Kapitel 2. ERSTE JAHRE DES VERBORGENEN LEBENS

 

IN DER TAUFURKUNDE des José María Escriba im Register der Kathedrale von Barbastro scheint ein verräterisches Faktum über die Familie auf, die eine beständige Sorge hatte, ihren Namen zu ändern. Ursprünglich hießen sie nicht Escrivá, sondern Escriba, das heißt, mit einem b und ohne Akzent, weshalb sich die Hypothese nicht ausschließen lässt, dass der Name verändert wurde und katalanisch klingen sollte, um davon abzulenken, dass es sich um jüdische Konvertiten  gehandelt haben wird. Später, in den Universitätsmatriken José María, unterschrieb er mit José María Escrivá, obwohl es in den amtlichen Matrikeln immer José María Escriba geheißen hatte.

Die Familie Escriba gehörte zur Mittelschicht von Barbastro, einem Städtchen in den zentralen Pyrenäen, in der Provinz Huesca, die an Frankreich grenzt. Der Landkreis Somontano in Aragonien, wo der Gründer des Opus Dei geboren wurde, liegt am Fuß der südlicheren Berge, nahe dem Ebrotal, auf den Hochebenen vor den ersten Ausläufern der Pyrenäen, und Barbastro mit damals 4000 Einwohner war damals der wichtigste Bevölkerungskern.

Die väterlichen Vorfahren waren kleine Landbesitzer aus Lleida, einer Provinz des benachbarten Katalonien, und die Familie der Mutter, die Albás, ebenfalls aus Katalonien, waren seit einigen Generationen im Handel tätig. Als ehrenwerte Kaufleute in Barbastro etabliert, bildeten die Escriba einer der Familien „mit einer kräftigen Familiengesinnung und großer Moralität, die fast immer der Mittelklasse angehören“, [„La moralidad pública und su evolución. Informe reservado destinado exclusivamente a las autoridades. Madrid, 1944, S. 315. In: „Usos amorosos de la postguerra española“, Carmen Martín Gaite. Ed. Anagrama] Drei Onkel waren Priester, zwei von der Mutter- und einer von der Vaterseite.

Seine Hagiografen behaupten, dass der Ursprung von José María Escriba Albás, Gründer des Opus Dei und Hauptperson dieser Biografie, „auf beiden Seiten des Stammbaums von alter und edler Herkunft“ war, [Perez Embid, Florentino: Monseñor Josemaría Escrivá de Balaguer y Albás, fundador del Opus Dei. In: Bd. IV der Enzyklopädie „Forjadores del Mundo Contemporáneo“. Ed. Planeta, Barcelona 1963, S. 2], und das lässt uns auf jeden Fall an etwas anderes als an Kaufleute aus einem Dorf denken. Die sorgfältig ausgeklügelte Formulierung wurde sogar Teil de später ausgearbeiteten Legende über den Gründer, indem die Mitglieder des Opus Dei, ganz dem Subgenus der Hagiografie hingegeben, eine außerordentliche Begabung entwickeltes das Geschehene zu kostümieren. Dennoch ist der Beruf eines Kaufmanns in einem Land wie Spanien nur schwer mit dem Stand des Edelmanns in Einklang zu bringen, und zur sagen „auf beiden Seiten des Stammbaums von alter und edler Herkunft“ bedeutet ja leider auch nur, dass kein Vorfahre der Escriba auf der Straße, im Bordell oder im Gefängnis auf die Welt kam. Auf jeden Fall erscheint das Ansinnen auf eine adeliger Herkunft eine Lächerlichkeit. Der aragonesische Adel der Escribas reduziert sich, wie wir sehen werden, auf einige maßlose Begierden auf sozialen Aufstieg, vielleicht um von den bescheidenen Anfängen im Städtchen Barbastro abzulenken.

Es gibt freilich verschiedene hagiografische Versionen des Lebens von José María Escriba, perfekt ausgearbeitete Retuschen einer verfälschten Information, alle geschmückt mit einer Fülle erfundener Anekdoten zum Gebrauch der Sympathisanten und Nachfolger. Nun, diese vollständige Biografie beschränkt sich auf eine oberflächliche, aber sorgsame Beschreibung der tatsächlich sich ereigneten Fakten, und es wird an den Lesern liegen, die Natur und die Tragweite des biografischen Wendepunkts des José María Escriba einzuschätzen. Diese Grenzziehung ist umso mehr gerechtfertigt, als José María Escriba immer wieder auf seine Kindheits- und Jugenderinnerungen zurückkommt, vor allem seitdem er sich in den charismatischen  Führer einer mächtigen Organisation mit Sitz in Rom verwandelt hatte, die sogar noch nach seinem Tod großen Einfluss auf seine Jünger und sogar noch auf den  Vatikan  verwandelt hat. .

