Escrivás Perversion
E.B.E., 10. August 2011


Alabasterskulptur von Franz Xaver Messerschmidt, um 1770

 

Eine wertlose Umfrage

Wie schafft ein Kunststudent sein Studium, wenn er nicht einmal die Hälfte der vorgeschriebenen Bücher lesen darf, wenn er nicht an Arbeitsgruppen teilnehmen darf, wenn dabei auch Frauen sind (und das sind in diesem Fall 90% der Studenten), aber auch in keine öffentlichen Veranstaltungen (Theater, Kino, Oper, Vortragsabende, Ballett) gehen darf?

Aber man könnte sich auch fragen: Was macht ein Ordensangehöriger, der so studieren wollte?

Wie bitte? Könnten Sie die Frage wiederholen? Was haben Sie gesagt?

Und so passen die Dinge zusammen. Wenn ich mich als Mönch sehe, dann ist klar, dass ich nie bei Unterhaltungen, nie mit Frauen zusammen war und keine Bücher gelesen habe, die mir meine Oberen nicht erlaubt haben. Aber ich war ja kein Mönch. Oder war ich doch einer? De facto war ich ein Mönch. Ich war keiner lediglich durch den semantischen Trick der Negation.

Alle diese Fragen stellte ich mir seit einigen Tagen, als ich ein virtuelles Formular meiner Universität ausfüllte und am Ende eine unerwartete Frage fand: Sie baten mich um Erlaubnis, mich aufgrund der Verzögerungen bei meinen Universitätsstudien zu kontaktieren.

Es kam mir wie eine allergische Reaktion vor, ein Würgen ihm Hals, das mir die Luft nahm. Sagen wir es so: Die Autoritäten meiner Universität interessierten sich dafür, warum meine Studien nicht in der Zeit und in der vorgegebenen Weise absolviert worden waren. In diesem Augenblick stiegen mir grundsätzliche Fragen, aber auch einschneidende Antworten auf.

Unter den Fragen auf dem Formular gab es auch die, ob ich eine Übersiedlung hinter mir habe, und nach dem Grund dafür. Ich kreuzte “Ja” und “keinen dieser Gründe” an und dachte mir, sie könnten sich niemals vorstellen, aus welchem Grund ich, zum Nachteil meiner Studien, übersiedelt bin.

Dann begann ich nachzudenken. Wenn sie mich rufen und ich ihnen erzähle, dass unter den Gründen für meinen Verzug im Studium auch die drei anfänglich genannten waren, würden es mir die Vertreter der Universität nicht glauben. Sie würden mich entgeistert ansehen und fragen, ob ich das jetzt ernst gemeint hätte.

Man könnte allerdings denken, dass es viele Gründe gibt, mit dem Studium in Rückstand zu kommen (Faulheit, Desinteresse etc.), aber es ist klar, dass die drei genannten Motive damit befasste Soziologen in tiefer Ratlosigkeit zurücklassen würden. Ich hätte ihnen sagen sollen: „Ich bin aus dieser Stadt weggezogen, weil  das Opus Dei es so angeordnet hat, und die größten Schwierigkeiten hat mir nicht meine Universität gemacht, sondern eben das Opus Dei”. Mal sehen, wie sie dreingeschaut hätten.


Eindrücke

Ich hätte niemals zum Opus Dei gehören dürfen. Das war die erste Schlussfolgerung, nachdem ich das Formular der Universität ausgefüllt hatte. Nicht weil ich „keine Berufung hatte”. Sondern weil das Opus Dei ein vollständiger Betrug ist. Ich glaube, dass niemand von uns, die wir im Opus Dei waren, zu so einer Institution hätte gehören dürfen, die so voll Falschheit ist und die von jemandem gegründet worden sein muss, der unter schweren pathologischen Störungen gelitten haben muss, sonst hätte er nicht eine so morbide Institution geschaffen. Ich denke einfach, dass wir das Recht haben ein normales Leben zu führen und nicht in einer Institution zu verharren, die nach pathologischen Gesichtspunkten geschaffen wurde (Zwang, Betrug, Verheim­lichung, Unterwerfung, falscher Anschein nach außen, Missbrauch und Gewalt gegen die Intimität etc.)

Niemand, der bei klaren Sinnen ist, kann eine Institution erschaffen, die ge­wöhn­liche Menschen zu einem Ordensleben zwingt und sie gleichzeitig, auf betrügerische Weise, zu der Überzeugung bringen, dass sich in ihrem Leben nichts geändert habe und dass sie dieselben seien wie vorher. Nur wer eine schwere mentale Störung hat, bringt das zustande.

Ich wage es anzunehmen, dass Escrivá ein schwerwiegendes affektives Problem hatte und dass er es lösen wolte, indem er das Opus Dei gründete, auch wenn er dadurch tausende Menschen in Mitleidenschaft zog. Ich halte das für den Kern des Opus Dei, aber der Gründer hat sein Trauma an die anderen weitergegeben, während er davon profitierte.

Interessanterweise ist die Mehrzahl der „Berufungen“ zum Opus Dei nicht frei­willig gekommen, sondern unter Zwang. Das Opus Dei erfindet die Berufung, häufig genug ohne Unterschied der Person.

