Marcus Tank: Die Gründung des Opus Dei. Eine biographische Annäherung an Joseph Maria Escrivá

21.VI.2006

1. Wer war der Gründer des Opus Dei? Wie war seine Persönlichkeit? Nach vielen Jahren wissen wir es immer noch nicht. Er war ein Mann wie die anderen, aber er verstand es, eine mächtige Organisation mit vielen Mitgliedern zu schaffen und sich selbst zu einer prominenten Figur zu machen, die für die einen  mythisch  und für die anderen umstritten war, und sich bereits im Leben mit einer Aura der Heiligkeit umgab. John Allen nimmt für sich in Anspruch, die  intimsten Geheimnisse des Opus Dei, seiner Gründung, erforscht und gelernt zu haben. Aber die Wahrheit ist, dass sogar die Mitglieder und Ex-Mitglieder der Institution nach vielen Jahren der Mitgliedschaft über ihre wahre Entität debattieren und behaupten, sie nicht vollständig zu kennen. Es ist in der Tat überraschend, dass es keine Einigkeit darüber gibt, was seine authentische Realität ist. Natürlich ist das, was am Opus Dei umstritten und undurchsichtig ist, seinem Gründer zu verdanken, es ist eine Folge der Komplexität seiner Persönlichkeit, die an das Pathologische grenzt, und auch die eifersüchtige Heimlichtuerei, die die Biografie der Figur umgibt.

Meine Absicht in dieser Studie ist es, einige Aspekte hervorzuheben, die objektiv überprüft werden können – das heißt, die nicht von Meinungen dafür oder dagegen abhängen – und ohne dass es notwendig ist, über die umfangreichen „offiziellen Bibliographie“ über das Opus Dei und seinen Gründer zu polemisieren, die weitgehend parteiisch und manipuliert ist, weil sie kaum wissenschaftlich ist. Wissenschaftler, die  in ihrer Arbeit unabhängig sein wollten, haben festgestellt, dass die Institution den Zugang zu ihren Quellenarchiven gesperrt hat, aber sie haben es zumindest geschafft, den Mangel an historischem Realismus aller  anderen „offiziellen“ Literatur offenzulegen.

Das richtige Mittel, um unser Ziel zu erreichen, besteht darin, sich mit der Praxis der von José María Escrivá gegründeten Institution und ihrer Lehre  auseinanderzusetzen, die von dieser Plattform aus als charismatisch proklamiert wird: Beides sind objektive Realitäten und können mit der Lehre der Kirche verglichen werden. Und ein solcher Vergleich wirft ein bezeichnendes Licht darauf, was  an der Gründung göttlich inspiriert ist und was nicht, und es geht dabei um die Gründung einer Vereinigung, die alles, was ihr Gründer gelehrt hat, immer als einen klarsichtigen, kompakten, kohärenten und nahtlosen Block dargestellt hat, manchmal fast so, als ob das fleischgewordene Wort spräche. Daher werde ich vor allem die am weitesten verbreiteten Veröffentlichungen des Autors verwenden, da sie eine zuverlässige Studienquelle darstellen. Und wie wir sehen werden, möchte ich mich nicht auf Meinungen oder Urteile über die „persönliche Heiligkeit“ des Charakters einlassen.

2. Die besonderen Charismen, die vom Heiligen Geist inspiriert geboren werden, stehen in engem Zusammenhang mit der von der Kirche verkündeten Wahrheit und können daher am Maßstab ihrer Lehre gemessen werden. Man kann also sagen, dass eine Praxis, die den von der Kirche gelehrten und geforderten Grundfreiheiten rundweg widerspricht, nicht von Gott ist. Der Heilige Geist widerspricht sich nicht selbst, indem er die besonderen Charismen und die sichere Lehre der Kirche, mit den partikularen Charismen und den universalen Charismen, einander gegenüberstellt. Lassen Sie uns diese Idee weiterentwickeln. Die gesamte lehrmäßige und praktische Struktur des Opus Dei beruht auf der Tatsache, dass seine Dinge „auf diese Weise“ gelebt werden müssen, weil sie der Geist des Werkes sind, der von Gott gewollt ist und der den Gründer inspiriert hat. Dieser lapidare Satz, den wir soeben ausgesprochen haben, bezieht sich auf Gott – als eine „göttliche Institution“ – auf die gesamte Praxis des Werkes. Aber so kann es nicht sein.