Das erste Kind der Escribas war eine Tochter, getauft auf den Namen Carmen, und das zweite José María, der spätere Gründer des Opus Dei, der am 9. Januar 1902 geboren wurde, dem Jahr, als König Alfons XIII. gekrönt wurde. Mit der Großjährigkeit von Alfons XIII. und seiner Proklamation zum König schien eine neue politische Ära in Spanien zu beginnen. Die Thronbesteigung eines sechzehnjährigen Monarchen bedeutete eine gefährlichen politischen Hasard, und die übrigen europäischen Mächte schenkten dem Vorgang gebührende Aufmerksamkeit, [„Memories de S.A.R., L'Infante Eulalie 1868-1931“, Plon, París, 1935, S. 129 und 130] vor allem nachdem Spanien neulich seine Kolonien verloren hatte.

In Barbastro, Provinz Huesca, geschahen 1904 andere Vorgänge. Als José María zwei Jahre alt war, ein bedeutsamer Moment in seiner Entwicklung, erlitt er einen Anfall von Epilepsie. Obwohl es sich um eine schwere, in Spanien verbreitete Krankheit handelt, mit mehr als 300.000 Fällen im Jahr, [Centro de Información Bioestadística. „Epilepsia en España“. Informe Gaba 2000, Madrid, 1994], ist die Epilepsie eine der schwächeren chronischen Krankheiten. Sie zeigt mitunter eine sehr starke psychische Komponente, mit erhöhter Reizbarkeit, die viele Ursachen haben kann. Im Fall des Kindes Escriba muss man bedenken, dass es sich um eine Krankheit mit erwiesenen Präzedenzfällen in der Familie handelte und dass sie Folgen nach sich zog, wie Zurückgezogenheit und ein harsches und zugleich leidenschaftliches Temperament, der sich manchmal in plötzlichen und heftigen Wutausbrüchen Luft machte.

Seit seinem ersten epileptischen Anfall als Kind wurde José María Escriba von seiner Mutter überbehütet, und die Familie breitete einen  Mantel des Schweigens über das Vorgefallene. Man verheimlichte diese auffallende Krankheit den treuen Anhängern des José María Escriba der ersten Zeit. aufgrund des schlechtes Images, den die Epilepsie im Allgemeinen bei der Bevölkerung hat. Als er schließlich 1946 nach Rom übersiedeln musste und bei ihm bereits eine schwere Diabetes festgestellt worden war, konsultierte Escriba den renommierten spanischen Neuropsychiater Juan Rof Carballo, der feststellen sollte, ob eine neurologische Schädigung vorliege.

Aber die Familie versicherte, dass Escriba aus dieser ersten Krise mit zwei Jahren gekräftigt hervorging, und deshalb nahm ihn seine Mutter auf eine Wallfahrt in die Eremitage von Torreciudad in der Nähe von Barbastro mit, deren Madonna sie sehr verehrte, als Zeichen der Dankbarkeit für die Heilung, die später als wunderbar qualifiziert werden sollte, und Torreciudad bedeutet, wie die Analyse zeigen wird, den Triumph Escribas über die Krankheit. [Siehe: Berglar, Peter, „Opus Dei. Vida y obra del fundador Josemaría Escrivá de Balaguer“, Rialp, Madrid, 1976, S. 25-26; Gondrand, Francois, Al paso de Diós, Rialp, Madrid, 1985; Vázquez de Prada, Andrés, „El fudadorr des Opus Dei“, Rialp, Madrid, 1985, S. 50-52].

Von da an wollte sich seine Mutter nicht mehr von José María trennen, da er ständige Pflege brauchte, und das war für das Leben beider von entscheidender Bedeutung. Eine solche überbehütende Mutter bewirkte eine Fixierung des Kindes und als Folge davon einen hartnäckigen Infantilismus, der schlimmer wurde, als die Vaterfigur verschwand, weil er seine Familie nicht ausreichend versorgen konnte.

Dann wurden im Heim der Escriba drei Mädchen geboren: Asunción 1905, Dolores 1907 und Rosario 1909. Aber von den fünf Kindern sollten nur zwei überleben: Carmen, die älteste Schwester, und José María, der der Gründer des Opus Dei werden sollte. Vor ihrem ersten Geburtstag starb Rosario. Mit fünf Jahren starb Dolores, und Asunción im Alter von acht Jahren. Wenn 1905, 1907 und 1909 freudige Anlässe ins Haus standen, so waren die Jahre 1910, 1912 und 1913 Jahre des Todes für die Familie Escriba, die pathologische Folgen zeitigen sollten.

