Der Unterschied von Geist und Praxis im Opus Dei

 

Josef Knecht, 9. Juli 2010  

 

 

In allen Institutionen unterscheidet man zwischen dem “Geist”, der Theorie, und der “Praxis”, wie sie sich in der Realität auswirkt. Es ist klar, dass sich die Praxis oft weit von der Theorie entfernt, eine menschliche Eigenart, die zur Genüge historisch belegt ist. In der Theorie ist der Geist des  Opus Dei zweifellos etwas sehr Schönes: Heiligung der Arbeit mitten in der Welt durch gewöhnliche Christen – Laien, keine Ordensleute – die ihre persönliche Arbeit ausüben; Freiheit und Autonomie in den Dingen, die keinen Dogmen unterliegen, wie sie den Laien eigen ist, in beruflichen Dingen; Einheit des Lebens, wenn man mitten in der Welt kontemplativ lebt; Christianisierung der Gesellschaft durch eine intravenöse Injektion, die das Angesicht der Welt erneuern, sie wie eine Socke umwenden  wird. Außerdem gibt es in der Rhetorik von St. Josemaría einige gelungene Phrasen wie „erstickt das Böse im Überfluss des Guten” und andere. Auf viele Menschen wirkt dieser Gesichtspunkt attraktiv, nicht nur auf Antonio Ruiz Retegui; auch mir hat das gefallen, als ich in das Opus eingetreten bin.

 Das Problem besteht darin, dass dieser Geist nicht aufrichtig ist, sondern dass er Lügen enthält, die für “offizielle Versionen” typisch sind und mit dem tatsächlich gelebten Leben im Werk nichts zu tun hat. Ich sage es noch deutlicher: In diesem Fall bedeutet der Unterschied zwischen “Geist” und “Praxis” nicht nur eine unvermeidliche Differenz, sondern um eine absichtlich intendierte. Wann auch immer die Leiter des Opus ihren „Geist“ und ihre „offizielle Version“ der öffentlichen Meinung – und sogar den legitimen Autoritäten der Kirche -  präsentieren, haben sie den ausdrücklichen Wunsch zu täuschen und etwas völlig anderes vorzuspiegeln, als in  Wirklichkeit gelebt wird. Ich werde mich näher erklären…

Es stimmt nicht, dass die Mitglieder des Werkes gewöhnliche Christen inmitten der Welt sind, genau so wie die übrigen Getauften. Wenn ein Kandidat dem Opus beitritt, so geschieht dies nicht nur durch die vertragliche Verpflichtung, an den Apostolaten der Personalprälatur mitzuwirken, sondern es werden außerdem einige Zeremonien zum Zweck der Eingliederung durchgeführt (Admission, Oblation und Fidelitas), die denen beim Eintritt in ein Säkularinstitut oder in einen Orden entsprechen. Wie uns Haenobarbo ausgeführt, bedeuten diese Zeremonien des Opus eine persönliche Weihe des Kandidaten, durch die er sich verpflichtet, den Anforderungen des Geistes des Werkes zu entsprechen (wir könnten sogar von der „Regel des hl. Josemaría” sprechen), die unter anderem das Versprechen der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit einschließt. Wenn sich also die Mitglieder des Opus Dei dazu verpflichten, mit der Prälatur zusammenzuarbeiten, beschränken sie sich nicht nur darauf, den Anforderungen gut zu entsprechen, die sie mit der Taufe auf sich genommen haben, sondern sie fügen zu diesen vorangegangenen die der neu empfangenen Weihe durch die erwähnten  Zeremonien der Inkorporation hinzu. Gewiss sind die Mitglieder des Opus Dei keine Ordensleute, denn juridisch gesehen bleiben sie Laien, aber man müsste die Nuance beifügen, dass sie keine „gewöhnlichen Christen“ sind, sondern „geweihte Laien“. Das ist die reine Wahrheit, die die offizielle Version des Werks abstreitet und leugnet.

Das beweist sich dadurch, dass ein Mitglied des Opus, das die vertragliche Bindung mit der Prälatur lösen will, die Direktoren um Erteilung der Dispens von den Verpflichtungen bitten muss, die sie in ihrem Gewissen durch die Zeremonien der Inkorporation eingegangen sind. Daraus folgt, dass man für eine Auflösung des Vertragsverhältnisses mit dem Opus nicht nur den Vertrag mit der Prälatur aufzulösen hat, sondern dass man seine „Oberen” um die Dispens für diese Verpflichtungen ersuchen muss, die man nach der Taufe eingegangen ist und die den Weihen der Ordensleute entsprechen.

