José María Escrivá Albás: Einige historische Probleme

 

Jaume García Moles

 

22/07/2013


18. Beitrag:

4. Kap.: IM SEMINAR VON SARAGOSSA

ESCRIVÁ IM  AMBIENTE DES SEMINARS  SAN FRANCISCO DE PAULA

Eine eigenartige Geschichte, die ich in der internen Kultur des Werks Escrivás sowie bei vielen seiner Hagiographen bemerkt habe, ist, dass sie uns einerseites von der schlechten Umgebung erzählen, die Escrivá unter seinen Kameraden hatte (sie nannten ihn feiner Pinkel, Snob, Rosa mystica,  Träumer1), und andererseits versuchen sie uns mit Zeugenaussagen, die ein halbes Jahrhundert danach gesammelt wurden, davon zu überzeugen, dass praktisch alle seine Kollegen die höchste Meinung von ihm hatten. Angesichts dieses offenkundigen Widerspruchs muss man schließen, dass Escrivá und seine Hagiographen überempfindlich waren, denn sie erinnern sich immer wieder an Dinge von geringer Bedeutung, die Escrivá später als Kleinigkeiten abtut 2, und sie haben sich darauf beschränkt, nur Zeugnisse von jenen Zeugen zu veröffentlichen, die eine gute Meinung von ihm hatten.

Deshalb würde es diese Hagiographen, die so eifrig darauf bedacht sind, die Fehler, Schwächen und Übertretungen ihres Helden zu verbergen, wie ein Guss mit eiskaltem Wasser treffen, wenn ein Detail nicht dazupasst. Wer erinnert sich nicht daran, dass es in der eigenen Schulzeit gelegentlich die widerliche Figur des „Schleimers“ gab, der den Lehrern, pardon,  „hinten hineinkroch“, immer um die Direktoren und Professoren herumscharwenzelte, um ihnen den Speichel zu lecken und ja zu sagen. Der „Schleimer“ (span. „pelota”)  ist, wie das Wörterbuch der Königlichen Akademie für die Spanische Sprache in seiner 12. Bedeutung angibt, ein Schmeichler, der sich beliebt machen will.  Merkwürdigerweise gab es in fast jeder Klasse einen Schleimer.

Und tatsächlich gibt es mehr als genug Motive anzunehmen, dass Escrivá von einigen seiner Kommilitonen so beurteilt worden sein könnte, sei es zu Recht, aus Neid oder aus Unverständnis. Wie wir sehen werden, machte er sich schnell gut Freund mit dem Kardinal, Erzbischof Soldevila, ebenso mit dem Präsidenten des Seminars, seit 1920 Weihbischof, Miguel de los Santos Díaz Gómara; er schloss Freundschaft mit den Cousins von Antonio Moreno, dem Vizepräsidenten des Priesterseminars, und durch sie mit Don Antonio selbst, der  die Gesellschaft des  Inspektors [Escrivá] suchte, dem er gerne zuhörte und der ihn gerne gewinnen ließ,wenn sie miteinander Domino spielten3. Erinnern wir uns auch, dass der Regens Escrivá den Auftrag gab, eine kleine Huldigungsrede für Miguel de los Santos anlässlich seiner Weihe zum Bischof  von Tagora zu halten, im Dezember 1920, zwei Monate nach der Ankunft Escrivás im  Seminar San Francisco.

Die Sache ist, dass er [Escrivá] für seine Ausführung den Wahlspruch des Bischof s von Tagora gewählt hatte: Obedientia tutior (der Gehorsam ist sicherer).Der Tag kam, er präsentierte seine Gedanken auf Lateinisch, in Form eines Gedichts. Die Überlegungen über die besondere Sicherheit, die die Annahme des Rates der Vorgesetzten verleiht, verschafften ihm die Wertschätzung des Bischof und des halben Dutzend der  Priester von San Carlos, die an der Feier teilnahmen4.