Als die drei Schwestern ab 1910 in der umgekehrten Reihenfolge ihres Alters starben, zuerst die jüngste, dann die älteste, sagte José María Escriba sagte am 9. Januar 1972, als er seinen 70. Geburtstag feierte,  „Ich will nicht älter als sieben Jahre alt werden“. Und er sagt auch einmal in Anspielung auf sein Alter, er sei nicht älter als sieben Jahre Jahre. [Gondrand, Francois, S. 270-271].

Eine solche Folge infantiler Traumata schuf eine gewisse Veranlagung für eine chronische Neurose, und es  ist sehr aufschlussreich, dass sich Escriba in einer Form von Regression auf ein Lebensalter zurückzog, das 1909 anzusetzen ist, als er sieben Jahre alt war, ein Jahr bevor die Unglücksserie für die Familie begann.

Im Hinblick auf die Psychologie des Kindes musste due ödipale Phase, die normalerweise mit fünf Jahren beginnt, eine heftige Auswirkung bei José María Escriba gezeigt haben. Es zeigten sich tatsächlich ödipale Tendenzen, die bei einem Kind eben den Wunsch ausdrücken, einen Elternteil ganz für sich zu haben, meist den vom anderem Geschlecht, aber immer den, der die meiste Sicherheit bietet, und der andere wird ausgeschlossen; an wünscht insgeheim, dass er weg oder tot wäre, wobei für ein Kind der Tod nichts anderes als Abwesenheit bedeutet.

Die Mehrheit der Psychoanalytiker halten den Ödipuskomplex für eine normale Durchgangsphase, wenn sie sich auch in einen Komplex verwandeln kann, Ursache für eine tiefer gehende Neurose, vor allem wenn erschwerende Umstände hinzutreten, und das zeigt sich im Fall des Kindes José María Escriba, wenn man einige Fakten aus seinen erste Lebensjahren analysiert: Einerseits ist da eine übertriebene Zuneigung und Vorliebe des Kndes für die Mutter, zusammen mit einer außerordentlichen Nachsicht von ihrer Seite, und die Situation  wurde durch den wirtschaftlichen Ruin erschwert, den der Vater verursacht hatte; und andererseits das Faktum, dass José María nach dem traumatischen Tod der Schwestern als einziger Junge übrigblieb, zusammen mit der späteren Geburt eines Brüderchens, eine Angelegenheit, die die Frage aufwirft, wo die Kinder herkommen, und im Zusammenhang damit eine rasche Sexualisierung der ödipalen Gefühle. [Mucchielli, Roger, „La personalidad del niño. Su edificación desde el nacimiento hasta el final de la adolescencia“. Hogar del libro. Barcelona, 1938 S. 88 und 90].

Die Mutter, Dolores Albás, die sehr religiös war, hatte ihre Kinder mit Hingabe beten gelehrt, und José María hatte sich in ein sehr frommes Kinder verwandelt. Aus dieser Zeit bewahrte Doña Dolores ein Bild der Muttergottes wie eine Reliquie auf, mit einem Jesuskind, das zwei oder drei Jahre alt war, rosig und pausbäckig, mit einem naiven Gesichtsausdruck, mit blondem Haar, das zu einem Scheitel gekämmt war und eine Schleife trug. [Vázquez de Prada, Andrés, S. 483-484]. Man braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, dass das Bild das Modell war, das die Mutter ihrem Sohn José María zur Nachahmung vorstellte. Das Bild, im der Familie „Muttergottes mit dem gekämmten Kind“ genannt“, verwandelte sich in ein geschätztes Objekt der privaten Ikonografie des Opus Dei.

José María wurde bei den Piaristen in Barbastro eingeschult und verbrachte hier die ersten Unterrichtsjahre, von wo sie von den Patres nach Huesca oder Lleida geführt wurden, um hier die Prüfungen abzulegen. Seine Zeugnisse weisen ihn als normalen Schüler aus, mit befriedenden Resultaten in allen Fächern.

