Haenobarbus: Briefe an den Vater

 

15. September 2006

 

 

 

Mit derselben Natürlichkeit, mit der das Wasser aus einer Quelle hervorbricht, mit derselben Natürlichkeit, wie die “Aussprache” entstand, entstand im Werk auch die Gewohnheit, dem Vater Briefe zu schreiben. Oder es sollte wohl heißen, die Gewohnheit, die Mitglieder des Werkes zu drängen, ihr Wesen, ihre Gefühle, ihre Art, die Berufung aufzufassen, die Arbeit, die Liebe zum Vater, den Gehorsam gegenüber den Direktoren etc. bloßzulegen.

 

Ich weiß nicht, wann das geschah, aber zweifellos schon sehr bald, und es gibt auch, aufgrund unerfreulicher Erfahrungen, die manche machen mussten, eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass man diese „Gewohnheit” nicht nur als Ablassventil nutzte, sondern dass man sie für bestimmte Zwecke in der Zukunft aufbewahrte... Unter normalen Umständen hätten solche Briefe den Zweck, die Einheit mit dem Vater zu befördern, so dass man das Gefühl hat, gehört und als Person wahrgenommen zu werden.

 

Anfangs las der Gründer sicherlich die Briefe seiner Söhne, aber es ist offenkundig, dass es im Lauf der Zeit notwendig wurde, was auch immer anderes behauptet wurde, und auch schon aus rein mathematischen Gründen, dass es nämlich schon rein zeitlich unmöglich ist, dass der Vater sie alle liest – und so wurde es notwendig, ein ganzes System einzurichten, um die Briefe, die zu Hunderten aus aller Welt kommen, zu übernehmen, zu lesen, einzuordnen und unter Umständen auch zu beantworten.

 

Carmen Tapia bestätigt in ihrem Buch, dass sie zu einer bestimmten Zeit diesen konkreten Auftrag hatte. Derzeit wurde dieser Auftrag nach geografischen Prinzipien aufgeteilt, mit einem hauptverantwortlichen Numerarier an der Spitze und einigen Funktionären zu seiner Verfügung. Wenn diese etwas entdecken, was der Mühe wert ist in Betracht gezogen zu werden, markieren sie es und geben es an den Verantwortlichen weiter, der es seinerseits auf den entsprechenden Dienstweg schickt.

 

Manchmal erhält der Betroffene durch die Direktoren einen Kommentar, der aus Rom auf jenem Umschlag  kommt, den er geschrieben hat. Andere male, und das ist weniger häufig, bekommt er einen Brief von einem der Direktoren des Generalrates, der im Namen des Vaters seinen Brief beantwortet. Ganz selten antwortet auch der Vater einige Zeilen.

 

Die Ausnahme von dieser Regel ist es, wenn der Vater einem seiner Kinder in articulo mortis schreibt, als Antwort auf einen Brief an den Vater, zu dem die örtlichen Direktoren ermuntert haben, in dem man seine Leben in die Hände Gottes legt und es für das Werk und die Person und die Anliegen des Vaters aufopfert. Natürlich wird dieser Brief dem Sterbenden vorgelesen, man erlaubt ihm ihn zu berühren und ehrfürchtig zu küssen, und dann wird er in der Regionalkommission aufbewahrt.

 

Wie wir schon bis zum Überdruss wissen, müssen die Briefe, die dem Vater geschickt werden, einen positiven und frohen Grundton haben, und aus Liebe zum Vater soll man ihm unnötige Widerwärtigkeiten und persönliche Nichtigkeiten ersparen – Klagen, Vorwürfe, alles, was eine negative Wertung bedeuten würde. Sie sollen auch die Liebe dessen, der schreibt, ausdrücken, seinen Wunsch, treu zu sein, seine Entschlossenheit zu kämpfen, apostolischer, heiliger, hingegebener zu sein.