Und zwar aus einer Reihe von Gründen. Erstens, weil es im Opus Dei Wege gibt, Dinge zu tun, die als inspiriertes Charisma verstanden werden – es wäre ein Mangel an gutem Geist, wenn es nicht so handeln würde, sagte der Gründer manchmal – und die in direktem Gegensatz zur kirchlichen Lehre stehen, wenn es um die Grundrechte und -freiheiten der Gläubigen geht. In diesem Fall kann es keinen Widerspruch zwischen einem bestimmten Charisma und einer sicheren kirchlichen Lehre geben . Ein „guter Geist“, der sich der Lehre der Kirche widersetzt, ist nicht möglich. Zweitens, weil viele dieser Praktiken, die der Gründer lehrte, im Laufe seines Lebens und sogar danach verändert wurden. Drittens, weil viele dieser Weisen dem Wesen seiner laikalen Spiritualität diametral entgegengesetzt sind. Viertens, weil die Deutung dessen, was geistig  ist und was nicht, nicht einer wissenschaftlichen Geschichtsuntersuchung zugänglich ist, sondern auf die Meinung und Bequemlichkeit des Herrschers beschränkt ist. Selbst wenn dies mit unzweifelhaft guten Absichten geschieht, rechtfertigt dies nicht die Authentizität seiner Interpretationen, denn wir haben es hier nicht mit irgendeiner Art von kirchlicher Unfehlbarkeit zu tun, sondern mit menschlichen Anordnungen.

Wenn wir weiter auf die Materie eingehen, so ist es als eine Frage des guten Geistes bezeichnet und zur Pflicht gemacht worden, die geistliche Leitung durch Direktoren zu leiten, was eine Praxis ist, die von der Kirche streng verboten ist; dasselbe geschieht mit der Unfreiheit, einen Beichtvater aus den Reihen der Priester zu wählen, die nicht dem Opus Dei angehören. Dies führt, wie bereits von mehreren Autoren hervorgehoben wurde – Oráculo in El silencio de oficio, Antonio Esquivias in Dirección espiritual, Doserra in Interrogatorios de conciencia, E.B.E. in La conciencia y la Obra, etc. – zu einer schwerwiegenden und institutionalisierten Verletzung des Geheimnisses der geistlichen Führung und der Intimität des Gewissens, zum Zwang der Freiheit im Namen Gottes.  auf den Eingriff in die persönliche Autonomie, der ihm zusteht, und auf andere Mißbräuche, die sich aus dem Versäumnis ergeben, die Trennung zwischen den Foren des Gewissens und der Leitung aufrechtzuerhalten, wie es die Kirche immer gelehrt und praktiziert hat. Das kann nicht Gott angelastet werden. Es kann weder ein göttliches Charisma noch ein guter Geist sein, sondern ganz im Gegenteil: ein schlechter „christlicher“ Geist.

Aber es gibt noch andere Fragen zu einem Geist, der die Grundfreiheiten verletzt: das Verbot, mit anderen Mitgliedern des Opus Dei als den entsprechenden Direktoren auszutauschen, und damit die Verweigerung jeder legitimen persönlichen Freundschaft, wie Oráculo in seiner Schrift Die Freiheit der Kommunikation im Opus Dei aufgezeigt hat; auch die Kontrolle der freien Meinungsäußerung über die Leitung der Institution oder ihren Geist, um jede Art von Anfechtung zu neutralisieren; die Isolierung und Unterdrückung jener Mitglieder, die ihre legitime Gewissensautonomie bewahren und sich nicht totalitären Methoden der Indoktrination, der Manipula­tion des Gewissens und der Kontrolle von Informationen unterwerfen.

Bei all dem, was wir soeben erzählt haben, war der Gründer ein Gründer ohne Grundlage, der gewiss gegen den Willen Gottes gehandelt hat, wie ich bereits in meinem früheren Schreiben betont habe, als ich vor den »Lügen« des Opus Dei warnte. Escrivá verheimlichte diese Praktiken absichtlich vor der Approbation durch die Hierarchie und zwang sie den Mitgliedern seines Werkes unter dem Vorwand auf, sie seien göttlicher Wille. Eine solche Täuschung und ein Mangel an „grundlegender“ Transparenz scheinen nicht auf eine Gabe des Geistes zurückzuführen zu sein.