Die Escribas besaßen eine gewisse Halbbildung, und José María begeistere sich von klein auf an der Lektüre von mittelalterlichen Heldenliedern. Man möge bedenken, dass die Reconquista, der lange Krieg der Christen gegen die Araber, der 800 Jahre dauerte, einen anderen Charakter hatte als in anderen Regionen Spaniens. In Aragonien begann die Reconquista mit der Eroberung von Barbastro, von wo im Jahr 1064 ein Kreuzzug ausging, zu dem Papst Alexander II, aufgerufen hatte. Die Iberische Halbinsel war damals von demselben Feind der Christenheit beherrscht wie das Heilige Land,  und Kreuzzüge, Ritterorden sowie die Kriege zwischen den Mauren und den Christen beeindruckten José María, besonders aus dem Grund, da Barbastro als fester Platz mehrmals während der Reconquista belagert wurde. „Die Heldensagen fügen den Berichten über die gewaltigen Abenteuer stets Kleinigkeiten aus dem Alltagsleben des Helden bei. − Wolltest du doch unbeirrt die kleinen Dinge hochhalten!“, schrieb José María später, als Erwachsener, im „Weg“, seinem berühmtesten Buch. [„Der Weg“, Nr. 826] Und zweifellos blieben als Frucht dieser Lektüre mittelalterlicher Gesten und seiner Jugendträume die Besessenheit, einer adeligen Familie angehören zu wollen, Ehren und Privilegien zu suchen, die ihn sogar dazu trieben, einen lächerlichen falschen Adelstitel für sich und seine Familie zu kaufen.

Manchmal, nach Geschäftsschluss, saß José María, zusammen mit anderen Kindern und half seinem Vater das Geld zu zählen, das er an diesem Tag verdient hatte; so erzählte es eine Nachbarin aus Barbastro, María Esteban Romero. Zusammen mit anderen Freunden saß José María auf der Theke und hatte seine große Freude daran, das Geld zu zählen. [Bernal, Salvador, S. 21]

Dieses aragonesische Kind, das von klein auf seine Freude daran hatte Geld zu berühren und zu zählen, sollte auch den Schmerz kennen, und zwar beim Friseur. Er selbst erzählte es Jahre später: „Bei den entscheidenden Gelegenheiten meines Lebens wollte mir der Herr immer irgendeine Widerwärtigkeit schicken. Sogar am Tag meiner Erstkommunion verbrannte mich der Friseur mit der Ondulierschere.“

Aber die Leiden des Kindes waren gering im Vergleich zu denen seines Vaters. Die ganze Welt der Kindheit José Marías brach plötzlich 1915, als Don José Escriba seinen Laden schließen musste, den er zusammen mit einem Kompagnon in Barbastro hatte. Das Textilgeschäft war bankrott, und die Escriba gingen nach Logroño, der Hauptstadt von La Rioja, weit weg genug von Barbastro, um der Versuchung zu widerstehen zurückzukehren. Hier konnte das Familienoberhaupt wenigstens eine Stellung als Angestellter in einem anderen Textilgeschäft finden.

Wenn sich in den spanischen Familien die Mütter um das Zuhause und die Erziehung der Kinder kümmerten, während die Väter Geld verdienten, so brach das traditionelle Muster bei der Familie Escriba ein; der Auszug des Vaters aus Barbastro glich mehr einer Flucht als einer Übersiedlung, er verließ das Städtchen bei Nacht, um seinen Gläubigern zu entkommen. [Infante, Jesús. „La prodigiosa aventura del Opus Dei. Génesis und Desarrollo de la Santa Mafia“. Ruedo Ibérico, París, 1970, S.  4]. Das Gespenst des Konkurses sollte José María nicht mehr loslassen, er bemühte sich den Rest seines Lebens, die Familie finanziell abzusichern und den verlorenen Kredit wettzumachen.

José María war alt genug, 13 Jahre, um zu verstehen, was der wirtschaftliche Zusammenbruch der Familie in Barbastro bedeutete. Allerdings ging er weiter in Logroño zur Schule und schloss das Abitur ab, und im Oktober 1918, als er 16 Jahre alt war, begann er seine Priesterkarriere als externer Student am Seminar von Logroño.

José María hatte seinem  Vater vorab die Absicht mitgeteilt, ins Seminar einzutreten, seit er an einem Wintertag, im Dezember 1917, die Spuren eines Unbeschuhten Karmeliters im Schnee gesehen hatte. Er fühlte den Impuls, Karmeliter zu werden und Gott im Konvent zu loben, auch wenn er später die Meinung änderte und meinte, ihn interessiere keine kirchliche Laufbahn, er wolle kein Priester sein, und seine Berufung sei die des Architekten. Schlussendlich war die Entscheidung getroffen, und der Vater, der als Handelsangestellter arbeitete, akzeptierte, dass José María mit den Studien für das Priestertum begann, unter der Bedingung, dass er auch Jura studierte, damit er nicht mittellos dastünde, sollte er in der religiösen Berufung scheitern.

