagne, oft nur zehn bis zwölf Studenten aufgenommen werden, weil es bei der geringen Anzahl von Numerariern nicht möglich schien, die Kontrolle zu behalten und das erwünschte Ambiente aufrechtzuerhalten. Die verbliebenen Studienzentren stagnieren bei jeweils weniger als zwanzig Teilnehmern.

 

Wenn diese Entwicklung weitergeht – und nichts deutet auf eine Kurskorrektur hin –, wird es zu einer weiteren Implosion kommen. Längst geht es nicht mehr darum, eigenverantwortlich innerhalb der Welt zu arbeiten und andere mit dem Beispiel eines gelebten Christseins anzustecken; die Strukturen, die sich das Opus Dei geschaffen hat, Jugendclubs, Studentenheime, Privatgymnasien und -universitäten, Verlage und Sender bedeuten eine schwere Hypothek. Statt in die Welt hinauszugehen, oder, besser gesagt, in ihr zu bleiben und sich auszuzeichnen, wird der Numerarier zur blutleeren, unattraktiven Treibhauspflanze. Juristisch wurde all dies bereits fixiert, ohne daß die Mitglieder davon erfahren hätten. In den „Konstitutionen“ von 1950 heißt es über die spezifischen Aufgaben der NumerarierINNEN, sie bemühten sich vor allem um „die Heiligung der eigenen beruflichen Arbeit, um den anderen ein Beispiel christlichen Lebens durch den eigenen Dienst an der Gesellschaft zu geben; um die geistliche, religiöse und berufliche Bildung junger Menschen, vor allem von Studenten; Ausübung öffentlicher Aufgaben mit vorbildlicher Treue“; dazu kommt die Verteidigung der Kirche und ihrer Lehre.

 

In den „Statuten“ von 1982, Nr. 8, § 1 findet sich demgegenüber ein bemerkenswerter Rückschritt, was die Säkularität und den laikalen Charakter der Numerarier betrifft: „Numerarier heißen diejenigen Kleriker und Laien, die den apostolischen Zölibat (vgl. Mt 19,11) auf Anregung und als Geschenk Gottes beobachten und die sich mit allen ihren Kräften und der Hingabe einer möglichst großen persönlichen Verfügbarkeit den besonderen Aufgaben der Prälatur widmen.“ Die neue rechtliche Gestalt zeigt also nicht mehr den eigenverantwortlich handelnden Laien in der Welt, sondern den im Sinne interner Verfügbarkeit kasernierten Funktionär. Schon zögern auch Freunde des Opus Dei, ihre Bekannten mitzubringen, da viele der jungen Leiter, halbgebildet, zynisch und weltfremd, Parasiten des Systems, ein abstoßendes Bild der Institution vermitteln.

 

Wie sehr sich das Werk Gottes mittlerweile aufgegeben hat, zeigt die neue Stoßrichtung, die seine Leiter nunmehr vorgegeben haben: Junge Familien sind das Ziel der Anwerbung. Die „Leder­nacken Gottes“ (© Basilius Streithofen) sind noch nicht rekrutiert, die „Apostel von Aposteln“ werden nicht berufen – sie müssen erst noch geboren werden. Die Revolution hat ihre Kinder aufgefressen; während nach der Anerkennung des Werks als Säkular­insti­tut 1947 eine Reihe von hochkarätigen Persönlichkeiten die spanische Gesellschaft mit den Ideen laikaler Heiligkeit im Sinne Escrivás durchsetzt hat, wurde die nächste Generation schon in das Opus Dei „hineingeboren“. Teils angepaßt, teils verbürgerlicht, fehlte ihnen der Schwung der ersten Garde; manche hofften auch, hier die Förderung durch ein mächti­ges Netzwerk zu finden. Zur Jahrtausendwende bestand der Nachwuchs der Prälatur in Spanien aus domestizierten Numerariern, die sich in und hinter der mächtigen Infrastruktur verstecken, und einigen wenigen kritischen Supernumerariern, die sich keineswegs mehr alles gefallen lassen und sich auch nicht in dem Sinn dreinreden lassen, wie sich Escrivá die eheliche Keuschheit vorstellte („Schwangerschaft ist der Normalzustand einer verheirateten Frau“). Schon gar nicht goutiert man unter ihnen den Auftrag, als Lebensborn für neue Berufungen von St. Michael zu wirken. Übrigbleiben einige „Aushängeschilder“ und daneben der monströse Körper einer lau gewordenen Institution, die nur noch als Protektionsverein und sinnstiftende Lebensform für wenige überlebt.

 

Hat denn das „Werk“ gar nicht Gutes für die Seelen, die Kirche, die Welt gebracht? Doch. Aber die Früchte, die die liebende Hingabe so vieler Menschen unweigerlich zur Folge hat, haben nichts zu tun mit dem Hochmut ihrer Leiter; sie sind trotz alledem entstanden, und es ist eine Perfidie, wenn die Prälatur, die angeblich die „kollektive Demut“ lebt, sich ihrer rühmt. Schweigen und Dankbarkeit sind angebracht angesichts so vieler Opfer, die mit so vielem guten Willen in aller Stille gebracht wurden. In einem Anflug von Selbstironie erzählt man sich im Opus Dei diesen Kalauer: Der heilige Petrus ist sich nicht sicher, wen er in den Himmel eintreten lassen soll und wen nicht; also bittet er den Herrn um Rat. Der gibt ihm eine Bibel und einen Hundertdollarschein; wer kommt, darf wählen und verrät damit, was er in seinem Herzen trägt. Nach einigen Tagen kommt Petrus aufgeregt zum Herrn und fragt, was er machen soll. Einer ist nämlich gekommen, der hat die Bibel genommen, und dazu den Hunderter als Lesezeichen. „Laß mal“, sagte Jesus, „der ist vom Opus Dei.“

 

Es soll nicht überraschen, wie die Worte Christi in seiner Kirche nach wie vor Gültigkeit besitzen. Bei Matthäus, im 23. Kapitel, wird der Typ des Schriftgelehrten – auf Spanisch „escriba“! – und Pharisäers charakterisiert, der den Menschen schwere Lasten auflegt, ohne selbst einen Finger zu rühren, der lange Gebete verrichtet und lange Gewänder trägt, der sich „Vater“ – Padre! – und „Meister“, Rabbi, Doktor, Monsignore nennen läßt, der nicht auf den Tempel, sondern auf das „Gold des Tempels“ schwört und „aus religiösen Rücksichten“ seine alten Eltern im Stich läßt. Fast gespenstisch mutet es an, wie treffend die Gestalt des Glaubenseiferers über die Jahrtausende hinweg geschildert ist: „Ihr zieht über Meer und Land, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zum Sohn der Hölle, noch einmal so arg als ihr.“ (Mt. 23, 15)