Wie soll man erklären, dass das Opus Dei keine Sekte ist, sondern einfach nur eine Organisation von Laien, die wie Ordensleute leben, denen man aber verbietet sich als solche zu verstehen, sondern denen man eine Identität gibt, die nichts mit ihrem Leben zu tun hat, nämlich die von Laien (vgl. Die Phobie vor den Ordensleuten)? Wem will es in den Kopf, dass man eine Lebensform annimmt, die man gleichzeitig abstreitet, indem man behauptet, dass man genau das Gegenteil davon lebt? Wie krank muss eine Instuitution sein, die ihre Mitglieder in eine ständige Schizophrenie zwischen dem stürzt, was sie sind (Ordensleute), und dem, was sie zu sein vorgeben müssen (Laien)?

Aber handelt es sich tatssächlich nur um einen semantischen Fehler, wenn man ein Leben laikal nennt, das viel eher dem eines Mönchs entspricht?

Wir lebten wie Ordensleute, aber strenggenommen waren wir weder Religiose noch Laien. Wir waren vor allem Gefolgsleute Escrivás, einem „Regelwerk” der Lebensführung unterworfen, das er geschaffen hatte (das voll mit typischen Elementen des Ordenslebens ist) und das als letzten Zweck hatte, seinen Wünschen nachzukommen: „den Willen des Vaters erfüllen”. Das funktioniert sogar noch nach seinem Tod; seine Jünger haben beispielsweise seine Heiligsprechung durchgesetzt. Einen anderen Zweck gab es nicht; weder die persönliche Heiligung, noch die der Welt, gar nichts. Deshalb kann man das Opus Dei auch sehr leicht als Sekte einstufen.

Das Leben im Opus Dei ging weit über die Anforderungen des einfachen Ordenslebens hinaus. Es gab eine Unterwerfung und einen blinden Gehorsam, die weit über den Bereich des Geistlichen hinausgingen. Keine Ordensregel kennt den Grundsatz, „den Willen des Generaloberen zu erfüllen”. Das gibt es nur bei Sekten.

Weil also das Opus Dei weder aus Ordensleuten (wie es beteuert) noch aus Laien (nach seiner Praxis) besteht, fällt es nicht in die Kompetenz der Kongregation für die Ordensleute, sondern in die der Bischofskongregation (vgl. La intencionisima, das „ganz besondere Anliegen: „Dass die Prälatur vom Heiligen Kreuz und Opus Dei in der Bischofs- und nicht in der Ordenskongregation vertreten ist [wo sie de facto hingehört], erwies sich als äußerst hilfreich für das Opus Dei. Diese Tatsache gestattet es ihm nämlich, zu kontrollieren ohne kontrolliert zu werden, zu sehen ohne gesehen zu werden.”).


Scham und Repression

Als sie mich fragten, ob ich die Zustimmung dazu gäbe, dass sich Vertreter der Universität mit mir zusammensetzten – ich kannte das schon vom Opus Dei her, wo man immer nur gehorchte, und gab sonst praktisch nirgends meine Zustimmung -, erschien mir als vorbildliche Qualitätssicherung auf dem Bildungssektor  (tatsächlich gibt es Grenzen der Privatheit, die auch eine Universität respektieren muss). Später wurde mir dann klar, welch ein hohes Maß unterdrückter Angst hier von meiner Seite im Spiel war.

Viele von uns haben ihre Probleme niemals öffentlich erörtert, und zwar aus zwei Gründen: aus Scham, und weil Druck ausgeübt wurde. Das hat große Ähnlichkeit mit einem Mechanismus, den Perverse zu ihren Gunsten nutzen: Sie manipulieren das Schamgefühl, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen.

Als sich die Universität für meinen Fall interessierte, wurde mir klar, dass ich mich heftig schämte ihnen die Wahrheit zu sagen (dass ich mich nämlich ganz dem Opus Dei unterworfen hatte) und ich musste mich heftig dazu zwingen, die Wahrheit zu unterdrücken und nicht Klartext zu sprechen. Über die eigene Unterwerfung zu sprechen wäre nämlich höchst schmerzlich und peinlich gewesen, denn niemand würde verstehen, dass man sich einem solchen Ansinnen, sich auszuliefern, nicht widersetzt. Warum habe ich nicht nein gesagt? Warum bin ich nicht gegangen?

Wir Ehemaligen, die auf dieser Seite voneinander lesen, verstehen einander wenigstens. Uns muss man nichts erklären. Und hier findet man Personen, die verstehen, dass etwas Schreckliches geschehen ist: die Verletzung des Gewissens. Wir hatten uns lange geschämt darüber zu reden, aber gemeinsam ist uns klar geworden, was wir erlitten haben.

Einer der Gründe, warum man den Austritt aus dem Opus Dei hinausschiebt, ist die Verdrängung. Man denkt sich, dass nicht wahr sein kann, was man hier zu erleben scheint, Escrivá ist ein Heiliger, das Opus Dei ist etwas Gutes, was ich hier wahrnehme, ist vermutlich in Wirklichkeit gar nicht so. Es braucht Jahre, um das Vorgefallene zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, und es kostet Tränen zu erkennen, was das Opus Dei wirklich gewesen ist und was für ein Mensch Escrivá war. In der erniedrigenden Erfahrung, das Erlittene wiederzu­geben, lernt man, dass man Opfer einer Perversion war; und es ist beklemmend wahrzunehmen, wer Escrivá war.

Aber es gibt noch eine Instanz, vor der unsere Tränen ohne Verstellung Zeugnis davon ablegen können, dass Escrivá pervers war: Wenn die Kirche diese Dinge morgen untersucht und richtigstellt, würde unsere unterdrückte Angst ungezügelt ausbrechen, mit einer Mischung aus Wut und Euphorie. Ich weiß, dass es nahzu unwahrscheinlich ist, dass dies geschieht, aber das hindert uns nicht, unsere Tränen verborgen zu halten und zu hoffen.