Wie ihm sein Vater empfahl, fragte der José María, bevor er den Schritt setzte, einen Militärkaplan, Albino Pajares, eine Person mit der klassischen mittelalterlichen Auffassung vom Priestertum als dem Lehrstand und dem Militär als dem Wehrstand, dessen Meinung in diesem Moment großes Gewicht hatte.

In Spanien fanden die Söhne der kleinen Landwirte, Händler und Landarbeiter in den Seminaren während des ersten Drittels des Jahrhunderts die einzige Möglichkeit den einzigen Zugang zu höherer Bildung und zu sozialem Aufstieg. Damit soll nicht gesagt sein, dass José María Escriba von Anfang an fest entschlossen war ein Kirchenmann zu werden; aber wenn man die Eintritte in die spanischen Seminare und den Anteil an Regionen wie der Pyrenäen in Navarra und Aragonien und der Rioja auch nur oberflächlich prüft und die soziale Herkunft Escriba und seinen erschreckenden Ehrgeiz, der sich in zahllosen  persönlichen Details zeigt, in Betracht zieht, kann man leicht den Schluss ziehen, dass für einen Menschen wie ihn eine religiöse Karriere die einzig mögliche schien. Er freute sich darauf Architekt zu werden, aber er neigte zum Priestertum. José María Escriba „wählte“ den „einzigen Weg“, der ihn hinaufbringen konnte, und der kirchliche Karriereweg eines Priesters bot ihm mehr Perspektiven als jeder andere Beruf.

Es scheint allerdings wahrscheinlich, dass Escriba mit einen 16 Jahren noch nicht klar wusste, was er wollte, das hinderte andererseits nicht, dass er eine kirchliche Berufung hatte. Die Berufung, wie sie Castilla del Pino beschreibt, ist eine Ultrastruktur, die jemand für sich wählt, sobald er in der Welt zu handeln begonnen hat. [Castilla del Pino, Carlos. „Dialéctica de la persona, dialéctica de la situación“. Ed. Ibérica, Barcelona, 1968, S.139]. José María Escriba konnte eine Berufung für das Priestertum spüren, aber man darf nicht vergessen, dass er sich innerhalb einiger Strukturen wie der der spanischen Gesellschaft berufen fühlte, die damals – und auch noch später – sehr enge Chancen bot.

In einem religiös geprägten familiären Umfeld war die Berufung José Marías von der Mutter vorherbestimmt, und die Escribas feierten damals die Geburt eines neuen männlichen Nachkommen. Er wurde am 28. Februar 1919 geboren und auf den Namen Santiago getauft. So konnte ein anderer Sohn den abwesenden José María ersetzen, der aus dem Haus gehen musste, und es blieb nur die älteste Tochter Carmen.

Einer der Hagiografen Escribas erzählt, dass seine Mutter ihm und seiner Schwester  einige Monate vorher, Ende 1918, als José María in Logroño als externer Schüler das Seminar besuchte, sagte, dass sie „bald ein Geschwisterchen haben würden“, und angesichts der Nachricht war die erste Reaktion José María „zu denken, dass es ein Junge sein würde, denn darum hatte ich Gott gebeten“. Dann, als die Nachricht von der Geburt kam, gab es eine große Freude, und er kommentierte nachher, das „ich mit Händen die Gnade Gottes greifen konnte, ich sah den Willen Unseres Herrn. Ich hatte es nicht erhofft“ [Vázquez de Prada, Andrés, S. 75]. José María Escriba bezog sich mit diesem nachträglichen Kommentar auf eine angebliche göttliche Eingebung, und so floss dieses Ereignis viele Jahre später in den Prozess um die Turboheiligkeit ein.

Im Seminar von Logroño konnte José María nicht mehr interner Schüler sein, unter anderem aus gesundheitlichen Gründen. Er begann seine kirchliche Laufbahn als externer Seminarist, der zuhause wohnte und in den Unterricht kam, außerdem erhielt er Privatunterricht.

Im September 1920 übersiedelte er nach Saragossa. Eine solche Dislozierung war eher unüblich, aber José María studierte auf Anraten seines Vaters auch Jura, du das war in Logroño nicht möglich. Außerdem hing das Seminar von der Diözese Burgos ab, und er wollte Jura in Valladolid studieren, während es in Saragossa eine Päpstliche Universität gab, was es ihm gestattete, die kirchlichen Studien zugleich mit juristischen zu absolvieren, und so verließ er vorübergehend seine Welt, seine Vergangenheit und seine Familie.