All das und vieles mehr beschreibt uns Vázquez, und jeder, der das aus der Sicht eines Studenten liest, könnte annehmen, dass man ihn wirklich für einen Schleimer gehalten habe, und ich ich halte nicht mit einer anderen Überlegung hinter dem Berg, dass mir immer bei diesen Erzählungen das Foto Escrivás vor Augen steht,  mit langen weißen Manschetten mit auffälligen Manschettenknöpfen, mit knapp geschlungener Krawatte mit Krawattennadel, einem dunklen Anzug und dem Bewusstsein, tatsächlich ein junger Herr zu sein, der sich nicht erst eine Möglichkeit suchen musste, wie die Wäsche zu waschen sei, wie die anderen Kameraden im Seminar, sondern dem sie umsonst übernommen, gewaschen, ausgebessert und gebügelt wurde, weil es ihm sein Onkel Carlos so eingerichtet hatte. 5

Mir scheint, dass der junge Escrivá eine große Neigung zur christlichen Frömmigkeit gehabt hat, zur Hingabe, eine mehr oder weniger übertriebene Sensibilität für die eingebildeten Zeichen der Vorsehung, die Omina, Gutmütigkeit gegenüber seinen Mitmenschen, eine problematische Aufrichtigkeit des Gewissens, ein beginnendes Innenleben – vielleicht weniger als er selbst es sich einbildete – Heftigkeit und Jähzorn und ein wenig Eitelkeit mit dem Wunsch, gut dazustehen. Außerdem zeigten sich in ihm Charakterzüge von großer Bedeutung, die ihn sein Leben im Seminar so verstehen ließen: Er hatte einen großen Ernst und eine innere Reife, die vielleicht aus den familiären  Unglücksfällen und Schwierigkeiten herrührten, den vergangenen und den gegenwärtigen. Sein Schriftzug, deutlich in den Eingaben an seine Vorgesetzten,  fällt auf durch Festigkeit und  Persönlichkeit und zeigt zugleich einen Charakter, der in in einer angenehmenUmgebung liebenswürdig und ruhig sein konnte, umgänglich, gesprächig, einfallsreich, überzeugend und mit einem großartigen Gedächtnis, das es ihm erlaubte, mit Leichtigkeit seine Lektüren aufzunehmen.

Ich erinnere mich daran, wie vor einigen Jahren ein Freund, ein ausgezeichneter Lehrer, bei den Vorbereitungskursen zur Reifeprüfung mich aufmerksam machte, als in einer Klasse ein Junge mit einer gewissen Reife und guter Laune auftauchte, mit einer Selbstsicherheit und einem Betragen, das über sein Alter weit hinausging, und dass sich die übrigen wie die Bienen um den Honig um ihn scharten. Er verwandelte sich in ein Zentrum der Aufmeksamkeit, auch wenn er das nicht wollte, und ich erinnere mich daran, dass ich selbst etwas Ähnliches in meinem letzten Jahr im Gymnasium erlebt habe. Da kam ein Junge, der zwei Jahre älter war als wir, der vom Seminar zurückkam, und es geschah genau das Gleiche, worauf mich der Professor aufmerksam gemacht hatte: Dieser Junge verwandelte sich innerhalb von zwei Tagen in den geachteten Mittelpunkt der Klassse, auch wenn er nicht besonders gescheit oder gepflegt war.

Als dieser Junge aber, der eine Reife und Festigkeit aufwies, auch noch einen freundlichen Charakter und guten Humor bewies sowie die Fähigkeit, sich auf natürliche Art mit Älteren zu befassen, als wären es Gleichgestellte, war das Ergebnis unvermeidlich: Er stach aus den anderen heraus, und die Professoren merkten das sehr wohl. Aber das Leben zeigt uns, dass es nicht das äußere Auftreten ist, denn darunter kann sich eine gewisse Gefallsucht verbergen, eine übertriebene Vorstellung von den eingenen Talenten. Es mag an ihm auch Trägheit gegen haben, Unbeständigkeit, Pose, Kalkül und sogar Heuchelei, die im Lauf der Zeit aus der sich entwicklenden Feststellung herrührten, dass er mit besonderer Leichtigkeit andere beeinflussen konnte. Hervorragende Begabungen bedürfen der wachsamen Pflege – von Seiten der Person selbst und von den Vorgesetzten.