In jedem Fall ist es für die Wiederherstellung unseres Gewissens unerlässlich, dass die Kirche offen erklärt, dass Escrivá großen Schaden angerichtet hat. Vielleicht mag es ausreichend sein, dass wir reden. Das Problem liegt darin, dass wir oft nicht wissen, mit wem wir darüber reden können, wer Escrivá war, sodass wir uns all dessen bewusst werden und uns endgültig von seiner Gestalt lösen können.

Manchmal ist ein zufälliges Ereignis unverhoffter Auslöser einer außerordent­lichen Katharsis. Welchen Sinn hat das Bewusstsein des Erlittenen – ist es nicht nihilistisch? Wozu ist es gut, für die Vergangenheit und für die Zukunft? Es bringt eine tiefe Befreiung. Es ist nicht angenehm, sich damit zu beschäftigen, diese Beklemmung noch einmal durchzumachen. Aber wenn man es einmal überwunden hat, gibt das befreiende Gefühl, das darauf folgt, eine tiefe innere Befriedigung. Das, was war, was man verloren hat, ist nunmehr ohne Bedeutung. Es zählt nur noch, was ist und was sein wird, ohne verborgene schwere Lasten, ohne die Unterdrückung von Gefühlen irgendwelcher Art. Es ist paradox, aber durch diese Angst gelangt man zum Glück.

Beklemmend ist es, sich noch einmal auf das Erlittene zu konzentrieren, keinen Sinn  darin zu finden, tiefer zu gehen und nichts weiter zu finden also immer nur mehr Angst. Aber nur wenn man sich dem Schaden stellt, den man durch das Opus Dei erlitten hat, kann man den Ausgang aus diesem Albtraum finden, kann man wieder an die Oberfläche  zurückkommen aus dem tiefen Ozean dessen, was unsere Vergangeheit im Opus Dei ausgemacht hat.

***

„Das ist nicht normal“. Mit dieser Art von Reaktion wird man konfrontiert. „Was du erlebt hast, ist nicht normal”. Und man möchte erklären, dass es dafür, auch wenn es nicht normal war, doch eine Erklärung gibt. Denn  man möchte in diesem Augenblick nur erreichen, dass die Angst sich nicht verselbständigt und in einer Art Spiralbewegung wiederkehrt und man schließlich daran zerbricht.

Man akzeptiert, dass es schlimm war, was man erlebt hat, aber man möchte es nicht unerträglich nennen; man will sich einfach nicht von der Angst davor lähmen lassen.

Es reicht nicht, einen erzwungenen Verzicht mit der „Hingabe an Gott“ zu rechtfertigen. Am schlimmsten aber ist es zu entdecken, dass alles das gar nichts mit Gott zu tun hatte, dass aber „alles mit Escrivá zu tun hatte“. Das ist schrecklich.

Alles, was wir Gott hingegen haben, ließ Escrivá verschwinden, indem er sein Schatz­kästchen füllte. Darin besteht der Betrug des Opus Dei.

Aber habe ich mich nicht vor allem Gott hingegeben? Das haben wir geglaubt, genauso wie wir an eine Berufung gegelaubt haben, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt.

Alles, worauf wir um der Liebe Gottes Willen verzichtet haben, haben wir für einen Menschen aufgeopfert: Escrivá. Für Escrivá, haben wir auf allles verzichtet, nicht für Gott. Darin bestand die Gaunerei, darin der Betrug des Opus Dei. Dafür quält uns das Gefühl, Jahre unseres Lebens nutzlos vergeudet zu haben.

Durch die Unterwerfung des Gewissens haben wir uns Escrivá hingegeben, nicht Gott. Das ist das Drama. Darin besteht die Perversion Escrivás, und von daher rührt die Verletzung des Gewissens.

Man kann Fakten sublimieren wie man will, in etwas anderes verwandeln. Man kann sich Gott als höchstes Ziel setzen, aber im Opus Dei haben die Unterwerfung und die Hingabe den Gehorsam gegenüber Escrivá als letzten Grund.

***

„Nein, das war sehr schlimm“; „was du mitgemacht hast, war sehr schlimm“; „für das, was man dir angetan hat, gibt es keine Entschuldigung“. Man hört zu, und eigentlich will man es weder hören noch bestätigen, das es zuviel war, zu schlimm, das, was „das Opus Dei dir angetan hat“. Denn würde man das einem Außenstehenden gegenüber zugeben, würde man auch zugeben, dass hier eine unterdrückte Angst verborgen ist, die auf dem  Punkt ist auszubrechen. Ganz tief in seinem Inneren fühlt man das, aber man findet niemanden, dem gegenüber man das zugeben möchte. Genau diese Augenblicke tiefen Schmerzes sind es aber auch, die tief befreiend wirken. Ohne dass man etwas rationalisieren, eine intellektuelle Erklärung finden müsste, kann man mit tiefem inneren Frieden sagen: „Was mir das Opus Dei angetan hat, war äußerst schlimm“. Das setzt aber voraus, dass man sich, wenn auch nur für wenige Sekunden, als Opfer akzeptiert, und das ist nicht angenehm.  Vielleicht würde man sich lieber als unverwundbar präsentieren (indem man auf der intellektuellen Ebene bleibt und sich von seinen Gefühlen distanziert. Aber auch wenn man sich nicht als Opfer sehen will, so muss man doch irgendwann einmal zugeben, dass man das Opfer einer institutionellen Perversion war.