Mit dieser neuen Übersiedlung zeigte José María Escriba, dass es ihm nicht genügte ein einfacher Pfarrer in seiner Diözese zu sein und dass er das das akademische Milieu als eine Stufe für seinen sozialen Aufstieg betrachtete. Er hatte dort auch Familienanschluss: In Saragossa gab es Verwandte, zwei Priester, Brüder der Mutter, und der eine von ihnen war Kanonikus an der Kathedrale. Nachdem er seine Versetzung an das Seminar von Saragossa für das akademische Jahr 1919-1920 beantragt hatte, gelang es ihm ein halbes Stipendium zu bekommen, das das ergänzte, was seine Eltern beisteuern konnten. [Gondrand, Francois, S. 35].

Im Seminar von Saragossa hielt sich José María Escriba von seinen Mitschülern fern, und einige von ihnen erinnern sich noch daran, dass er sich an keinen gemeinsamen Aktionen beteiligte, er war zurückhaltend und rau, zugleich aber leidenschaftlich, was sich in pötzlichen und heftigen Wutausbrüchen ausdrückte [Artigues, Daniel, „L'Opus Dei en Españgne. Son évolution politique et ideologique. Ed. Ruedo Ibérico, París, 1968, S. 9] Ein Kamerad Escribas im Seminar, Manuel Mindán Manero, bezeichnete ich als „dunklen, verschlossenen Menschen, der auffallend witzlos war. Ich verstehe nicht, fügte Mindán hinzu, dass er überhaupt Priester wurde, und wie ein Mensch mit so wenig Begabung so weit kommen konnte“.

Zu Weihnachten 1922 hatte er die Weihegrade eines Ostiariers und Lektors empfangen, zusammen mit dem des Exorzisten und des Akolythen. 1923, mit der ersten Tonsur, wurde Escriba zum Superior ernannt, auch Moderator genannte, , ein kleines Amt, das in der Überwachung einer Kameraden bestand, im Unterricht und auf den Spaziergängen, und er hatte das Recht, Speisen bei Tisch nachzuverlangen. Als die für die kirchliche Laufbahn vorgeschriebenen Jahre der theologischen Ausbildung erfüllt waren, wurde er am 14. Juni 1924 in der Kirche San Carlos zum Subdiakon geweiht.

Zu dieser Zeit zeigte José María Escriba einen enormen Voluntarismus, den er für sein ganzes Leben beibehalten sollte. Bereits im Seminar wiederholte er unermüdlich ein Stoßgebet an die Jungfrau Maria: „Domina, ut sit! Domina, ut videam!“, was soviel heißt wie: „Herrin, es soll geschehen! Herrin, lass mich sehen!“.

An der damaligen Päpstlichen Universität von Saragossa, vervollständigte José María Escriba sie fünf Grundkurse der kirchlichen Studien, und am 28. März 1925 wurde er zum Priester geweiht. Wir verfügen über Escribas eigenes Zeugnis, in dem er seine Sicht der Welt zu dieser Zeit beschreibt: „Als ich zum Priester geweiht wurde, schien die Kirche Gottes stark wie ein Felsen zu sein, ohne einen Riss. Nach außen zeigte sie sich einheitlich, ein Block von wunderbarer Kraft.“ Jahre später, vor seinem Tod im Jahr 1975, konstatierte derselbe Escriba, dass die Kirche „wenn wir sie mit menschlichen Augen ansehen, wie ein Haus in Trümmern aussieht, ein Haufen Sand, der verweht, den sie zertreten, der sich verteilt, den sie zerstören...“ [Bernal, Salvador,  S. 262].

Einige Monate zuvor war sein Vater in Logroño gestorben, und José María übernahm die Verantwortung für seine Mutter, seine Schwester Carmen und seinen Bruder Santiago, der zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt war. Die Familie Escriba befand sich in einer sehr prekären Situation: Das Gehalt des Handelsangestellten kam nicht mehr, und die Beziehungen zu den Verwandten in Saragossa waren eingefroren.  Allerdings benützte José María das traurige Ereignis des Todes seines Vaters, um den Familiennamen abzuändern. José María wollte nicht mehr Escriba heißen, denn früher hatte man so die Sekretäre Notare und Schriftgelehrten bei den Juden genannt.

Die Escriba wurde nun offiziell zu Escrivá; später wurde dann noch „de Balaguer“ hinzugefügt, um dem Namen einen katalanischen Anstrich zu geben.