Ich denke, dass dies bei Escrivá der Fall war. Er trat in das Seminar ein mit dem großzügigen Wunsch Gott zu dienen, in dem er eine göttliche Berufung sah und der es ja gewissermaßen auch war. Unter seinen Wünschen wog auch der sehr stark, in seinem Leben etwas Großes zu vollbringen, ein Gedanken, den seine Mutter ihm ins Ohr gesetzt hatte angesichts seiner wunderbaren Heilung. Dazu gesellte sich die fixe Idee, die er mit seiner Mutter teilte, dass er nach seiner Weihe seine priesterliche Bestimmung in Saragossa finden würde, was ihn nicht nur dazu brachte, die Inkardination in diese Stadt anzustreben, wie wir gesehen  haben, sondern auch verzweifelte Schritte zu unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen.

Ein anderer Wunsch, oder besser gesagt, die Neigung entstand schon im Seminar von Logroño. Wir erfahren es von seinem Kameraden Máximo Rubio Simón:

Man merkte, dass er eine tiefe Besorgnis hatte: eine Unruhe für die jungen Leute um uns,  wenn er über seine alten Kollgen aus dem Institut und darüber nachdachte, was er wohl für sie getan haben könnte. Der Mangel an Religiosität bei diesen jungen Leuten tat ihm weh.

Diese Neigung begleitet ihn von da an sein Leben lang: Er war von jungen Menschen  umgeben, die er spirituell betreute. Es ist sehr wahrscheinlich, dass damals schon die Befriedigung mit hineinspielte bewundert zu werden. Es ist eines der kennzeichnenden Persönlichkeitsmerkmale von Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung,  unter der Escrivá gelitten habe könnte, wie viele mit wohlbegründeten Argumenten belegt haben.

Die Hagiographen folgen hierin Escrivá und legen eine große Emphase auf die Tatsache, dass von da an ein neues Muster im Charakter des Seminaristen auftaucht: apostolischer Geist und die Begabung zu leiten. Es geht um seine Ernennung zum Inspektor der Theologen am Seminar San Francisco, und ich denke, dass sie mit dieser Einschätzung recht haben  und mit der Interpretation der Konseqenzen sogar noch zu kurz gegriffen haben. Auch Giancarlo Rocca unterliegt meines Erachtens hier einer Fehleinschätzung, wenn er die Ernennung Escrivás zum Inspektor als Antritt einer einfachen Präfektenstelle abtut 6 und ihn nicht als Superior ansehen möchte.

Es war ein Amt, das üblicherweise jungen Priestern oder älteren Seminaristen übertragen wurde, aber immer Klerikern. Es steht beispielsweise fest, dass der Cousin seiner Mutter, Don Cruz Laplana, bereits als Priester, 1901 von Barbastro nach Saragossa exkardiniert wurde, um das Amt eines Inspektors des Seminars San Francisco anzutreten, das ihm angeboten worden war7. Es ist sehr wahrschinlich, dass der Onkel Escrivás, Don Carlos Albás, dieses Faktum  mit Escrivá besprach, das noch zusätzliches Gewicht erhielt, als Don Cruz wenige Monate, bevor Escrivá zum Inspektor ernannt wurde, zum Weihbischof von Cuenca geweiht wurde. Der Inspektor Escrivás in seinen beiden ersten Studienjahren in Saragossa, Don Santiago Lucus, war damals Professor an der Päpstlichen Universität und wurde im August 1921 zum Priester geweiht. Der andere Inspektor, als Escrivá in dieses Seminar eintrat, hatte die Niederen Weihen erhalten und war 23 Jahre alt. Es gab zwei Inspektoren, die auch, vor allem in den Dokumenten, Direktoren genannt wurden: einen für die jüngeren Seminaristen, die Philosophen, und einen andern für die Theologen. Sie waren Superioren in dem Sinne, dass die Studenten ihnen  Respekt und Gehorsam schuldeten.