***

Der Missbrauch des Gewissens ist eine Form der Vergewaltigung; und jeder gewaltsame Übergriff ist inakzeptabel. Aber vor allem wenn es schon vorbei ist, spürt man einen starken Widerstand, das Geschehene zu akzeptieren. Die erste Reaktion ist es zu leugnen. Man darf sich hier nicht mit Überlegungen zufrieden geben. Niemand, der Gewissen auf diese Art und Weise schädigt und zu absurden Gehorsamsleistungen zwingt, ist unschuldig, und noch viel weniger ist er ein Heiliger.

Es ist nicht normal, dass dich jemand im Gewissen zwingt eine ganz bestimmte Lebensform zu wählen und gleichzeitig völlig abzustreiten, dass du so lebst.

Dieses Schuldbewusstsein der Betroffenen zeigt sich ganz besonders deutlich, wenn ein Vertreter des Werkes mit Außenstehenden spricht, die all das aus einer völlig anderen Perspektive sehen.

Manchmal möchte man den erlittenen Schaden für sich möglichst minimalisieren, um weniger zu leiden. Nur das ist der Grund, nicht, weil die Fakten nicht schlimm wären. Im Gegenteil – sie sind unerträglich. Sie kleiner darzustellen, macht sie vorübergehend erträglicher. Sie in der richtigen Dimension wahrzunehmen, lässt die Angst ausbrechen.

Diese Angst ist bei mir aufgetreten, als ich las, dass die Universität mit mir in Kontakt treten wollte. Es war etwas völlig Unerwartetes, Überraschendes, Unkontrollierbares. In solchen Momenten begann ich zu ahnen, dass hier ein Schaden angerichtet wurde, für den es keine Entschuldigung gibt. Der Schaden, den Escrivá angerichtet hat, ist enorm, und er multipliziert sich mit Tausenden Personen – das passt eher zu einem Perversen als zu einem Heiligen.

 

Die Strategie des Perversen

Der Perverse spielt mit zwei Elementen, um sich gegen das Gerede zu schützen (die Heiligsprechung kam ja schließlich auch nur deshalb zustande, weil die Zeugenaussagen sorgfältigst vorsortiert und manipuliert waren): Scham und Unglaubwürdigkeit auf Seiten seiner Opfer.

Von Anfang an war das Opus Dei eine Institution, über die man nicht reden konnte, „weil sie uns nicht verstehen werden“. Das heißt, man konnte nicht reden, weil „die von draußen“ alles falsch interpretieren würden. Deshalb herrschte auch ein Gefühl von Scheu vor, das eher Scham war. Was wir verbergen mussten, war nichts Edles, sondern etwas Schändliches. Aber das Opus Dei konnte gut damit leben; es vertauschte die Bergriffe Scheu und Scham, ein Taschenspielertrick so wie bei anderen Dingen (Laien und Ordensleute).

Heutzutage redet man besser nicht über das Opus Dei, außer vor einem handverlesenen, freundlich gesinnten, „verständnisvollen“ Publikum, das ohne zu fragen alles schluckt. Das große Publikum hingegen stellt die Dinge in Frage; deshalb beschränkt sich das Opus Dei auf Zurückhaltung unter dem Motto „Sie werden uns nicht verstehen“.

Der Perverse spielt damit, dass man seinem Opfer nicht glauben wird und dass es „besser nicht darüber spricht“, will es nicht für dumm oder verrückt gehalten werden. Über das Opus Dei zu sprechen bedeutet, über unglaubliche Dinge zu sprechen. Wie sollten es auch akademische Autoritäten glauben können, dass es sich ein Kunststudent verbieten lässt, ins Thetaer zu gehen, dass er nur die halbe Bücherliste lesen darf und – vergeblich – um Erlaubnis bitten muss, wenn er sich einen Film ansehen will. Wie soll man das verstehen, dass sich das jemand gefallen lässt, ohne dieses System im Geringsten in Frage zu stellen?

„Sie werden dich nicht verstehen“ – davor hat man Angst, vor dem Unverständnis und vor dem Desinteresse. Du stehst dann sehr leicht als schrulliger Querkopf da, wenn nicht, in katholischen Milieus und gegenüber der Hierarchie, als „Feind der Kirche“. Du könntest vollkommen isoliert sein. Der Perverse spielt aber auch mit jenem anderen Gefühl, das Menschen verstummen lässt – der Scham. Sie werden dir nicht nur nicht glauben; du wirst dich dafür schämen, dass du dich dem Opus Dei unterworfen hast. Die Erniedrigung des anderen ist eines der wirksamsten Mittel des Perversen, Stillschweigen zu erzwingen. Sprechen bedeutet schließlich, auch die erlittene Demütigung noch einmal erleiden; und das will niemand.

Damit rechnet das Opus Dei: Wer es bloßstellen will, muss zuerst sich selbst bloßstellen. Das erniedrigt, und mit diesem Schutzinstinkt seiner Opfer rechnet es. Die Perversen wissen darüber genau Bescheid und fühlen sich deshalb sicher.

Die einzige Art, einen Perversen zu stellen, ist also, sich selbst zu erniedrigen? Nicht notwedigerweise. Auf unserer Seite sind etliche Zuschriften nur mit Initialen oder Decknamen veröffentlicht, nur die Redaktion weiß über die Identität der Beiträger  Bescheid. Allerdings wird es manchmal nötig sein, wenn man Wirkung haben will, vor staatlichen und kirchlichen Autoritäten mit Namen, als Person aufzutreten. Das kann schmerzhaft sein.