Mit der kirchlichen Erlaubnis hatte sich José María Escrivá, jetzt nicht mehr Escriba, sondern Escrivá, in einen Priester verwandelt, eine Würde zweiter Klasse, wie sie im mittelalterlichen Königreich Aragonien nach den Adeligen kam. Am Tag nach seiner ersten heiligen Messe wurde José María als Aushilfspfarrer nach Perdiguera geschickt, ein Dorf mit einigen hundert Einwohner in der Halbwüste von Los Monegros. Hier vertrat er den Pfarrer in der Karwoche 1926, um sieben Wochen später nach Saragossa zurückzukehren, wo sich schon seine Familie in der Calle de Rufas ärmlich eingerichtet hatte.

Da er über kein eigenes Geld verfügte und darüber hinaus die Familie erhalten musste, gab er Lateinunterricht und war sogar Dozent für Kanonisches und Römisches Recht am Instituto Amado, einer privaten Akademie, die von einem Hauptmann der Infanterie geleitet wurde und die vor allem auf den Eintritt in die Militärakademie von Saragossa vorbereiten sollte.

Der junge Priester bemühte sich außerdem einige kirchliche Ämter zu bekleiden, die ihm von der Erzdiözese übertragen wurden, obwohl seine persönliche Vorliebe dahin ging, die Messe an der Kirche San Pedro Nolasco zu zelebrieren, die von einigen Priestern der Gesellschaft Jesu geleitet wurde, den berühmten Jesuiten. Er vertrat auch während der Karwoche von 1927 den Pfarrer von Fombuena, einem Dorf mit 200 Einwohnern in der Nähe von Daroca.

Er fiel mehrmals durchs Examen, und öfter erschien er nicht zu den Prüfungen. Tatsächlich hatte er im Jahr 1925, als er sich mit seiner Mutter und mit seinen beiden Geschwistern in Saragossa niederließ, noch nicht einmal die Hälfte der erforderlichen Prüfungen abgelegt. Er meldete sich im Juni und September 1926 zu den Prüfungen an, auch wenn man nicht weiß, ob er sie später nachgeholt hat, um das Studium abzuschließen und den Magistergrad zu erlangen.

In dieser Anfangsperiode des Lebens des zukünftigen Gründers des Opus Dei erscheint ein weiterer dunkler Fleck in den unvollständigen offiziellen Biografien. Einer seiner Hagiografen, Florentino Pérez-Embid, ein bekanntes Mitglied des Opus Dei, schreibt: „Als er in das Alter kam, in dem man auf die Hochschule geht, begann er sein Jurastudium an der Universität von Saragossa und die kirchlichen Studien im Seminar San Carlos, „dessen Superior er war“. Er empfing die Tonsur aus den Händen des Kardinal Soldevila, des berühmten Erzbischofs dieser Diözese, der wenig später von einem Anarchisten ermordet wurde“. Ein anderes Mitglied des Opus Dei, Carlos Escartín, Autor eines „Biografischen Profils“ über Escrivá, versichert gleichfalls „Er studierte Jura an der Universität von Saragossa zur gleichen Zeit, als er die kirchlichen Studien am Seminar von San Carlos in dieser Stadt absolvierte. Er empfing die Tonsur eines Klerikers aus den Händen des Kardinals Soldevila, des Erzbischofs von  Saragossa, „der ihn zum Superior des Seminars ernannte“.

Tatsächlich wurde Escrivá nach der Erteilung der ersten Tonsur zum „Superior“ oder „Moderator“ ernannt, ein bescheidener Posten, eine Art Inspektor, der seine Kollegen im Unterricht und bei den Spaziergängen beaufsichtigte; er lebte etwas besser und hatte das Recht, sich beim Essen nachreichen zu lassen. Der bescheidene Posten wird aber bei den Hagiografen des Gründers des Opus Dei aufgewertet, als ob die Tatsache, dass er noch vor seiner Priesterweihe Superior am Seminar San Carlos geworden ist, wird uns so präsentiert, als wäre das eine außerordentliche Beförderung in den Annalen der Katholischen Kirche. Zugleich Diakon und Rektor eines Seminars zu sein scheint etwas übertrieben, vor allem da er 21 Jahre alt war, als er die Tonsur eines Klerikers empfangen hatte, und 23, als er zum Priester geweiht wurde.

Es gibt noch seltsamere Versionen seiner Lebensgeschichte, so wie etwa die von Javier Ayesta Díaz, einem der offiziellen Sprecher des Opus Dei, de erklärte, dass José María Escrivá „damals noch Laie war“. Er studierte Jura an der Universität von Saragossa, wurde Anwalt und ließ sich später zum Priester weihen. Weil er sich erst so spät weihen ließ, bewahrte er die säkulare Mentalität und schuf eine weltliche Vereinigung“. [Ayesta, Javier. Zeitschrift. Diario „Der Gelderlander“, Nimega, Holanda].