Die tatsächliche Leitung der Studenten des Seminar lag beim Regens, der sich dabei auf die beiden Inspektoren stützte, Sie waren es, die Anordnungen und Strafen verfügten, die Studien und die Frömmigkeit der Studenten überwachten, sie in den Unterricht nach San Valero und San Braulio und bei den Spaziergängen begleiteten etc.  8

Unter dieses Vorzeichen kann man die Ernennung Escrivás  im September 1922, im Alter von 20 Jahren, als etwas Außerordentliches betrachten, eine Entscheidung des Kardinals Soldevila, der ihm deshalb bereits in diesem Monat die Tonsur erteilen musste9 um ihn, man beachte, zum Inspektor der Theologen zu ernennen, obwohl er der jüngste im veirten Studienjahr war. Das bedeutet, dass die Studenten seines und des nächsthöheren Jahrgangs, die älter als er waren, nunmehr seiner Autorität unterstanden10. Andererseits scheint dies die Konsequenz dessen gewesen zu sein, was ich vorher als „Präsenz“ Escrivás durch seine Reife und Liebeswürdigkeit beschrieben habe. So war es, lt. Vázquez, der Entschluss des Kardinals:  

Der Ruf Escrivás war bereits zu ihm gedrungen, für die einen ein guter, für die anderen der eines „Snobs“, war bereits am seine Ohren gedrungen, Durch die Kommentare des Präsidenten, Don Miguel de los Santos, oder durch die Gespräche mit dem Regens des Seminars, der sich bereits in einen entschlossenen Verteidiger des Seminaristen verwandelt hatte (…) Nachdem er Interesse an  Josemaría gefunden hatte, rief er ihn beiseite. Bei anderen Gelegenheiten, als er auf der Straße die Zweierreihen der Seminaristen von  San Carlos traf, oder in der Kathedrale, fragte er den Seminaristen nach seinem Leben und seinen Studient.Einmal – so berichtet ein Kollege – hörte er, dass er sagte: „Komm mich besuchen, wenn du Zeit hast“ 11.

Auf derselben Seite versichert uns Vázquez, dass der Kardinal dem Regens seine Entscheidung darlegte, Josemaría zum Inspektor von San Carlos zu ernennen. Darin widerspricht ihm Herrando, wenn er behauptet, dass es der Regens selbst gewesen sei, der Escrivá zum Inspektor vorgeschlagen habe12.

Die Hagiographen haben ihre Freude daran zu berichten, mit welchem Enthusiasmus Escrivá diese Ernennung aufnahm,  in der er zum ersten Mal ein Betätigungsfeld für seine apostolische Unruhe sah, die er seit Logroño für das geistliche Leben der Jungen verspürt hatte.

Ja, es gab keinen Zweifel daran, aber man muss auch die Kehrseite der Medaille betrachten. Laut Herrando war er praktisch der Kopf des Seminars:

Der andere Inspektor dürfte Schwierigkeiten gehabt haben, seine Schützlinge zu kennen und richtig zu behandeln (…)Vielleicht aus diesem Grund wollte des Regens, dass der erste Inspektor in der Praxis quasi alle Aufgaben übernahm. Vor allem hinsichtlich der Dokumentation war es nunmehr  Josemaría, der die Amtsschriften anstelle des Regens führte, und er war als einziger damit beauftragt, die Berichte zu redigieren, die bis dahin beide Inspektoren monatlich dem Regens abgeliefert hatten.

Die Kehrseite der Medaille kommt von seinem Erfolg. Lt. Vázquez13,  war  Josemaría der erste, der darüber sprachlos war, dass man einem ganzen Seminar Frömmigkeit einflößen könnte: Zweifellos hat Unsere Liebe Frau dies bewirkt, sagte er uns, als er den Wandel in Verhalten und Frömmigkeit der Seminaristen erklärte.

Niemandem bleiben die Gefahren verborgen, die einem solchen Aufstieg innewohnen und die in Eitelkeit und Selbstgefälligkeit bestehen. Er hatte einen vierfachen Rückhalt: seine guten Noten im Studium, die Ernennung zum  Inspektor der Theologen, obwohl er jünger als viele von ihnen war, der Erfolg bei der Leitung der Zöglinge im Seminar, und schließlich und vor allem, den guten Ruf  bei den Autoritäten der Diözese, mit denen er persönlichen Umgang hatte: mit dem Erzbischof selbst, Kardinal Soldevila, mit dem Präsidenten des Seminars und späterem Weihbischof  Miguel de los Santos Díaz Gómara, mit dem Regens des Seminars, José López Sierra, und dem Vizepräsidenten des Priesterseminars, Antonio Moreno.