3. Wenn man dann anfängt, die Augen für diese Beweise zu öffnen, nach mehr oder weniger vielen Jahren des Vertrauens in den guten Glauben derer, die das Opus Dei leiten, spürt man die Enttäuschung über den Betrug und ein unersättliches Bedürfnis nach Wahrheit. Man beginnt sich – sensu contrario – zu fragen, was wahr ist an dem, was der Gründer als von Gott überliefert hat. Je mehr Forschung in diese Richtung betrieben wird, abgesehen von offiziellen Quellen, desto mehr Ungereimtheiten werden gefunden. Und es kommt zu der schrecklichen Frage: Gibt es wirklich einen Gott in all dem?

José María Escrivá stellte die Option einer vollständig laizistischen Spiritualität vor. Wir hören ihn oft wiederholen, dass er sich nicht für Gelübde interessiere, nicht für Stiefel, nicht für Stiefeletten, nicht für Knöpfe, sondern für Tugenden. (Anmerkung des Übersetzers: Im Spanischen ergibt diese Zusammenstellung ein stumpfsinniges Wortspiel: no le interesaban los votos, ni las botas, ni los botines, ni los botones). Kurz vor der Oblation (die der zeitlichen Profess entspricht) erklärten sie uns, dass wir einige Gelübde ablegen müssten, die uns die Rechtsform des Säkularinstituts auferlegt habe, die andererseits unserem Geist nicht angemessen seien, die aber der Gründer  ohne weitere Zugeständnisse und mit der Absicht, das wieder zu ändern, habe akzeptieren müssen usw. Später erfährt man aus externen Quellen und sogar aus der offiziellen Veröffentlichung des Buches des juristischen Weges des Opus Dei, dass die Gelübde seit 1935 abgelegt wurden, als es noch keine rechtliche Anerkennung gab. Wie ist das zu erklären, wenn der Gründer am 2. Oktober 1928 das ganze Opus Dei sah, wie er es im Laufe der Jahre tun würde? Man könnte argumentieren: Es spielt keine Rolle, das sind belanglose Details.

Die Frage der Gelübde mag eine untergeordnete sein. Aber warum wurde in den 1950er Jahren, wie von Compaq dokumentiert, gesagt, dass die Figur des  Säkularinstituts die definitive sei und dem Geist des Opus Dei sowie dem Zustand der Vollkommenheit am besten entsprach  (vgl. Intervención del fundador en el Congreso General sobre el Estado de Perfección, Roma 1950,  und den Beitrag des Gründers für den Congreso de Perfección y Apostolado, Madrid 1956, wo angesehene Mitglieder mit offiziellen Positionen diese Lehre bekräftigten), und einige Jahre später wurde diese Position völlig aufgegeben? Ganz einfach, weil in jenen Jahren mit Hilfe von Congar, von Balthasar und anderen eine Theologie der Laien in der Kirche entstand und in Rom einige Kongresse über das Apostolat der Laien veranstaltet wurden  (1951 und 1957), die nichts mit den Säkularinstituten zu tun hatten. So änderte der Gründer zu Beginn der 1960er Jahre seine Position völlig und sprang auf den neuen Zug der Laien auf, indem er sich aus dem „Stand der Vollkommenheit“ auslöschte, aber versuchte, die mit dieser anderen Formel erreichten Jurisdiktionsprivilegien zu erhalten oder zu vergrößern. Das ist das Problem, kein anderes.