Hier liegt das Motiv für die Verdrehungen und falschen biografischen Daten offen zutage, die darin besteht zu zeigen, dass Escrivá alles bereits Jahre vorher gemacht habe: Er war Advokat, Superior des Seminars, Dorfpfarrer. Und so kreisen alle Bemühungen der Hagiografen des Opus Dei darum, für den eigenen Gebrauch und nach außen die priesterliche Gestalt des Gründers des Opus Dei zu zeichnen, weltlich bewandert und universitär gebildet, voller Erfahrungen eines Laien und jedem Klerikalismus abhold, wobei Escrivá der erste war, den es heftig interessierte ihn aufrechtzuhalten.

Es gibt ernsthafte Zweifel darüber, ober er alle notwendige Zeugnisse beisammen hatte, um den Titel eines Lizentiats der Rechte zu erwerben. Die skeptischeren unter seinen Kritikern fragen sich, wo das Dokument dazu liegt? Bereits sein akademischer Akt war in den Archiven der Universität Saragossa vergeblich gesucht worden, ebenso wenig wie Rechnungen über die Ausstellung dieses Titels für den Namen José María Escrivá in den ersten Monaten 1927 oder später ausgestellt worden wären.

Hat er Jura fertig studiert? Antonio Pérez Tenessa, führender Anwalt und Ausschussassistent des Staatsrats, der jahrelang Numerarierpriester und Generalsekretär des Opus Dei in Spanien gewesen war, geht noch viel weiter, wenn er sagt: „Vater Escrivá kein großer Jurist, wie uns später weisgemacht wurde. Ich habe sogar ernsthafte Zweifel, ob er überhaupt Jura studiert hat. Ich habe nirgends das Diplom über sein Bakkalaureat gesehen, und wie das im Werk lief, hätte man es sicher in einen eindrucksvollen Goldrahmen gestellt. Aber er könnte dieses Dokument, wie so viele andere Dinge, auch während des Kriegs verloren haben. (...). Natürlich glaube ich aufgrund der Gespräche, die wir geführt haben, dass er, falls er jemals recht studiert haben sollte, es völlig vergessen haben muss. Umgekehrt hatte er eine vage Idee von kanonischem recht, was logisch ist, denn das musste er im Seminar studieren“ [Moncada, Alberto, „Historia oral des Opus Dei. Ed. Plaza und Janés, Barcelona, 1987, S.19].

Es existieren andererseits Hinweise, denn als beispielsweise der Rektor der Universität von Saragossa José María Escrivá im Jahr 1960 den Titel eines Doktors honoris causa verlieh, erschien dieser vor dem Promotor mit der blauen Mozetta eines Doktors der Philosophie und nicht mit der roten eines Doktors der Rechte. Der Rektor von Saragossa erklärte in seiner Ansprache, dass die Tätigkeit, der sich Escrivá widmete, nicht spezifisch auf einen Doktor juris passe und dass deshalb die philosophische und nicht die juridische Fakultät das Doktorat honoris causa beantragt habe.

Auch wenn wir nicht wissen, wie es mit den Prüfungen weiterging, die nach seinem Weggang von Saragossa noch offen waren, und auch wenn sein akademischer Akt zweifelhaft scheint, denn es gibt keinerlei Hinweis, dass er den Magistergrad erlangt hätte, bat Escrivá um die Erlaubnis nach Madrid zu übersiedeln und seine Studien fortzusetzen, denn das Doktorat konnte man nur an der Zentraluniversität von Madrid erlangen, obwohl das noch nicht impliziert, dass er das Curriculum von Jura Saragossa schon abgeschlossen hatte. Mit dem Datum 17. März 1927 erlaubte ihm der Erzbischof für zwei Jahre in Madrid zu leben, um das Doktorat in Jura vorzubereiten und den entsprechenden Titel zu erwerben.

Die letzte Etappe seines Aufenthalts in Saragossa, nach seiner Weihe, war  für die Ambitionen José María Escrivás eine echte Sackgasse. Er hatte sich entschieden nach Madrid zu gehen, unter anderem deshalb, weil er in Saragossa unter der Enge litt. Sein ausgeprägter Charakterzug bestand darin, dass er sich unterschieden wollte, von den Spielkameraden seiner Kindheit ebenso wie später von seinen Studienkollegen im Seminar in Saragossa. Wenn der Grund gewesen war, von Logroño nach Saragossa zu gehen, um Jura studieren zu können, war der Vorwand, von Saragossa nach Madrid zu übersiedeln, weil er hier das Doktorat machen wollte, obwohl er das entsprechende Studium noch gar nicht beendet hatte.