Wir haben bereits zwei ähnliche Elemente gesehen, die auf sehr weltliche Weise Escrivá beeinflussten: Seine psychologische Notwendigkeit, das Priestertum gut anzufangen, in Saragossa, was ihn dazu führte, dass er schlimme Fehler beging; und die Hoffnung große Dinge zu vollbringen, für die die priesterliche Bestimmung eine gute Ausgangslage bilden könnte.

Wegen dieser Wünsche hatte er anfangs mit dem Einfluss des Archidiakons gerechnet, aber im Gespräch mit ihm merkte er, dass seine Stellung an der Kathedrale nicht unbedingt eine zentrale Rolle bei der Leitung der Diözese war, so dass er nicht bereit war, einen aussichtlosen Kampf zu kämpfen und sich aufzureiben für ein Pöstchen in Saragossa. Aber jetzt wurde dieser Einfluss geringer, weil er ja am Kardinal eine Stütze gefunden hatte, der die äußeren guten Eigenschaften und die Tugend Escrivás entdeckt hatte; er hatte ihm eine hervorragende Stellung im Seminar eingeräumt, die eines Inspektors, und deswegen zögerte er nicht, ihm vorzeitig die Tonsur und die Niederen Weihen zu erteilen, und er war jünger als die, denen er nun Befehle erteilen sollte. Dieser Ernennung Escrivá wurde immer eine große Bedeutung beigemessen; er führt sie in seinem Curriculum an und erinnerte „die Seinen“ häufig genug daran. Es ist offenkundig, dass der Kardinal Escrivá in einer Vertrauensstellung haben wollte, wie aus dem Zeugnis von Francisco Moreno Monforte ersichtlich ist14:

Man merkte, dass  Kardinal Soldevila – der damalige Erzbischof  von  Saragossa, ihn sehr schätzte. Wenn er sich mit uns im  Seminar,in der Kathedrale oder sonst einem anderen Ort traf, pflegte er sich vor allen anderen an  Josemaría zu wenden und ihn zu fragen, wie es ihm ginge und wie seine Studien fortgingen.  Manchmal hörte ich ihn sagen: „Komm mich besuchen, wenn du ein wenig Zeit hast“.

Sein vertrauter Umgang mit dem Regens des Seminars wuchs ebenfalls15, der direkt mit dem Kardinal konferierte, und er hatte freundschaftlichen Umgang mit dem Weihbischof, Miguel de los Santos16.

Escrivá entschied sich von Anfang an dazu, seine priesterliche Karriere auf jene Einflussmöglichkeiten zu stützen, die ihm verfügbar waren. Deshalb darf man annehmen, das in ihm die Überzeugung heftig arbeitete, im Kardinal eine hervorragende Stütze zu haben, um später einmal einen Posten an dessen Seite einzunehmen oder jedenfalls weiter Inspektor des Seminars San Francisco de Paula oder Regens des Conciliar-Seminars zu sein, das näher an der Residenz des Kardinals  lag, und er konnte für die Zeit nach der Priesterweihe davon träumen, einmal Regens des Seminars zu sein, Sekretär des Kardinal oder einen anderen Vertrauensposten einzunehmen. Es ist passend, angesichts des Präzedenzfalls seines Verwandten, des Bischofs Cruz Laplana, der, bereits als Priester, sich sogar von Barbastro nach Saragossa exkardinieren ließ, um das Amt eines Inspektors im selben Seminar anzunehmen, das Jahre später Escrivá innehaben sollte. Wie ich schon vorher angemerkt hatte, muss Escrivá Don Cruz in Saragossa kennengelernt haben. Mit dieser Ernennung zum Inspektor hatte Escrivá alles erreicht, was er sich damals wünschte: Er konnte Seminaristen bilden, zum Unterhalt seiner Familie beitragen und drei Monate im Jahr Ferien haben, die er dem Studium widmen konnte, um sich auf eine kirchliche Karriere vorzubereiten und dann die Auswahlprüfungen anzugehen, um Pfarrer oder Kanonikus zu werden. Nun, der Kardinal hatte seinen Senf dazugegeben, und dass sollte in Zukunft sehr wichtige Auswirkungen auf sein künftiges Leben als Priester haben.