Wenn Escrivá  am 2. Oktober 1928 das gesamte Opus Dei gesehen haben soll, dessen Laienspiritualität sich deutlich von der der Ordensleute unterschied, so fragt man sich nun: Wie kommt es, dass er von Anfang an eine Lebenspraxis ganz nach dem Vorbild der Ordensleute organisiert hat? Es gibt viele Daten, um eine solche Aussage zu treffen, denn abgesehen von dem, was Haenobarbo in Verkleidete Ordensleute oder Inocencio und anderen in ihren entsprechenden Artikeln kommentiert hat, haben wir es alle erlebt – wir haben sogar Zwischenwände in den Oratorien gesehen, damit Frauen die gleiche Messe wie Männer besuchen konnten, aber getrennt, wie in Klausurklöstern! – und es wird auch von vielen Ordensleuten und Hierarchen der Kirche bestätigt.  die sich nicht darum kümmern, ihre Verwunderung darüber zu zeigen, dass das Opus Dei das eine sagt und hinter verschlossenen Türen etwas ganz anders lebt.

Wenn dies das Bild ist, das sich uns bietet, was hat Gott dann an jenem denkwürdigen Tag im Jahr 1928 dem Gründer eingegeben? Wir wissen es nicht. Seine Nachfolger, die das „Patent des Gründers“ zu besitzen scheinen, hätten das durchaus sagen können, aber sie haben nichts gesagt. Vielleicht war die Lösung des Rätsels im ersten der Intimen Notizbücher des nun Heiligen zu finden, aber leider hat er es aus Demut – wie man sagt – oder aus welchem Grund auch immer vernichtet. Natürlich scheint es nicht so, als ob Gott ihn im Detail in der Praxis des Laienlebens unterwiesen hätte, auch nicht in der Existenz von Frauen in der Institution oder von Priestern; oder in so vielen anderen grundlegenden Dingen. Was  also sah der Gründer am 2. Oktober 1928? Wenn er etwas sah, musste es sehr substanzlos gewesen sein.

4. Und wir reden hier über substanzielle Fragen des Geistes, nicht über Fragen der legitimen Leitungsstrategie, wo auch Widersprüche festgestellt werden: Zum Beispiel heißt es am Anfang – und nicht so sehr am Anfang –, dass das Opus Dei keine Schulen einrichten würde, und in der späteren Realität wissen wir bereits, worum es sich handelt: Das Opus Dei kann heute fast nur durch „seine“ Gymnasien an ein Apostolat mit Jugendlichen denken. Und warum nicht klar und deutlich über das Gründungsdatum sprechen? Und wenn es irgend etwas Außergewöhnliches am Gründer gab, so sollte man einfach sagen, worin es bestanden hat. Die Entschuldigung, dass es aus Demut verschwiegen worden sei, ist nicht akzeptabel. Oder gab es etwa nichts „Besonderes“?

Andererseits wird das Charisma der Heiligung der Arbeit  seit seiner Gründung im Oktober 1928 als ursprüngliche Grundlage des Opus Dei  dargestellt. Aber Estruch hat in seinem Studium der Verzeichnisse der verschiedenen Ausgaben des Weges (vgl. Santos y pillos) gezeigt, dass der Ausdruck „Heiligung der Arbeit“ erst in den Ausgaben der späten sechziger Jahre auftauchte und vorher als solcher noch nicht existiert hat. Was den Geist der Heiligung inmitten der Welt, in den weltlichen Tätigkeiten, betrifft, so gibt es Vorläufer, die chronologisch vor dem Gründer des Opus Dei und unabhängig von ihm sind. Das ist eine Frage, die es wert ist, besonders untersucht zu werden, wobei man den heiligen Franz von Sales, Karl von Foucauld – mit seiner Spiritualität von Nazareth – und so viele andere anführen könnte. Warum schlängeln sich die „offiziellen Biographien“ auf Zehenspitzen durch die Beziehung zwischen Escrivá und Pedro Poveda, deren Grundlage völlig konvergent mit den Ansätzen ist, die das Opus Dei später machen sollte? Chronologisch lässt sich zeigen, dass der Einfluss von Poveda zu Escrivá geht und nicht umgekehrt.

