Castalio: Die Trägheit des Herzens der Genossen Numerarier

15. Februar 2019

„Die Kameradschaft ist das tiefe und unverbrüchliche Band, das uns verbindet in einer Gemeinschaft der Interessen und der Idealen, uns alle, die wir die heilige Brüderschaft bilden“ (Spanisches Flugblatt, 1945)

Vor einigen Tagen las ich eine Veröffentlichung von Andy und die Antwort Demokrits über Faulheit und Gedankenlosigkeit vieler derzeitiger Numerarier. Was mich besonders aufmerksam werden ließ, war die Mitteilung Andys, dass die Brüderlichkeit sehr viel Kraft eingebüßt habe, vor allem wenn er seinen Prälaten bittet, er solle die Gleichgültigkeit, den Mangel an Nächstenliebe, mit der Wurzel ausreißen, die Sprachlosigkeit untereinander, die grundlosen Wutanfälle, die zwei Monate anhalten, die Doppelmoral und der Mangel an innerem Leben bei vielen Personen, die in den Zentren leben.

Im Beitrag Andys klingt etwas von Nostalgie, aber auch von Zorn durch: Das erste, weil er wehmütig an die Zeit zurückdenkt, als sich die Menschen des Werkes, zum Teil auch durchaus heroisch, bemühten, einander zu helfen; das zweite weil das, was jetzt zu beobachten ist, so gar nichts mehr mit den guten alten Zeiten zu tun hat. Ich habe den subjektiven Eindruck, dass Andy sich weigert, die Dekadenz und den Zerfall seiner Institution zur Kenntnis zu nehmen...

Ich sage Dekaden, denn der Enthusiasmus der siebziger und achtziger Jahre mündete in eine Sackgasse, aus der sich bis jetzt kein Ausweg gezeigt hat. Auflösungserscheinungen haben die Einheit zersetzt, und die hatten grundsätzlich zwei Ursachen: die Unfähigkeit von Don Javier, der eine ideologische Bewegung führen sollte, obwohl er nicht das geringste Charisma besaß, und die Bitterkeit, die viele ältere Numerarier fühlten, als sie merkten, dass ihre Institution und ihr Führer verfielen. Ich weiß kein besseres Beispiel als jenen sympathischen mexikanischen Notar, der als einsamer, verbitterter Priester endete, allein gelassen und mit einer unendlichen Traurigkeit im Blick.

Meiner Auffassung nach besteht der unmittelbarste Grund für die geistliche Schwäche und den daraus folgenden Mangel an Einheit bei den Mitgliedern in der schlechten Gewohnheit, nicht miteinander zu sprechen, die ausstrahlt und zu jener Trägheit des Herzens führt, die die „Bildung“ im Opus Dei anrät und fordert.

So lebte ich jahrzehntelang

Als ich, mittlerweile vor einigen Jahrzehnten, als Numerarier gepfiffen habe, dachte ich, ich sei einer Gemeinschaft voller Liebe und Verständnis beigetreten, ausgezeichnet durch wahre Brüderlichkeit und Loyalität, voll Wahrhaftigkeit und Männlichkeit. Ich erinnere mich daran, dass wir bin tief in der Nacht beisammensaßen, um einem „unserer Brüder“ bei der Fertigstellung seiner Diplomarbeit zu helfen oder den Frageborgen für den Passantrag auszufüllen, als er das erste Mal zu UNIV nach Rom reiste; wir halfen sogar den Kranken, obwohl sie das nicht mochten und es uns auch zeigten, und putzten ihr Erbrochenes weg, um die Verwaltung nicht damit zu belästigen.

Aber es dauerte nicht viele Jahre, seit ich gepfiffen hatte, als meine erste Verliebtheit zerrbrach. Sobald ich im Örtlichen Rat eines Zentrums von St. Michael war, merkte ich, wie wenig Empathie einige der Leiter aus der Delegation oder Kommission mit den moralischen und spirituellen Problemen ihrer „Brüder“ hatten. Manchmal waren sie unter dem Vorwand, sie müssten deutlich sein, despotisch, und sie hingen in extremer Treue dem überlieferten Geist an, den nichts auch nur ansatzweise beschmutzen durfte. Dadurch fühlten sie sich ermächtigt, unmenschlich zu sein, und sie waren es auch.

Ein anderes Zeichen dieses Mangels an Empathie nahm ich als Mitglied eines Örtlichen Rates wahr, als wir authentische strategische Planspiele veranstalteten, um das Opfer einer falschen Freundschaft als Numerarier pfeifen zu lassen: Wer sollte ihn ansprechen, wann und wie, und wann ihm der Priester den entscheidenden Schlag versetzen sollte. Und all das geschah im Verborgenen; dem Betroffenen gegenüber ließ man nichts davon anmerken, man berief sich auf das Evangelium, sagte ihm, dass „Jesus ihn ruft“, „dich um mehr bittet“, dass du „großzügig sein musst“.  Und so verloren wir das Gefühl für die Nächstenliebe und setzten einen unmenschlichen Pragmatismus an seine Stelle.