Dieser Berufswunsch, seine gute Erziehung und seine Reife, die über seine Lebensjahre hinausging, kontrastierten heftig mit dem – seiner Meinung nach unerfreulichen – Ambiente des  Seminars, mit dem Klerus, der im selben Gebäude lebte und angesichts dessen er sich wie ein Dorfpfarrer vorkam. So muss er es sich in den Kopf gesetzt haben, dass dieses Milieu nicht das seine sei. Aber statt sich zu überwinden oder das Seminar zu verlassen, kultivierte er diese Ablehnung in dem Gedanken, dass er nicht ein solcher Priester sein wolle, als ob er sich frei dazu entscheiden könnte, ein anderer zu sein, und als ob er nicht heiligmäßig Gott unter denselben Bedingungen und Umständen dienen könnte wie jeder andere Priester. So erfand er nach und nach die Karikatur einer priesterlichen Karriere, um seinen Widerwillen gegen die priesterliche Laufbahn, die ihn erwartete, zu rechtfertigen, während er auf einen ganz besonderesn Eingriff von oben wartete, der ihn von den Zwängen der Normalität befreien sollte. Er war außerdem davon überzeugt, dass Gott ihn um eine Lebensform bat, mit der er junge Studenten christlich beeinflussen oder den jungen Seminaristen eine geistliche Stütze sein konnte.

Diese Angelegenheit, die ich das Problem der priesterlichen Karriere nennen möchte, begleitete ihn sein ganzes Leben hindurch. Ich denke, dass er sie niemals gelöst hat, denn es scheint, dass er in seinem Berufungsprojekt immer wieder durch plötzlich auftauchende Störungen verunsichert wurde. Es war ein inneres Problem, eine chronische Krankheit, von der er sich nicht mehr befreien konnte, sehr wahrscheinlich weil sie mit einer Persönlichkeitsstörung einherging. Wie man weiß, bringt es sie narzisstische Persönlichkeitsstörung mit sich, dass sich der Patient vor sich selbst entschuldigt. Er entschuldigt sich für Übertretungen, weil er sich für etwas Besonderes hält, eine Ausnahmeerscheinung, für den die moralischen Markierungen zwischen Gut und Böse nicht gelten, und während er sich exkulpiert, sucht er Schuldige, die dafür verantwortlich sind, warum seine Handlungen nicht den erwünschten Erfolg gezeitigt hätten. So glaubte Escrivá, dass ihn der Wille Gottes für ein „anderes“ Priestertum bestimmt hatte, und deshalb galt für ihn keine Norm, keine Vorschrift, keine Klugheitsmaßregel, wegen seiner Verblendung, einer Priesterlaufbahn nach eigenem, Geschmack in Saragossa nachzugehen, einer Stadt, in der es viel mehr Möglichkeiten  gab sie zu erreichen. Hatte er einmal sein Ziel erreicht, und angesichts der Debakel, die seine unbedachten Entscheidungen für ihn, für seine Familie und später für sein Werk brachten, gab er die Schuld dem Klerus, den Seminaren, seinem Onkel, dem Erzbischof, den Jesuiten, dem Heiligen Stuhl, den politischen Machthabern, denjenigen, die sich enttäuscht von seinem Werk abgewendet haben, und denjenigen, die geblieben sind, aber die proselytistischen Ziele und die Machtpositionen nicht erreichen, die er ihnen vorgibt. Armer Escrivá, der mit oder ohne Schuld sei ganzes Leben lang dieses Kreuz tragen musste!

Das Problem seiner priesterlichen Karriere verfolgte auch, wie es nicht anders sein kann, auch seine Hagiographen, aber das müssen wir hier nicht erörtern, auch wenn es die Hagiographen mit dem Thema der Berufungskrise Escrivás vermengen. Aus diesem Grund und um die Darstellung meiner Geschichte nicht ausfransen zu lassen, werde ich in meinem nächsten Beitrag auf die echte Berufungskrise Escrivá von 1923 und 1924 eingehen und werde abschließend in einem Kapitel das Problem der priesterlichen Karriere Escrivás insgesamt behandeln.