Man kann sehen, dass der Heilige Geist in verschiedenen Teilen der Welt die kirchliche Erneuerung der Laien gefördert hat. Und das wird in einem offiziellen Informationsdokument des Heiligen Stuhls anerkannt:

Säkularinstitute haben eine Vorgeschichte, denn schon in der Vergangenheit gab es Versuche, ähnliche Vereinigungen wie die heutigen Säkularinstitute zu gründen; Das Dekret „Ecclesia Catholica“ (11. August 1889) gab diesen Vereinigungen eine gewisse Billigung, die jedoch nur eine private Weihe für sie zuließ. Vor allem in der Zeit zwischen 1920 und 1940 erweckte das Wirken des Heiligen Geistes in verschiedenen Teilen der Welt verschiedene Gruppen von Menschen, die das Ideal verspürten, sich Gott bedingungslos hinzugeben, in der Welt zu bleiben, um in der Welt für das Kommen des Reiches Christi zu arbeiten. Das Lehramt der Kirche war empfänglich für die Verbreitung dieses Ideals, das um 1940 auch in den Zusammenkünften einiger dieser Gruppen Gestalt annahm« (Kongregation für die Ordens- und Säkularinstitute, 6. Januar 1984).

Kurz gesagt, nach den objektiven Realitäten zu urteilen, ist die Version der Gründungsereignisse, die von der „offiziellen Doktrin“ des Opus Dei geliefert wird, nicht glaubwürdig. Es ist unklar, was sein Gründer  am 2. Oktober 1928 gesehen haben soll. Wenn es etwas Übernatürliches gab, dann war es die Förderung einer pastoralen Bewegung für die Heiligkeit der Laien, denn über den Kern dieser Spiritualität schrieb der Gründer Seiten mit unbestrittener Inspiration, aber nicht viel mehr, wie es so vielen anderen „charismatischen“ Christen jener Zeit widerfuhr. Aber die Konkretionen dieser Inspiration in der Praxis, die er für die Institution „Opus Dei“ organisierte, sind unabhängig von der übernatürlichen Tatsache und stehen oft im Widerspruch zu einer wahren Laienspiritualität.

Daher ist es notwendig, zu unterscheiden, was von Gott und was von José María Escrivá ist,  in dem, was  man den Geist des Opus Dei nennt, wie Oracle in einigen seiner Schriften hervorgehoben hat; die Unterscheidung zwischen dem Immerwährenden und dem Vorübergehenden. Viele der sogenannten Fragen des Geistes, wie die konkreten Lebenspraktiken (die sich in den wechselnden Dispositionen zur Armut zeigen) oder die Art und Weise, wie die Trennung von Mann und Frau konkretisiert wird, und viele andere Konkretionen, die als grundlegend bezeichnet werden, sind keine göttlichen Charismen, sondern Entscheidungen des Gründers als Ergebnis der Mentalität seiner Zeit, seiner begrenzten Ausbildung oder seiner besonderen Persönlichkeit.

5. Aber gehen wir zu einem anderen Feld, das ebenfalls höchst beweiskräftig ist. José María Escrivá wurde als großer Theologe vorgestellt, der sogar den Titel eines Kirchenlehrers verdienen soll, und als eine Person mit enormen intellektuellen Qualitäten. Seine Hagiographien überhäufen ihn mit Lob und kommentieren andererseits kaum seine Grenzen und Mängel, sie scheinen ihm sogar zu fehlen. Aber die „inoffiziellen“ Zeugnisse geben eine ganz andere Version der Wirklichkeit. Für welche entscheiden wir uns?

Nun, kommen wir zurück zum Ziel: seinen Schriften. Es gibt mehrere Kommentare zum Weg, die nicht offiziell geplant sind, d.h. unabhängige Bewertungen. Da ist der kurze, aber sehr substanzielle Kommentar von Hans Urs von Balthasar, der zweifellos einer der führenden Theologen des 20. Jahrhunderts ist. Und Sie können auch das Kapitel lesen, das dem Weg in  dem Buch von Estruch Santos y pillos („Heilige und Schurken“) gewidmet ist. Ich beziehe mich auf sie, damit jeder die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen kann. Ohne in die Tiefe zu gehen, scheint es klar zu sein, dass Der Weg nicht das Buch eines Intellektuellen oder eines großen Theologen ist.

Die Ansätze, die in dieser Arbeit gemacht werden, sind voluntaristisch und manchmal sogar semi-pelagianisch. Sie drückt eine Idee des Gehorsams und der Unterwerfung unter die apostolische Institution aus, die militaristisch und totalitär ist; das heißt, im Gegensatz zur geringsten persönlichen Autonomie. Sie berücksichtigt nicht, dass die Person das Erste ist, das Respektvollste, ein Selbstzweck, der nicht vollständig einer religiösen Institution unterworfen werden kann; und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil diese Institutionen nicht mit Gott identifiziert werden; zweitens, weil Gott selbst dem Menschen in seiner Beziehung zu ihm Autonomie und Freiheit gelassen hat.