Warum verheimlicht man ein so wichtiges Detail in der offiziellen Selbstdarstellung? Warum lügt man in einem so wichtigen Punkt? Wenn es ehrenhaft ist, eine „geweihte Person“ zu sein und nichts Ehrenrühriges, warum sollte man dieses Faktum vor anderen verheimlichen? Die Antwort auf diese Frage gibt der der megalomane Narzissmus des Gründers Josemaría Escrivá. Als anfangs der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Oberen des Opus Dei die wachsende Bedeutung des Laientums in der Kirche einsahen, das in Mitteleuropa seine theologische Begründung und in der zeitgenössischen katholischen Kirche seine neue Ausformung bekam, änderten sie den Geist des Werkes: Bisher hatte Msgr. Escrivá den „Stand der Vollkommenheit” keinesfalls für unvereinbar mit dem Geist des Mitglieder des Werkes gehalten, aber von jetzt an stellte man die Theologie des Laienstandes in den Mittelpunkt (die er, wohl bemerkt, nicht erfunden, sondern nur von anderen übernommen hatte). Dieser Wandel des Geistes in der Theorie ging allerdings mit einem Wandel in der Praxis einher: Die Mitglieder des Opus Dei wurden und werden weiterhin in ihrem inneren Leben und in der Bildung ihres Gewissens so behandelt, als wären sie „geweihte Personen“. Die Chuzpe bestand allerdings darin, dass der Autor des „Weges“ so tat, als hätte er alles das schon am 2. Oktober 1928 “gesehen”, in einer pro­phe­tischen Schau zu seiner Zeit die Theologie des Laientums vorweggenommen. Wenn wir al­ler­dings den „Weg” zur Hand nehmen, finden wir auf keiner Seite etwas über die theolo­gi­sche Bedeutung des Laienstandes oder über die Heiligung der Arbeit. Zu Beginn der sech­ziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ging es allerdings darum, das Opus als Pionier der Laienbewegung darzustellen. Diese Strategie hatte auch den Zweck, Msgr. Escri­vá als genialen Vorläufer des Zweiten Vatikanums (1962-1965) darzustellen. Und nicht ge­nug damit, die derzeitigen Leiter des Werkes raunen, dass St. Josemaría früher oder später in den Rang eines Kirchenlehrers erhoben werden könnte, weil dieser Heilige die wich­tigs­ten Errungenschaften des Konzils vorweggenommen haben. Aber all das ist eine Manipulation!

In Wirklichkeit braucht man keinem Geist des Opus Dei zu folgen, wenn man sich als ge­wöhnlicher Christ im Alltag heiligen will, noch muss man Gelübde ablegen wie geweihte Laien; es gibt tausend Wege sich in der Ausübung des Berufs zu heiligen, auch wenn der hl. Josemaría gar nicht existiert hätte. Ich mache diese Bemerkung, damit klar ist, dass der „Geist” des Opus etwas sehr Konkretes ist und dass seine „Praxis” mit der religiöser Orden gleichsam identisch ist. Wir müssen uns nicht täuschen lassen, wenn die Koryphäen des  Opus uns ihren Geist als große Neuigkeit präsentieren, den man als Vorläufer des Zweiten Va­tikanums in dem betrachten könne, in dem, was sich auf den universalen Ruf zur Heilig­keit und die Theologie der Laien bezieht. Diese Geschichte ist verlogener als Judas. Die Lei­ter der Werkes behandelten und behandeln die Mitglieder immer als geweihte Personen; in diesem Punkt hat sich die „Praxis” des Opus Dei von seiner Gründungszeit bis heute nicht geändert, trotz der Reform des „Geistes”, die zu Beginn der sechziger Jahre des zwan­zigs­ten Jahrhunderts vorgenommen worden war, und dann, als das  Opus im November 1982 als Personalprälatur errichtet wurde. Man lese in dieser Hinsicht einmal den Artikel von Elena Longo, der in der Zeitschrift Claretianum, Bd. 46, 2006, S. 413-497 erschienen ist. Daher habe ich ernsthafte Gründe, vom Opus Dei als von einer Struktur der Sünde zu sprechen, wie nett und harmlos sich sein Geist auch in der Theorie präsentieren mag.