Jaume García Moles

(wird fortgesetzt)

1 Andrés Vázquez de Prada, El Fundador del Opus Dei, Bd. I, 6. Aufl. Rialp, Madrid 2001, S. 133-134.

2 Ebda., S. 135.

3 Vázquez, o. cit., pp. 155 und 156.

4 Vázquez, s. o., S. 146.

5 Vázquez, s. o., S. 131, Anm. 26.

6 G. Rocca, SSP, Kritische Anmerkung.  Claretianum XXIX (1989), S. . 386, Anm. (14). Dieselbe Kritik erscheint detailierter in G. Rocca, Cinque recenti publicazioni sull’Opus Dei, Claretianum XXXIV (1994), S. 468. Es scheint, dass Rocca von einem niedrigeren Rang ausgeht, wie er in Italien und anderen Seminaren in Spanien üblich war; etwa im Conciliar-Seminar in Saragossa. Tatsache ist, wie uns Herrando, s. o., S. 57 ff. mitteilt, dass die Inspektoren im Seminar San Francisco de Paula Direktoren genannt wurden und den Rang von Superioren der Seminaristen hatten  (vgl. Herrando s. o., S. 266).

7 Archiv der Diözese Barbastro, Fasz. 1067, Eingabe vom 2/10/1901 von Don Cruz Laplana und Laguna an den Bischof von Barbastro mit der bitte um Exkardination nach Saragossa aufgrund seiner Ernennung zum Direkor des Seminars San Francisco de Paula.

8 Diese Information verdanke ich dem Buch von Ramón Herrando Prat de la Riba, Los años de Seminario de Josemaría Escrivá en Saragossa (1920-1925), Rialp, Madrid 2002.

9 Ebda., S. 124.

10 Ebda., S. 162.

11 S. o., S. 152. Man beachte „durch die Gespräche mir dem Regens des  Seminars, der sich bereits in einen glühenden Verteidiger des Seminaristen verwandelt hatte“. Ich denke, dies bezieht sich viel eher auf die Gespräche des Regens mit Kardinal Soldevila, um ihn über den Fortgang im Seminar zu unterrichten, wie Herrando (s. o., S. 56 meint). Die Annahme, der Regens habe einen wahrhaftwunderbaren Wandel (Vázquez, s. o., S. 140) in seiner Meinung über Escrivá durchgemacht, ist nichts anderes als ein Versuch, eine spätere Krise Escrivás vorwegzunehmen. Tatsächlich hatte sich die Meinung des Regens über den Charakter Escrivás nicht geändert, und was die Berufung betrifft, so wandelte sie sich erst im Juni 1924. Deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass die Idee dieser Ernennung vom Regens ausgangen sein soll. Wahrscheinlicher erscheint es da schon, dass ihn der Kardinal aus eigener Initiative und Kenntnis ernannt hat. Man beachte nebenbei, dass die Ernennung zum Inspektor, das die nach her verfassten jährlichen Qualifikationen des Regens über den Charakter und die Berufung Escrivá nicht bloße Routine sein konnten, wie die Hagiographen glauben lassen wollen, um sie mit der eingebildeten Hinwendung zugunsten Escrivás in Einklang zu bringen. Im Gegenteil, wenn die guten Beziehungen zwischen beiden enger geworden sind, dann ist die Meinung des Regens gewiss noch besser begründet – und nicht aus Freundschaft beschönigt.

12 S. o., S. 154. Wie man sieht, wenden Herrando und Vázquez denselben Kniff an. Beide haben dieselben zwei Hypothesen ohne reale Grundlage, die sich gegenseitig stützen. Die erste Hypothese ist die Berufungskrise Escrivás vor 1922. Die zweite Hypothese lautet, der Regens habe sich zu einem Befürworter Escrivás gewandelt. Vázquez spricht es direkt aus, dass er sich nunmehr in den entschiedensten Verteidiger des Seminaristen gewandelt habe, allerdings ohne diese Aussage zu belegen. Herrando beweist die „Bekehrung“ des Regens, denn dieser habe ja Escrivás Ernennung zum Inspektor vorgeschlagen – was er ebenso wenig beweisen kann. Merkwürdigerweise zielen die beiden Manipulationen auf das Gleiche ab, aber sie widersprechen sich in der Auskunft, wer die Nominierung Escrivás lanciert habe.

13 S. o., S. 248.

14 Herrando, s. o., S. 355.

15 Vázquez, s. o., S. 616.

16 Vázquez, s. o., S. 155.

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