Im Weg ist jede Möglichkeit der Kritik und der freien Meinungsäußerung ausgeschlossen. Der Mensch wird als träges Instrument und als ein Stück Maschinerie – eine Schraube – oder als ein Ziegelstein in einer großen Konstruktion betrachtet. Die Anthropologie, die diesen Ausdrücken zugrunde liegt, ist völlig falsch, denn sie ordnet den Menschen der Organisation unter, anstatt ihm zu erlauben, sich in seinem unwiederholbaren Wesen autonom zu entwickeln. Der heilige Thomas von Aquin, der nicht gerade im Verdacht steht, ein Modernist zu sein, hätte im Mittelalter niemals solche Behauptungen aufgestellt. Auch ein Heiliger Augustinus aus dem fünften Jahrhundert würde sich ihnen nicht anschließen.

Aber wenn man sich anschaut, welche KOnzeption der Autor von Der Weg von der Wahrheit hat, kann man sehen, dass es nicht die eines Intellektuellen ist. Für ihren Verfasser ist die Wahrheit nicht eine Suche, die die Grundlage für die Erfüllung des Menschen ist und die von ganzem Herzen geliebt werden muss, sondern etwas, das man als Christ besitzt – vor allem besitzt er sie – und das buchstäblich mit Zähnen und Klauen verteidigt werden muss. Es ist eine typisch fundamentalistische Herangehensweise an die Wahrheit, die vergisst, dass niemand Gott besitzt und daher auch nicht die Wahrheit. Die katholische Kirche würde es nie wagen zu sagen, dass sie Gott besitzt, und das nicht nur aus ökumenischen Gründen. Im Gegenteil, sie bekräftigt, dass alle Religionen mehr oder weniger an der Wahrheit Gottes teilhaben. Joseph Ratzinger selbst warnt davor, dass das Christentum in der Theologie der Heiligen Väter nicht als institutio vitae – durch Bräuche, Zeremonien oder Institutionen – definiert wird, sondern um der Wahrheit willen, indem er Tertullian zitiert: Christus nannte sich nicht „Sitte“, sondern „Wahrheit“ (vgl. Einführung in das Christentum). Auf diese Weise entfernen sich die Christen von den vergötterten religiösen Bräuchen des Römischen Reiches, um sich der Wahrheit zu verpflichten, denn für sie ist der Dienst an der Wahrheit wichtiger als der Dienst an der Sitte (eine Verhaltensnorm, die festgelegt und vergöttlicht wird, unabhängig davon, ob sie wahr ist oder nicht), da die Wiederentdeckung der Wahrheit das reformierende Licht der Moral ist.

Und die „Wahrheit“ hier ist, dass der Gründer des Opus Dei in Camino und in seinen anderen Veröffentlichun­gen auch nicht an der Wahrheit interessiert ist, außer die Lüge zu verurteilen. Die Wahrheit wird auf das Gegenteil des Lasters der Lüge und Verleumdung reduziert. Das ist eine sehr armselige Konzeption. Kurz gesagt, die Tatsache, dass Der Weg in Wirklichkeit als ein Handbuch des Charismas eines  vom Allerhöchsten inspirierten Geistes  verstanden wird, ist zu stark: Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es fast wie Blasphemie klingt.

6. Andererseits findet sich in Escrivas am weitesten verbreiteten Schriften keine Spur von Aufgeschlossenheit oder Intellektualität. Und das Schlimmste ist, dass wir sie auch in seinem Leben nicht finden. In seiner Organisation förderte er nie echte wissenschaftliche Forschung, noch erlaubte er seinen Priestern, sich dem kritischen Studium der heiligen Wissenschaften zu widmen. Er hat sich nie um eine authentische theologische – wissenschaftliche – Ausbildung seiner Priester gekümmert, nicht einmal um die ersten drei, womit er sich immer gerühmt hat. Die ersten drei Priester haben ihr theologisches Studium in Eile, in sehr kurzer Zeit und mit Ad-hoc-Professoren  zu diesem Zweck abgeschlossen. Und diese Tradition der Eile in der Ausbildung hat sich bis heute fortgesetzt, als wäre „die Lehre“ immer etwas Klares und Nahtloses, das dringend weitergegeben werden muss.