 

Wozu dient außerdem der Geist einer Gemeinschaft, wie schön und liebenswert er er­schienen mag, wenn seine Umsetzung in die Praxis, abgesehen davon, dass sie ihm widerspricht, die Menschen leiden lässt? Die Leiden der Mitglieder und Exmitglieder des Opus Dei darf man nicht mit einem „dann haben sie sich eben geirrt, so ist das Leben eben” abspeisen.

Andererseits streitet es Juan Ignacio ab, dass der hl. Josemaría eine „narzisstische“ Persönlichkeit gewesen sei, mit der Begründung, er hätte sich, wenn dem so gewesen  wäre, eine Tätigkeit mit größerer Ausstrahlung gesucht. Allerdings ist es nicht unmöglich, dass sich angesichts der enormen Entwicklung der psychologischen Wissenschaften und der Kenntnisse über die möglichen Pathologien herausstellt, dass der Gründer eines Ordens (Maciel) oder eines Säkularinstituts (Escrivá) psychologisch bedenkliche Züge tragen könne. So ist es beispielsweise durchaus denkbar, dass sich ein Größenwahnsinniger vom Priestertum angezogen fühlt und ein  Säkularinstitut gründen will, denn nicht jeder ist so gestrickt, dass er sich als Adonis oder als Olympiasieger vorstellen möchte. Außerdem kann der Größenwahn durchaus dabei helfen, die Schwierigkeiten einer Gründung zu überwinden, sei es nun eine religiöse oder eine zivile; ein Megalomane kann selig sein, wenn er drauflosgründen und einen Geist skizzieren kann, der ihn selbst verherrlicht, obwohl er der Praxis widerspricht, in der er seine Untergebenen zu leben zwingt. Escrivá hatte ohne Zweifel, so wie viele Spanier der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, auf­richtige religiöse Gefühle und wollte ein guter Priester sein, nachdem seine Pläne, An­walt oder Architekt zu werden, gescheitert waren. Aber ebenso wenig zweifle ich an seiner Pa­tho­logie. Beides kann kompatibel sein, wenn man daran denkt, dass die mentale und mora­lische Komplexität der menschlichen Wesen in eine Struktur der Sünde eingebettet sein kann.

 

Ich fasse zusammen:

 

1) Der „Geist des Werkes”, der in der Theorie so schön und so attraktiv ist, dient zu nichts anderem als die Figur des Gründers, Josemaría Escrivá, zu überhöhen, damit man ihn, ohne dass es in der Realität irgendeine Grundlage dafür gäbe, als Vorläufer des Zweiten Vatikanums präsentieren kann, hinsichtlich der Theologie des Laienstandes und des so genannten allgemeines Rufs zur Heiligkeit, aber die Mitglieder des Opus Dei leben diesen Geist nicht in ihrem realen, ganz alltäglichen Leben.

 

2) Die Spiritualität, die die Mitglieder des Opus tatsächlich leben, ist eine „Praxis”, die in nichts originell ist, eine Aufreihung von Normen und Gewohnheiten, die aus der Tradition der religiösen Orden übernommen wurde. Aufgrund der Zeremonien, durch die die Mitglieder in das Opus inkorporiert werden (Admission, Oblation und Fidelitas), können sie nicht als “gewöhnliche Christen” angesehen werden, sondern als geweihte Laien. Deshalb gibt es im Opus Dei einen deutlichen Widerspruch zwischen “Geist” (gewöhnliche Christen) und “Praxis” (geweihte Laien); es handelt sich in Wahrheit um einen Betrug, der organisiert wurde, um die Gestalt des Gründers zu überhöhen. 

3) Die tatsächliche “Praxis” des Werkes ist von einer Reihe schwerer Irrtümer gekenn­zeich­net, die hier schon  mehrfach angezeigt wurde: Vermischung von Forum internum und externum bei der Leitung der Mitglieder, ihre Infantilisierung (vgl. “Vom Umgang mit dem Schutzengel”), als ob sie zu ”Kindergärten für Erwachsene” gehörten, eine von Kastengeist gezeichnete Anspruchselite mit integraler Theologie, die die Sakramente der Priesterweihe und der Buße dazu missbraucht, die Gewissen zu kontrollieren und einen durch nichts gerechtfertigten Druck auszuüben, der bei vielen Mitgliedern zu moralischem Leid und psychischen Schäden führt. Das  Opus Dei ist eine Struktur der Sünde.


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