Dann pfiff das Opfer, und es folgte unmittelbar die seltsamste und unmenschlichste Konsequenz dieser neuen, losgelösten Brüderlichkeit: Es ist nicht mehr nötig mit ihm zu reden, der Direktor macht die Aussprache mit ihm; du kümmere dich um Schulz.“ So begann ich unmerklich Freundschaft mit Kameraderie zu verwechseln.

Dem neuen Kameraden sagte man dasselbe: Von jetzt an ist es angebracht, dass du alles Persönliche mit dem besprichst, der deine Aussprache hört, den dir der Örtliche Rat zuweist: Es ist nicht erforderlich, dass du es de gegenüber kommentierst, der dich „behandelt hat“. Der arme Frischgepfiffene verstand gar nichts, denn hätte er es vollinhaltlich mitbekommen, wäre er so schnell wie möglich weggelaufen, denn in normale Sprache übersetzt hätte es gelautet: X ist nicht länger dein Freund, falls es er jemals war, sondern nur mehr dein Kamerad.  Aber wir würden diese Form der Gehirnwäsche nicht begreifen, die uns selbst das alles für normal halten ließ, wesentlicher Teil einer göttlichen Berufung, die man nur mit der Brille sehen kann, die im Opus Dei und nur dort hergestellt wird, die sogenannte ÜBERNATÜRLICHE SICHT, die der MENSCHLICHEN SICHTWEISE diametral entgegengesetzt ist.

Die Kameradschaft der Numerarier

Kameraden haben nur eines gemeinsam: das Ideal, ein Unternehmen voranzubringen. In allem Übrigen können sie nicht nur unterschiedlicher, sondern sogar entgegengesetzter Meinung sein. Und so ist es auch im Opus Dei. Wahre Freundschaft kann es dort nicht geben, wo es von Anfang an keine guten Absichten gibt, keine Offenheit, keine Wahrhaftigkeit. Und was unsere zukünftigen Kameraden betrifft, so beschränkten wir uns darauf, ihren Blick einzig und allein auf das gemeinsame Ziel auszurichten: das Werk.

Sobald also ein Freund von mir pfiff, hörte er auf mein Freund zu sein (falls er es je gewesen sein sollte) und wurde ein Teil der Kameraden des Werkes, und ich nahm das hin, denn ich verstand dies als einen Teil der Hingabe. Und ich merkte nicht, wie diese Hingabe mir das Herz verhärtete.  

Die Trägheit des Herzens ist der Mangel an Achtsamkeit gegenüber dem Leid der anderen. Man wird träge, wenn man angesichts des Leid eines lieben Menschen nicht reagiert oder unter dem Vorwand der „Hingabe“ ausblendet, was rundherum vorgeht.   

In einer Schweizer Stadt, in der ich als Numerarier eine Zeitlang lebte, gab es einen Priester, der jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging und ihn lächelnd mit „ Guten Tag“ begrüßte; ohne zu lächeln, unbeeindruckt, ohne sich aufzuhalten oder mit mir zu sprechen (er hat niemals mit mir gesprochen) antwortete er mit einem „Pax“, und ich gab ihm resigniert die passende Antwort darauf. So pflanzt sich die Achtlosigkeit unter den Kameraden des Opus Dei immer weiter fort. Und tatsächlich verliert man so nach und nach das Interesse an den andern. Ich habe die Dienstbereitschaft beibehalten, aber im Lauf der Jahre nahm sie aufgrund meiner Erfahrungen immer mehr ab.

Der Großteil der Numerarier und Priester des Opus Dei, die ich kenne, leiden unter einer tiefen Trägheit des Herzens. Sie scheinen zu leben, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern, sie sind, wie Andy sagt, imstande, jahrelang mit einem Kameraden nicht zu reden, auch wenn sie mit ihm im selben Zentrum wohnen. Aber wie sollten sie auch nicht so sein, wenn man ihnen eben dies von klein auf beigebracht hat, man raubte ihnen Gefühl und Persönlichkeit und achte sie zu einer Art unsensibler Cyborgs, die imstande sind, ihren sogenannten Freunden ins Gesicht zu lügen und ihnen Freundschaft vorzuheucheln, während das einzige, was sie interessierte, war, dass sie pfeifen? Wie sollen sie nicht träge sein, wenn man ihnen von klein auf beibringt, kein Mitleid mit ihren sogenannten Freunden zu haben, denn hätten sie es, würden sie sie nicht zum Pfeifen bringen, im vollen Bewusstsein, was das für ihr moralisches, psychisches und geistliches Leben bedeutet? Wie sollten sie auch nicht träge sein, wenn sie von ihren Vorgesetzten so dressiert wurden, denn genau so funktioniert das Werk.