 

Wie das Opus Dei die Intimität verletzt

Die Verletzung der Intimität hat, im Falle des Opus Dei, mit der „vollkommenen Hingabe“ zu tun. Wenn man sich dem Opus Dei hingegeben hat, akzeptiert man auch bedingungslos das Wort des Opus Dei und Escrivás. Die vollkommene Hingabe bedeutet auch vollkommene Unterwerfung, aber das wird völlig abgeleugnet durch die Phrase vom „intelligenten Gehorsam“, einer Paradoxie, die eine typische contradictio in adiecto darstellt wie so vieles im Opus Dei: Wenn es intelligenten Gehorsam gibt, kann es keine völlige Unterwerfung geben. Wir haben aber unseren Körper hingegeben (durch das Gelübde der Keuschheit), die materiellen Güter (durch das Gelübde der Armut) und unser Gewissen (durch das Belübde des Gehorsams).

Sexuelle Gewalt bedeutet, auf unerlaubte Weise in die intimsten Teile eines fremden Körpers einzudringen. Gewalt gegenüber dem Gewissen bedeutet erst recht, in den intimsten Bereich eines anderen einzudringen und die Kontrolle über sie zu übernehmen. Die Direktoren des Opus Dei wussten sich „freien Zugang“ in das Gewissen ihrer Untergebenen zu verschaffen:

„An dem Tag, an dem es in einem Winkel eurer Seele etwas gibt, von dem derjenige nichts weiß, der eure Aussprache hört, an dem Tag habt ihr ein Geheimnis mit dem Teufel“ ( (Escrivá, Meditaciones IV, S. 595)

Die Verletzung der Intimität hat nicht nur mit dem Amtsgeheimnis zu tun (vgl. den [bis dato nur auf Spanisch vorliegenden] Aufsatz Murmuración institucional, das institutionalisierte Gerede). Es hat auch mit der Unterwerfung des Gewissens zu tun, die bis zu einer erniedrigenden Fügsamkeit, einer Entpersönlichung geht; vgl. La crueldad de Escrivá, Escrivás Grausamkeit). Wie der Ton in den Händen des Töpfers, so weit solle unsere Fügsamkeit gegenüber den Direktoren gehen, sagte Escrivá.

„Kann ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? Spruch des Herrn. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel.“ (Jer 18,6).

Das Entsetzliche an diesem Vergleich besteht darin, dass Gott das Volk Israel geformt hat, und dass sich Escrivá an seine Stelle gesetzt hat als den, der wie ein Töpfer die Mitglieder des Opus Dei formt. Escrivá war der Gott, und ihm musste man sich unterwerfen wie sich das Volk Israel Gott unterwerfen musste.

„Ihr müsst bereit sein, euch in die Hände der Direktoren zu geben und euch übernatürlich fromen zu lassen wir der Ton in den Händen des Töpfers“ (Escrivá, Meditaciones III, S. 224)

„Demütig gegenüber Gott und den Direktoren, die an der Stelle Gottes stehen; mit Freude das eigene Urteil aufgeben, unter vier Augen die Pforten des Herzens öffnen“ (Escrivá, Meditaciones I, S. 338-339)

Es hätte noch gefehlt, dass Escriba hinzufügt: „Öffnet unter vier Augen die Pforten eures Herzens, um euer Gewissen vergewaltigen zu lassen“. Es wäre aufrichtig gewesen.

Warum gehorchten wir bis hin zur persönlichen Erniedrigung? Weil sich uns Escrivá als Gesandteer Gottes dargestellt hat.

Beweis dafür ist, dass wir sehr viel getan oder gelassen haben, wofür es keinen anderen Grund gab als den blinden Gehorsam gegenüber den Vorschriften Escrivás und seiner engsten Jünger. Und diesen Gehorsam leisteten wir nicht auf natürliche Weise, sondern erzwungenermaßen, aufgrund einer bestimmten Form moralischen Zwanges, einer diktatorischen Autorität.

 

Das Gewissen und das Gesetz

Man muss hier einmal auf ein sehr wichtiges Thema aufmerksam machen: Die Worte Escrivás waren nicht nur einfache Ermahnungen eines geistlichen Schriftstellers, die man annehmen oder  ablehnen kann. Das Wort Escrivá war das Gesetz innerhalb des Opus Dei, sein Wort, mündlich und niedergeschrieben. Escrivá war der Große Gesetzgeber, der es nicht nötig hatte, dass ihn irgendjemand approbiert, nicht einmal der Heilige Stuhl (die Statuten, die dem Vatikan vorgelegt wurden, sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind, denn bei der Leitung des Werkes wird ein doppelter Standard eingehalten, einer nach innen, einer nach außen). So gesehen sind die „Geheimdekrete“ des jetzigen Prälaten gar nichts Neues, sie entsprechen vielmehr dem Absolutismus, mit dem das Opus Dei geführt wird.

Man musste dem Wort Escrivás gehorchen, ohne irgendetwas zu hinterfragen, nicht einmal einen Beistrich. Denn sein Wort hatte nicht nur Gesetzeskraft, es war sakrosankt; Alle seine Lehren waren Teil dessen, was ihm Gott am 2. Oktober 1928 offenbaren wollte (vgl. Das Werk als Offenbarung). Und nicht zu gehorchen wäre ein Akt der Rebellion gewesen.

Deshalb ist Escrivá verantwortlich für den Schaden, den das Opus Dei als Organisation anrichtet. Alle Perversionen, die das Opus Dei, haben Escrivá als den alleinigen Gesetzgeber zum Urheber; er hat die Richtlinien geschaffen, nach denen das Opus Dei geleitet wird.