Für José María Escrivá stand die Theologie nicht im Mittelpunkt, weder persönlich noch bei der Ausbildung seiner Priester. Was er wollte, war, dass sie einen „sicheren“ doktrinären Anstrich haben und sich dann voll und ganz in die apostolischen und pastoralen Aktivitäten stürzen. Die Theologen des Opus Dei haben sich im Wesentlichen der Verteidigung ihrer Institution und der Verkündigung der persönlichen Größe ihres Gründers verschrieben, alles utilitaristische Ziele. Um einen Kontrast zu nehmen: Die Jesuiten, die ad intra des Opus Dei vom Standpunkt der Lehre und als Ursache der Übel der Kirche heute gebrandmarkt wurden, sind diejenigen, die (zusammen mit den Dominikanern) die größten Theologen des 20. Jahrhunderts hervorgebracht haben, vielleicht des wichtigsten Jahrhunderts – auf theologischem Gebiet – in der gesamten Geschichte der Kirche.

Wenn man die Kontexte studiert, kann man sehen, dass der Gründer des Opus Dei – aufgrund seiner sehr begrenzten Kategorien und intellektuellen Bildung, die mit einer klugen natürlichen Intelligenz vereinbar ist – die Transzendenz der theologischen Erneuerung des 20. Jahrhunderts nicht erkannt hat. Er lebte verankert im Antimodernismus des heiligen Pius X., für den er eine große Bewunderung hegte; deshalb ließ er für diesen Papst eine riesige Statue in Cavabianca aufstellen und die Sammlung seiner persönlichsten Reliquien verwahren. Aber er drang nicht in die enorme Bedeutung der kulturellen und doktrinären Veränderungen ein, die sich in seinem Jahrhundert vollzogen und die zum Zweiten Vatikanischen Konzil führten.

Escrivá blieb in der Denkweise des Spaniens des 16. Jahrhunderts und der Kreuzzüge zur Verteidigung des Glaubens verhaftet. Er wußte sich nicht von der konfessionellen Mentalität der Gesellschaft oder des Ancienne Régime zu lösen  – gerade deshalb hatte er nichts gegen den Titel eines Markgrafen einzuwenden –, und er schätzte als „Mittel zur Verbreitung des Glaubens“ die Tricks des alten Nationalkatholizismus. Deshalb  ist der Weg voll von Slogans und Mitteln der faktischen Macht für die Herrschaft Christi. Ich meine, er konnte den Sinn des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht begreifen, weil er vital und geistig nicht in der Lage war, es zu verstehen. In der Tat lebte er in der Angst über die gegenwärtige Krise, dachte nur über ihre negativsten Aspekte nach und verbannte mit aller Kraft die Reformimpulse, indem er es den Mitgliedern des Opus Dei nicht leicht machte, an der Umsetzung der Veränderungen mitzuwirken. Heute sind seine „inneren“ Bannsprüche ad cautelam gegenüber den Werken eines Ratzinger oder De Lubac oder von Balthasar lächerlich, was kaum als Übung eines inspirierten „Geistes der Unterscheidung“ gerechtfertigt werden kann.