Die Trägheit bedeutet auch Gleichgültigkeit, und die ist eine Schwester der Faulheit, und eben deshalb, wie Andy sagt, erzeugen die Zentren der älteren Numerarier jene erstickende Atmosphäre egoistischer, ungerührter Herrschaften, wo sich einer um den andern nicht kümmert. Das ist aber nicht, wie Andy denkt, eine Folge der Lauheit seiner Kameraden im Zentrum, es ist die Folge einer Struktur, die jede Reaktion auf den Schmerz eines anderen lähmt. Sie macht sie unfähig, den anderen mitzufühlen, weil sie sie nicht, wie unter Freunden üblich, fragen können, was ihnen fehlt, wenn sie sehen, dass sie unglücklich sind, weil das eine besondere Freundschaft wäre und gegen die Einheit, und schließlich denken sie, dazu sind die Direktoren da.

Das „Werk“ muss sich „in Werken“ zeigen

In Demokrits Antwort an Andy erklärt er, was für ihn die Wurzel allen Übels ist: Die Leiter des Werkes, von denen er spricht, können nicht in das Innere der Menschen sehen, nicht weil sie nicht wollten, sondern weil ihre Sichtweise ein ganzes Leben lang deformiert wurde. Sie gehen nicht einmal aus ihren vier Wänden hinaus, sie haben den Blick für die Realität eingebüßt.

Mit anderen Worten, sie verzetteln sich in Tausenderlei, vor allem was das Zentrum selbst betrifft.

Ein Zeichen echter Demut wäre es, die Ideologie der protzigen Bauten aufzugeben, die sie offenkundig in denn letzten Jahren dazu gebracht hat, luxuriöse Gebäude aufzufahren.

Andy sagt mutatis mutandis, dass er in einer Atmosphäre geringer Hingabe lebt, in der sich keiner um den anderen kümmert. Und er ruft die Direktoren dazu auf, etwas zu unternehmen, und ich verstehe das auch, aber das Problem besteht darin, denn man hat die Direktoren in ein Netzwerk von Schulen, Kommissionen, Kirchen und Universitäten hineingestopft, die sie alle vom Wesentlichen ablenken.

Wann auch immer ich Häuser des Werkes aufsuchte, besonders die Delegation, waren sie „an der Arbeit“, zu verbessern, Räume zu entwerfen, eine größere Kredenz, mehr Juwelen für den Tabernakel. Sie kamen mir vor wie barocke Nönnchen, angepasst und leichtsinnig… Noch ein Wohnzimmer, ein Krankenzimmerchen, einige Querbalken würden sich nett machen… Damit ist es aber nicht genug, sie wollen viel mehr: Gebäudekomplexe in Manhattan und in Santa Fe in Mexiko, mit leeren Räumen, prächtige Symbole für die Macht des Opus.

Dieser Tick zu bauen ist zweifellos ein weiteres Symptom. In den Zentren der lteren, in denen die Direktoren leben, herrscht ein Klima völliger Unduldsamkeit; die Kameraden, die hier leben, können miteinander oder eben nicht. Diejenigen, die keine Kameraden ihrer Brüder sind, sondern Freunde oder echte „Brüder“, kriegen Ärger, sie geraten in Konflikt mit dem Regime, sie treffen auf die substanzlose  Indolenz Marke Escriba und enden bei Beruhigungsmitteln, im schlimmsten Fall stationär auf der Psychiatrie.

Also sei vorsichtig, Andy, wenn du diese Dinge anzeigst; wir, die wir schon draußen sind haben seinerzeit den Direktoren ebenfalls lange Briefe geschrieben. Niemand hat sie gelesen, und wenn doch, dann haben sie uns nahegelegt zu gehe. So sind sie und so denken sie, die Weltmeister der Unachtsamkeit, die Kameraden Direktoren. Angefangen beim Kameraden Prälaten.

Und noch etwas, Andy, Kindchen, ich habe schon so oft dasselbe gedacht wie du, wenn du schreibst:  Was für ein langweiliger Stuß sind die Kurzen Kreise, die Brüderlichen Gespräche, die Betrachtungen. Sie sind für nichts gut… Daraus sollte man eigentlich seine Konsequenzen ziehen, wen man nicht den Rest seines Lebens diesem langweiligen Stuß aufsitzen will. Ich habe sie gezogen, und ich lebe glücklich. Sehr glücklich.

Castalio