Andererseits gab es Texte Escrivá, die Ermahnungen ohne Wirkung waren, ohne Gesetzeskraft. Wenn er davon spricht, dass die Mitglieder des Opus Dei „sehr frei“ sind, so ist das eine Ankündigung, die ohne praktische Konsequenzen bleibt. Die Gebote äußerte er da schon in einem anderen Tonfall, und es war klar, dass man ihnen gehorchen müsse, wenn man im Opus Dei bleiben wolle. Und es war auch klar, dass das Opus Dei zu verlassen gleichbedeutend war damit „nicht mehr zu Christus zu gehören“ (vgl. die Betrachtung über das Boot, Meditaciones, IV, S. 84 ff.).

Escrivá schuf nicht nur Gesetze, sondern auch „Glaubenslehren“ (vor allem über die persönliche Erlösung und ihren Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zum Opus Dei), Lehren, die mit der gleichen Kraft zu glauben waren wie man den Gesetzen Gehorchen musste. Eigentlich war der Glaube, den er verlangte, nur ein Appendix zu dem Gehorsam, den man Escrivá schuldete. Escrivá zu glauben war nicht so sehr eine Frage des Glaubens, sondern des Gehorsams. Die Gesetze und die Lehren besaßen den gleichen Grad an Perversion.

 

Völlige Ignoranz

Während Ordensleute ohne Komplexe erklären können, warum sie die Lebensweise leben, die sie gewählt haben, können die zölibatären Mitglieder des Opus Dei keine überzeugenden Erklärungen abgeben, denn die ultima ratio ihres Handelns ist immer ein blinder, absurder Gehorsam und die Tatsache, dass sie selbst nicht wissen, dass sie das Leben von Kartäusern führen.

Sie wissen nicht, warum sie tun, was sie tun, außer dass sie gehorchen müssen. Sie wissen nicht, warum sie kein Schauspiel ansehen dürfen (das wurde für Ordensleute im Codex von 1917 so festgelegt). Sie wissen nicht, warum sie das Testament vor der Fidelitas und nicht vor der Oblation machen müssen [Anm.: weil dies der “ewigen Profess” der Ordensleute entspricht]. Sie wissen es nicht. Sie wissen nicht, dass sie das Recht haben, ihr Gewissen vor ungerechtfertigten Übergriffen durch ihre Oberen zu schützen. Sie wissen nicht, warum angebliche „gewöhnliche Laien” Bußgürtel und Geißeln verwenden müssen. Sie wissen nichts. Sie wissen nur, dass sie gehorchen müssen, und zwar blind, und dann müssen es sofort so drehen, dass es nach einem “intelligenten Gehorsam” aussieht.

Die Hingabe im Opus Dei war erniedrigend, und dasselbe gilt für den Austritt aus dem Opus Dei, denn in der Mehrzahl der Fälle wird man so behandelt, dass man sich als Loser fühlen muss. Wir können uns hier nicht weiter darüber auslassen es gibt genügend Zeugnisse dafür.

 

Entblößung

Manche Vergewaltiger versuchen in fremde Körper einzudringen, andere in fremde Gewissen. Gewaltsame Eingriffe sind es allemal, die den Intimbereich betreffen, und in beiden Fällen dienen sie einer pathologischen Befriedigung, sei es für das Fleisch, den Machttrieb oder die Selbstbestätugung. Der Narzisst sucht seine eigene Verherrlichung, und deshalb hat Escrivá mit seiner Heiligsprechung den Höhepunkt post mortem erreicht. Wer sollte ihn von diesem Thron herunterholen, mitsamt seiner Kolossalstatue an der Fassade der Peterskirche in Rom.

Hingabe im Opus Dei bedeutet auch eine völlige Entblößung des Gewissens; die Mitglieder waren verletzbar, und das Opus Dei machte sich eines ungeheuerlichen Missbrauchs schuldig, indem es über ihre Gewissen herrschte.

Der Glaubensverlust, der viele betrifft, die das Opus Dei verlassen haben, hat viel mit dieser Verletzung der Intimität zu tun, die das Opus Dei verschuldet.

„Es ist zu deinem Besten“ – das eines der weiteren, im Opus Dei allgegenwärtigen Elemente der Perversion, mit denen sie sich selbst und ihre Opfer davon überzeugen wollen, dass sie etwas Gutes tun. „ich überließ mich ihm wie der Lehm den Händen des Töpfers“, sagte Escrivá in einer seiner Betrachtungen, um uns davon zu überzeugen, dass das etwas Gutes sei.

Die große Schwierigkeit, sich aus diesem Gestus der Unterwerfung zu befreien, ist ein anderes Zeichen von Perversion. Es gibt keine Hilfe, man fühlt sich preisgegeben. Auch das ist ein Zeichen dieser Pathologie.

 

Die freien Entscheidungen

Ein deutlicher Hinweis auf Missbrauch besteht darin, dass die Mehrzahl der Entscheidungen im Opus Dei nicht frei getroffen werden können. Es ist das Opus Dei, das in die Gewissen eingreift und Gewalt ausübt, damit die Entscheidung so ausfällt, wie sie es sich vorgestellt haben.

Weder der Beitritt zum Opus Dei (die Direktoren entscheiden über den Kandidaten), noch Übersiedlungen in eine Stadt, Wechsel der Studienrichtung noch auch so kindische Dinge wie der Kauf neuer Wäsche war, abgesehen von verschwindenden Ausnahmen, frei. Ebendo wenig konnte man sich den Beichtvater oder den geistlichen Leiter aussuchen. All das wurde in einem blinden Gehorsam akzeptiert, der keine Fragen stellt. Der Grundsatz bestand darin, das zu machen, was einem gesagt wurde, und damit war es auch schon erledigt, denn „entweder man gehorcht oder geht“. Dem Opus Dei zu gehorchen hieß Gott zu gehorchen, und Gott durfte man niemals ungehorsam sein.