 

Nun gut, abgesehen von den erwähnten Zwecken haben die Briefe noch einen anderen Hintergrund, der nicht weniger wichtig ist. Sie können zu einem späteren Zeitpunkt als Beweismittel dienen. In diesem Zusammenhang hat der Brief, mit dem jemand um die Dispens bittet, eine entscheidende Bedeutung: Die Direktoren haben genaue Anweisungen, dass sie maßvoll, einfach und dankbar sein sollen. Wenn irgend möglich sollte der Betroffene erwähnen, dass er sich schuldig fühlt, wenn er um die Entlassung bittet, weil er nicht treu war, weil er nicht mehr gekämpft hat, weil er den Blick zurückgewendet hat, nachdem er die Hand schon an den Pflug gelegt hatte. Vor allem sollen die Briefe Dankbarkeit für das Empfangene ausdrücken, die Bereitschaft, dem Werk weiterhin nach Möglichkeit zu helfen, und eine tiefe Liebe zum Vater, dem er zum Abschied noch einmal die Hand küsst. Dabei tut es nichts zur Sache, was der Gründer bis zum Überdruss wiederholt hat, dass ihm die Liebe derer, die gehen, egal ist, weil sie aufgehört haben Gott in ihrer Berufung zu lieben.

 

Deshalb bestehen die Direktoren darauf, dass sie den Brief, in dem man um die Dispens bittet, vorab lesen, und sie bestehen darauf, dass man ihn noch einmal schreibt. Deshalb zerreißen sie ihn gewaltsam, wenn er nicht den vorgesehenen Kriterien entspricht; deshalb öffnen sie ihn, auch wenn der Betroffene ihn verschlossen abgegeben hat. Sie führen an, dass es notwendig ist, dass der Betroffene die Dispens in einer juristisch korrekten Weise erbittet, und gleichzeitig muss der Brief dann unter Umständen später auch als Beweis dafür dienen, dass der Betroffene friedlich ausgeschieden ist, freiwillig, voller Dankbarkeit und voller Schuldgefühle, indem er andächtig die Hand des Vaters küsste.

 

Wenn man den zuständigen Stellen gegenüber aufdecken möchte, was ein Mensch in dieser Institution erlebt hat, stellen seine Briefe selbst das größte Hindernis dar, besonders der mit der Bitte um Dispens.

 

Das Werk hat handschriftliche Beweise in Händen, dass hier jemand kämpfen wollte, Bekenntnisse unserer Schwächen, unserer Liebe zum Vater. Wir aber haben nur unser Wort: oft das Wort eines depressiven, armseligen Menschen, der im Kampf ermüdete, der nicht aufrichtig war, der die Mittel nicht angewendet hat, die ihm die Institution geboten hatte, der wenig bedeutete, aber bis zum Schluss beständig wiederholt hat, dass das Werk für ihn alles bedeutete, dass er es wie verrückt geliebt hat und dass es iohn schmerzte zu gehen.

 

Werden die Briefe aufgehoben? Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran. Allerdings weiß ich nicht, ob sie heutzutage in Papierform oder als Scan aufbewahrt werden … aber dass man sie aufhebt, ist ganz sicher!

 

Wollt ihr einen Rat hören? Niemand soll sich dazu drängen lassen, die Bitte um Dispens niederzuschreiben; sie ist in einem geschlossenen Kuvert zu übergeben, und das Ersuchen, dass man gestattet den Brief zu öffnen, ist prinzipiell abzulehnen. Ich würde auch empfehlen, eine Kopie davon an den Heiligen Stuhl zu schicken, an die Bischofskongregation. Und damit der Brief gültig sei, soll einfach die Bitte geäußert werden, von den Verpflichtungen zu dispensieren, die man als Numerarier, Assoziierter oder Auxiliarin der Prälatur Opus Dei übernommen hat (es genügt nicht, einfach nur „Prälatur“ zu sagen), man sollte keine Dankbarkeit äußern, wenn man sie nicht empfindet, keine Hände küssen, aber auch keine Aggressionen loswerden, denn der Brief auch als Beweismittel an einem Psychiater dienen, dass man verrückt ist!

 

Man könnte noch mehr über die Briefe im Werk schreiben, vor allem auch über die, die geschlossen zu übergeben sind, aber für den Augenblick würde das zu weit gehen.

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