Kurz gesagt, der Gründer des Opus Dei war weder ein großer Intellektueller noch ein Theologe, wie ihn die „innere Legende“ darstellt, sondern ein christlicher Aktivist, ein Entertainer, mit einem politischen Riecher für die Macht. Álvaro del Portillo zeichnete sich trotz seiner brillanten menschlichen Begabung auch nicht durch Intellektualität aus, und er war immer ein Mann mit der Mentalität eines „Ingenieurs“. Menschen, die den Gründer sehr gut kannten, weil sie viele Jahre mit ihm zusammengelebt haben, bekräftigen deutlich, dass er nichts Intellektuelles an sich hatte: wenn nicht, siehe die Zeugnisse von Miguel Fisac und Antonio Pérez [vgl. Alberto Moncadas mündlich überlieferte Geschichte des Opus Dei], bei denen nicht der geringste Verdacht besteht, irgendjemanden zu beleidigen. Antonio Pérez selbst, ein bekannter Jurist, sagte umgangssprachlich, dass der Gründer „kein Wort des Gesetzes kannte“ und dass er nicht verstehe, wie er sein Studium beenden konnte. Natürlich ist das Chaos, das er über den rechtlichen Status des Opus Dei angerichtet hat – das immer noch wütet – eine Demonstration all dessen. Dies verdient jedoch eine gesonderte Behandlung. Es ist unmöglich für einen guten Juristen, das Opus Dei mit so vielen Praktiken, Anmerkungen und Kriterien zu regieren, mit einem übertriebenen Normativismus und ihm gleichzeitig eine undurchsichtige Rechtsstruktur zu geben – das heißt nicht transparent oder öffentlich –, wie sie für Geheimbünde oder totalitäre Verwaltungen typisch ist, die Legalität und Gerechtigkeit vergessen.

7. Aus all dem, was wir soeben erwähnt haben, lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen, wenige, aber wesent­liche. Die wichtigste könnte die Täuschung sein , der fast alle von uns über die Person von José María Escrivá und seiner Stiftung ausgesetzt waren. Die Realität stimmt nicht mit der „offiziellen Version“ des De­signs überein, und es gibt keine Möglichkeit, sie anzupassen, egal wie sehr Sie es versuchen. Die wenigen Be­weise, die wir gerade erwähnt haben, reichen aus, um dies zweifelsfrei zu beweisen. Die Geschichte des Charis­mas ist unklar. Was sie die Mitglieder des Werkes über die Göttlichkeit dieses Geistes gelehrt haben, ist nicht möglich, da es der Lehre der Kirche in vielerlei Hinsicht widerspricht. Die Institution war und ist weder gegen­über ihren Gläubigen noch gegenüber der Hierarchie der Kirche transparent. Und so zeigen die Hagio­graphien des Gründers eine Figur, die nicht die wirkliche ist, nicht einmal in Bezug auf ihre elementarsten Daten.

Es ist also notwendig und macht durchaus Sinn, zu fragen, was wirklich von Gott und was von Escrivá im vermeintlichen Charisma ist, denn der Gründer ist kein fleischgewordenes Wort, so dass alle seine Erscheinungen göttlich wären. Worin besteht aber darüber hinaus der sogenannte Geist des Opus Dei wirklich, wenn sich herausstellt, dass dieser Geist, wie wir gesehen haben, seine Herangehensweise mit dem Verlauf der kirchlichen Ereignisse und der Bequemlichkeit der Institution in jeder neuen Situation geändert hat? Worin besteht es: aus Gelübden oder Tugenden? In der faktischen Praxis des „Religiösen in der Welt“ ohne den Respekt, der der Person gebührt, oder in der Freiheit der Kinder Gottes in weltlichen Aktivitäten? Klärungsbedarf besteht auf allen Ebenen.

Um Wahrheiten zu liefern, bedarf es einer unabhängigen, wissenschaftlichen Geschichtsstudie. Allein die Tatsache, dass die beiden Nachfolger des Gründers die Quellen gekapert und die Informationen über die Figur in ihren Biografien kontrolliert haben, ist ein Zeichen dafür, dass vieles versteckt werden will, dass es wirklich Gründe gibt, sich zu verstecken. Vielleicht hofft man, dass der Lauf der Zeit und der Jahre die Zeitgenossen eliminieren wird – es ist das Gesetz des Lebens – und diejenigen, die, weil sie die Fakten genauer kennen, den offiziellen Versionen widersprechen könnten. Diese kalkulierte Technik der Desinformation und manipulativen Täuschung stammt vom Gründer selbst, der die Realität immer nach seinen Wünschen angepasst hat. Hinter all diesem Wirrwarr verbirgt sich die seltsame psychologische Persönlichkeit von José María Escrivá mit seinen Pathologien, seinen Unzulänglichkeiten, seinen Grenzen und auch seinen unbestrittenen Qualitäten. Und eines scheint klar: José María Escrivás Leben war nicht von einem Dienst an der Wahrheit geprägt.

Marcus Tank