Aber auch bei wichtigen Entscheidungen wie der Priesterweihe ist keineswegs klar gestellt, dass es persönlich getroffene, freie Entscheidungen sind: Es gibt die Fälle derer, die nicht wissen, warum sie geweiht werden, bis hin zu denen, die sich weihen lassen „um dem Vater einen Gefallen zu erweisen“. Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass jemand, der von sich aus den Wunsch nach der Weihe äußert, gar nicht geweiht werden wird, denn der Wunsch nach dem Priestertum ist ja überhaupt ein Hindernisgrund dem Opus Dei beizutreten.

Wenn mich die Universität gerfagt hätte, warum ich nicht an Arbeitsgruppen mit Frauen teilgenommen habe, warum ich keine Theaterstücke gesehen und die vorgesehene Pflichtlektüre großteils nicht erfüllt habe, und warum ich zu Prüfungen angetreten bin, auf die ich nicht ordentlich vorbereitet war? Die Antwort wäre äußerst erniedrigend gewesen, aber letztlich hätte es nur eine mögliche Antwort geben können: weil ich dachte, dass ich damit Gott gehorchte.

Zum Glück gibt es das Opus Dei ja wirklich, denn andernfalls wäre ich reif für die Klapsmühle. Die Selbstmordattentäter argumentieren ja auch nicht anders: Gott hat es mir aufgetragen. Leider ist das vor kurzem, in Skandinavien auch nicht anders gewesen.

Ich erinnere mich sehr gut an meine erste und an meine zweite Reprobation. In der ersten fragte mich der Professor, ob ich ein bestimmtes Werk gelesen habe (ich hatte es nicht, weil es ja verboten war), und an dieser Stelle war die Prüfung bereits beendet. Im zweiten Fall fragte mich der Professor, ob ich den Text von X. gelesen hätte, und natürlich hatte ich ihn nicht gelesen, sagte aber, dass ich ihn gelesen, aber nicht verstanden hätte. Er meinte nur, dass diesen Text auch ein „Minderbemittelter“ (Zitat Ende) verstehen könne. In diesem Augenblick fühlte ich mich schrecklich, zweifach erniedrigt, durch die Rüge des Professors und weil ich mich nicht verteidigen und die Wahrheit sagen konnte.

Damals konnte ich dem Professor nicht sagen (heute würde ich es ihm mit Vergnügen sagen), dass ich diese Texte nicht gelesen habe, weil die Direktoren des Opus Dei es mir verboten haben. Wenn ich das gesagt hätte, hätte ich die Wahrheit gesagt, weil ich dem Professor wie ein Verrückter vorgekommen wäre, und zugleich hätte ich – nach den Kriterien des Opus Dei – Gott die Treue gebrochen, weil ich etwas gesagt habe, „das die andren nicht verstehen werden“, und weil ich „dem Opus Dei einen Schaden zugefügt habe”. Nach genau diesem Mechanismus gehen Perverse vor: Sie können mit dem Schweigen der Opfer rechnen, weil man ihnen nicht glauben wird und weil die Scham sie daran hindert zu reden.

Ich erinnere mich an eine andere Geschichte. Es handelte sich um einen Film aus dem Jahr 1966, Blow-up, von Michelangelo Antonioni, einem Meister des italienischen Kinos. Man musste nicht ins Kino gehen, man konnte sich den Film auch ausborgen und zuhause ansehen. Als ich den Direktor des Zentrums, in dem ich wohnte, um Rat frgate, antwortete er mir gekünstelt mit einer rhetorischen Frage: „Weißt du, wovon der Film handelt? Von einem Kerl, der Frauen nackt fotografiert. Deshalb wirst du ihn nicht sehen”. Damit hatte sich dann alles erledigt. Mit wäre aber nie in den Sinn gekommen, zum Leiter der Lehrveranstaltung zu sagen: „Wissen Sie was? Der Direktor meines Zentrums hat mir verboten den Film zu sehen, denn es kommt darin ein Kerl vor, der nackte Frauen fotografiert, und deshalb werde ich ihn mir nicht anschauen”. Ich wäre vor Scham gestorben, der Professor hätte sich totgelacht,  und ich wäre zum „Verräter“ geworden, der öffentlich ausplaudert, ein Numerarier zu sein und wie das Opus Dei tatsächlich funktioniert.

Die eigene Berufung öffentlich zu machen war auch weniger eine Frage der Geheimhaltung als der Scham, denn man konnte nicht offen darlegen, warum man das machte was man machte (deshalb auch die Frage, ob man “mit seiner Zugehörigkeit zum Opus Dei prahlt” (vgl. Meditaciones, V, S. 203). Das heißt, es wäre theoretisch denkbar gewesen, aber man hätte sich schrecklich dafür geschämt. Warum also blieb man dann beim Opus Dei? Einzig und allein aus Gehorsam, aus blindem, Gehorsam, der sich das Gewissen unterworfen hatte. Es hatte nicht mit einer freien Entschediung zu tun.

Vielleicht hat man eine natürliche religiöse Neigung mit einer Berufung verwechselt, wie sie Escrivá vorgeschwebt hat. Das heißt aber, verantwortlich für die angerichtete Verwirrung ist das Opus Dei. Escrivá hat es in diesem Fall meisterhaft verstanden, für die Luft, die wir einatmen, Abgaben zu erheben. „Du hast eine natürliche religiöse Neigung, also musst du eine Gebühr entrichten, die „Berufung zum Opus Dei” heißt. Der Trick dabei besteht darin, dass du dem Opus Dei beitrittst und alles hergibst. Und wenn du das nicht tust, zweifelst du an Gott und bringst deine Seele in ewige Gefahr.“

Das Opus Dei bildet Leute heran, damit sie auf irrationale Weise und unbedingt gehorchen, sich bis zu Ganzopfer selbst aufzugeben lernen. Es sind keine Selbstmordattentäter, die draußen Schaden anrichten; sie verbrennen intern und geben dem Opus Dei ihre Energie und ihre Lebenskraft. Wenn sie aus dem Opus Dei austreten, bleiben sie auf der Strecke; sie sind, wie es Escrivá formuliert hat, ausgepresst wie eine Zitrone.

Das Opus Dei ist heimtückisch, vergleichbar einem Psychopathen, der gehorsame Automaten herstellt. Deshalb ist der Schaden, den Escrivá angerichtet hat, unentschuldbar, und man kann auf keine Weise versuchen es zu „erklären“.


Die Reform des pervertierten Erbes

Das Problem, das ich bei den Legionären sehe, besteht darin, dass sie ihre Geschichte ändern müssten. Wie kann man das Faktum ändern, dass Tausende Menschen einem Propheten, einem Heiligen gefolgt sind, der tatsächlich ein Perverser war? Wie lässt sich das reparieren? Indem man sich auf „Gottes unerforschlichen Ratschluss” beruft, der das Geschehene erklären soll? Lässt sich das Werk eines Perversen reformieren oder ändern? Nun, es gibt das Sprichwort, dass Gott auch auf  krummen Zeilen gerade schreiben kann, und im Korintherbrief heißt es, dass Gott „das Schwache in der Welt erwählt hat“ (1 Kor 1,27); aber es wäre höchst gefährlich, die Grundsätze zu übertreiben. Im Oktober 2010 würdigte Kardinal De Paolis die Legionäre Christi als “Werk Gottes”; das hat bei mehr als einem Zuhörer Bestürzung ausgelöst. Wenn sich Gott durch Perverse äußert, haben wir ein Problem. Und wenn man morgen offiziell anerkennen sollte, dass Escrivá ebenfalls pervers war und Gewissen verletzt hat, will man dann seine Heiligsprechung ebenfalls als „uner­forsch­lichen Ratschluss Gottes“ erklären?

Ich denke, solche Erklärungen schädigen einfach den Ruf der Kirche. Wenn alles eins ist, hat nichts mehr Wert. Wenn sich die Werke eines Perversen in Werke Gottes verwandeln lassen, dann ist alles wohl das Gleiche, und alles ist relativ.

Die Heiligsprechung Escrivás ist kein Scherz. Die Reform der Legionäre ebensowenig. Es ist klar, dass die Kontrollmechanismen innerhalb der Kirche versagt haben müssen, wenn derlei Dinge geschehen konnten, und zwar nicht einige Tage lang, sondern über Jahrzehnte. Mit dem Glauben lässt sich nicht spielen, man kann nicht das “Mysterium” wie einen Joker hervorziehen, der dann alles erklären soll.

Denn so wollten sie das Problem der Pädophilie innerhalb der Kirche erklären, aber auch deren Vertuschung rechtfertigen. Nach einer solchen Logik dürfte das „Mysterium” natürlich nicht vor ein weltliches Gericht gezerrt werden. Allerdings – das Perverse sakralisieren zu wollen, ist ein Unterfangen, das weder Hand noch Fuß hat.

Das Problem, das ich hier sehe, besteht darin, dass das Konzept der Unfehlbarkeit dazu führt, Fehler nicht mehr anzuerkennen, einzugestehen; so ist es jedenfalls mit den pädophilen Übergriffen geschehen. Das Geschehene wurde vertuscht, der übergriffige Perverse bloß versetzt. Eine Dummheit? Wer begreift eine solche Entscheidung? Wer hat die Unfehlbarkeit damit verwechselt, Irrtümer und Probleme einfach zu negieren?

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Es gibt noch ein Problem, nämlich die Sorge, eine Massenflucht und eine mögliche Anarchie zu vermeiden. Es ist schwer, von heute auf morgen den „moralischen Konkurs”der Legionäre oder des Opus Dei zu erklären. Man kann nicht Tausende Menschen plötzlich „auf die Straße setzen”: Man muss ihnen helfen, einen Ausweg zu finden ohne die Gefahr, verzweifeln zu müssen.

Vielleicht handelt der Heilige Stuhl in diesem Moment nämlich sehr klug. Allerdings hat es in der jüngsten Vergangenheit auch, wie im Fall der Pädophilie, ungeschickte Maßnahmen gegeben, wie die Versetzung von  Tätern von der einen Diözese in eine andere, um das Problem zu vertuschen statt es auf adäquate Weise anzugehen.

Wenn uns die Kirche die Heiligen vor Augen stellt als Beispiele , denen es zu folgen gilt, so gibt es wohl auch, in Gestalten wie Maciel und Escrivá, die Gegenbeispiele, wie man es nämlich nicht machen sollte. Denn Maciel gab ebenso wie Escrivá die eigene Perversion für den Willen Gottes aus. Das sollte man niemals vergessen, damit sich die Fehler nämlich nicht wiederholen. Wenn allerdings seine perversen Handlungen umgeformt und neu interpretiert werden, unter Berufung auf „Gottes unerforschlichen Ratschluss“, legitimiert man sie und erlaubt ihre Wiederholung.

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